Und im zweiten Posting habe ich dann hier eine m.E. ganz interessante Entscheidung aus Saarbrücken zur Bedeutung/den Auswirkungen einer Absprache im Rahmen von Haftentscheidungen.
Dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 25.02.2025 – 1 Ws 26/25 – liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Das AG hat gegen den Angeklagten einen auf die Haftgründe der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), im Falle seiner Ergreifung der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. Nr. 3 StPO) sowie subsidiär der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO) gestützten Haftbefehl erlassen, in dem ihm zwei Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt werden.
Aufgrund erfolgter SIS-Ausschreibung wurde der Angeklagte am 26.04.2024 auf Lesbos festgenommen, befand sich seitdem bis zu seiner am 25.07.2024 erfolgten Überstellung von Griechenland nach Deutschland in Auslieferungshaft und im Anschluss hieran aufgrund des Haftbefehls in Untersuchungshaft.
Nach Erhebung der Anklage wegen der haftbefehlsgegenständlichen Taten kam es im Hauptverhandlungstermin vor dem LG Saarbrücken am 17.01.2025 zu einer Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten gemäß § 257c StPO, wonach die Kammer im Falle eines Geständnisses im Sinne der Anklage keine geringere Strafe als drei Jahre und zwei Monate und keine höhere Strafe als drei Jahre und sechs Monate verhängen und den Haftbefehl „bei einer Meldeauflage 3 Mal wöchentlich“ außer Vollzug setzen wird. Nach geständiger Einlassung des Angeklagten und Durchführung der Beweisaufnahme beantragte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie die Außervollzugsetzung des Haftbefehls. Sodann wurde der Angeklagte wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt und die Anrechnung der Auslieferungshaft vom 26.04.2024 bis zum 25.07.2024 im Verhältnis 1:2 bestimmt. Im Anschluss hieran setzte die Kammer den Haftbefehl des AG vom 08.01.2024 außer Vollzug und wies den Angeklagten an, nach seiner Entlassung aus der Haft festen Wohnsitz an seiner Meldeanschrift zu nehmen sowie sich dreimal pro Woche, und zwar montags, mittwochs und freitags, bei der Polizeiinspektion Neunkirchen zu melden. Der Angeklagte wurde am selben Tag aus der Untersuchungshaft entlassen. Gegen das Urteil haben der Verteidiger des Angeklagten am 23.01.2025 und die Staatsanwaltschaft am 24.01.2025 Revision eingelegt.
Ebenfalls am 24.01.2025 hat die Staatsanwaltschaft durch den zuständigen Dezernenten gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls Beschwerde eingelegt. Sie meint, die Außervollzugsetzung des Haftfehls sei auf dem Boden der Aussage eines Zeugen, aufgrund derer sich die Kammer zwingend von der Verständigung hätte lösen müssen, unverständlich, unvertretbar und willkürlich, weil die Meldeauflage nicht geeignet sei, die Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr auszuräumen.
Die Haftbeschwerde hatte keinen Erfolg:
„1. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 116 Rn. 31) und auch im Übrigen zulässig (§ 306 Abs. 1 StPO). Dass auch die Außervollzugsetzung eines Untersuchungshaftbefehls als zum Urteil dazugehöriger Beschluss im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO (vgl. § 268b StPO) grundsätzlich zulässiger Inhalt einer Verständigung im Strafverfahren sein kann (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2013 – 2 StR 410/13, juris Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 15c) und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft selbst die Außervollzugsetzung des Haftbefehls vom 8. Januar 2024 beantragt hat, steht der Zulässigkeit der von der Staatsanwaltschaft gleichwohl gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls eingelegten Beschwerde nicht entgegen. Vielmehr darf die Staatsanwaltschaft trotz vorangegangener Verständigung und auch dann, wenn die angefochtene Entscheidung ihrem ausdrücklichen Antrag entspricht, uneingeschränkt alle statthaften Rechtsmittel einlegen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2010 – III-4 RVs 60/10, juris Rn. 10 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 32, Vor § 296 Rn. 16, Vor § 312 Rn. 1e).
