Archiv für den Monat: Januar 2024

Wochenspiegel für die 4. KW., das war „Meta“, DSGVO, StPO im TV, sexuelle Übergriffe und „fetter Anwalt“

© Aleksandar Jocic – Fotolia.com

Und dann am letzten Sonntag des Monats Januar 2024 der Wochenspiegel für die 4. KW in 2024, und zwar mit folgenden Beispielen:

  1. Gefahr im Verzug! – Der Stellenwert der StPO in Fernsehkrimis und in der Realität

  2. OLG Frankfurt: Facebook / Meta muss bei ehrverletzenden Inhalten auch kerngleiche Inhalte und Memes ohne erneute Inkenntnissetzung automatisch löschen
  3. Interview: Frag den… Justizminister des Landes NRW

  4. Kirchliche Arbeitgeber müssen behinderte Bewerber nicht einladen

  5. Sensible Daten nach der DSGVO: Definition & Beispiele

  6. Diversität in Unternehmen und Datenschutz

  7. Voll­streckungs­­­reihenfolge bei Zusamm­­en­treffen von Frei­heits­strafe mit Unter­bring­ung in einer Ent­ziehungs­anstalt aus ver­schied­enen Ver­fahren

  8. Härtere Strafen für sexuelle Übergriffe?

  9. und aus meinem Blog – unangefochten: StGB I: „…Sie „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen, oder: Ist das noch „Kampf ums Recht“?

Fahrtenbuchauflage nach OWi mit Firmenfahrzeug, oder: Mitwirkungspflichten/Ermittlungsaufwand

Bild von TheToonCompany auf Pixabay

Und die zweite Entscheidung, das VG Düsseldorf, Urt. v. 21.12.2023 – 6 K 939/23 VG, äußert sich dann noch einmal zum verkehrsverwaltungsrechtlichen Dauerbrenner, nämlich der Fahrtenbuchauflage nach § 31a StVZO.

Gestritten wird mal wieder darum, ob