2. Die Beschwerde ist aber bereits deshalb unbegründet, weil die durch den angefochtenen Beschluss erfolgte Außervollzugsetzung des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 8. Januar 2024 unter der Anweisung einer Meldepflicht von dreimal pro Woche zulässiger Gegenstand der Verständigung im Strafverfahren war und der Senat als Beschwerdegericht hieran gebunden ist. Maßgeblich hierfür sind folgende Erwägungen:
a) Gemäß § 257c Abs. 4 StPO ist das Tatgericht – abgesehen von den in § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO geregelten Ausnahmefällen – an eine Verständigung, die vor ihm stattgefunden hat, gebunden (vgl. BVerfG NStZ 2016, 422, 424; BGH NStZ 2017, 373, 374; OLG Nürnberg, Beschluss vom 29. Februar 2012 – 1 St OLG Ss 292/11, juris Rn. 12; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257c Rn. 25, 63; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 25a). Die dem Gericht eingeräumte Befugnis, sich unter den § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO geregelten Voraussetzungen von der Bindung durch die Verständigung zu lösen, tritt nicht kraft Gesetzes von selbst ein, sondern erfordert eine dahingehende gerichtliche Entscheidung (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 StR 463/11, juris Rn. 14). Die Entscheidung über das Abweichen von der Verständigung ist nach § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO unverzüglich mitzuteilen, um dem Angeklagten und den weiteren Verfahrensbeteiligten – insbesondere mit Blick auf das mit dem Entfallen der Bindung des Gerichts an die Verständigung gemäß § 257c Abs. 4 Satz 3 verknüpfte Verwertungsverbot für ein im Zuge der Verständigung abgelegtes Geständnis des Angeklagten – die Möglichkeit zu geben, ihr Prozessverhalten auf die neue Verfahrenslage einzurichten (vgl. Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, BT-Drucks. 16/12310 S. 15; BGH, a.a.O.).
b) Da das Landgericht sich im vorliegenden Fall nicht von der Bindung durch die Verständigung gelöst hat und die Außervollzugsetzung des Haftbefehls Teil und zulässiger Gegenstand der Verständigung war, war das Landgericht bereits aufgrund seiner Bindung an die Verständigung nicht befugt, im Rahmen der ihm nach § 306 Abs. 2 StPO obliegenden Entscheidung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft abzuhelfen. Die Entscheidungsbefugnis des Senats, der als Beschwerdegericht im Umfang des Rechtsmittels grundsätzlich an Stelle des Erstgerichts selbst entscheidet (vgl. Löwe-Rosenberg/Matt, StPO, 26. Aufl., § 309 Rn. 7), geht nicht über diejenige des Landgerichts hinaus, so dass auch er an die Verständigung gebunden ist.
aa) Der Senat verkennt nicht, dass nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur nur das Tatgericht, bei dem die Verständigung erfolgte, nicht aber die Rechtsmittelgerichte und das Gericht, an das die Sache nach § 354 Abs. 2, Abs. 3 StPO zurückverwiesen wurde, an die Verständigung gebunden sind (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 373; NStZ 2017, 373, 374; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257cRn. 63 f.; MüKoStPO/Jahn, 2. Aufl., § 257c Rn. 148; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 25a; a.A.: SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 257c Rn. 29: Bindung für das gesamte Erkenntnisverfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss). In der Gesetzesbegründung zu § 257c Abs. 4 StPO heißt es insoweit lediglich, dass weder Berufungsgericht und Revisionsgericht noch das Gericht nach Zurückverweisung an die Verständigung gebunden sind (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 15). Ebenso wie § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO in allen Fällen, in denen die Bindung des Tatgerichts entfällt, als Ausfluss des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) ein Verbot des vom Angeklagten in Vorleistung abgelegten Geständnisses zu Beweiszwecken anordnet (vgl. MüKoStPO/Jahn, a.a.O., § 257c Rn. 172), nehmen Rechtsprechung und Literatur als Kehrseite des Fehlens der Bindungswirkung des Rechtsmittelgerichts an die in der Vorinstanz erfolgte Verständigung allerdings hinsichtlich des Geständnisses des Angeklagten ein Beweisverwertungsverbot an. Dementsprechend hält es die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur in den Fällen einer – jedenfalls auch – zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Berufung oder Revision der Staatsanwaltschaft mit Blick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens für geboten, hinsichtlich des Geständnisses des Angeklagten ein Verwertungsverbot jedenfalls dann anzunehmen, wenn das neue Tatgericht (Berufungsgericht oder nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufenes Tatgericht) über die vom ersten Tatgericht, bei dem die Verständigung stattgefunden hat, zugesagte Strafrahmenobergrenze hinausgehen will (vgl. BGH NStZ 2017, 373, 375; NStZ 2023, 310, 312 f.; vgl. auch BGH StraFo 2024, 67, 68 für den Fall der Revision der Nebenklage; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2010 – III-4 RVs 60/10, juris Rn. 11 ff.; OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294, 295; MüKoStPO/Jahn, a.a.O., § 257c Rn. 177 ff.; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 9. Aufl., § 257c Rn. 41 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 29b).
bb) Die Frage einer Bindungswirkung der Verständigung für das Beschwerdegericht findet hingegen weder in der Gesetzesbegründung Erwähnung noch haben sich – soweit ersichtlich – Rechtsprechung und Literatur mit dieser Frage bislang befasst. Insbesondere ist die vorliegende Fallgestaltung, in welcher die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls in dem gemäß § 268b StPO ergangenen Beschluss Teil der vorausgegangenen Verständigung nach § 257c StPO gewesen ist und die Staatsanwaltschaft gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt hat, bisher – soweit ersichtlich – nicht Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung gewesen. Diese Fallkonstellation unterscheidet sich von den vorstehend geschilderten Fallgestaltungen dadurch, dass sich der Angeklagte auch im Falle der Verneinung einer Bindungswirkung der Verständigung für das Beschwerdegericht an seinem im Vertrauen auf die Bindungswirkung der Verständigung (§ 257c Abs. 4 StPO) abgegebenen Geständnis festhalten lassen müsste. Denn der dringende Tatverdacht, der vom Beschwerdegericht auch im Falle einer von der Staatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls eingelegten Beschwerde zu prüfen ist (vgl. KG, Beschluss vom 18. November 2022 – 3 Ws 300/22, juris Rn. 10 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 116 Rn. 31), ist im Falle einer – wie hier – nach abgeschlossener Beweisaufnahme erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung in aller Regel bereits durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt und die Nachprüfung durch das Beschwerdegericht hat sich darauf zu beschränken, ob die Entscheidung auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen wesentlichen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (vgl. KG, a.a.O., juris Rn. 12; Senatsbeschluss vom 6. November 2024 – 1 Ws 216/24 –). Die Möglichkeit, den Bruch des Vertrauens des Angeklagten auf die Bindungswirkung der Verständigung durch die Annahme der Unverwertbarkeit seines auf der Verständigung beruhenden Geständnisses auszugleichen, hat der Senat als Beschwerdegericht daher nicht. Im Übrigen würde die Annahme der Unverwertbarkeit des Geständnisses des Angeklagten durch das Beschwerdegericht die Gefahr von Wertungswidersprüchen mit der noch ausstehenden Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs begründen. Daher gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens für den Fall, dass – wie hier – die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls Bestandteil einer Verständigung zwischen dem erkennenden Gericht und den Verfahrensbeteiligten nach § 257c StPO ist und die Staatsanwaltschaft gegen die aufgrund der Verständigung erfolgte Außervollzugsetzung des Haftbefehls Beschwerde einlegt, eine Bindungswirkung nicht nur des erkennenden Gerichts, sondern auch des Beschwerdegerichts an die Verständigung und damit auch an die Außervollzugsetzung des Haftbefehls als Bestandteil der Verständigung anzunehmen.“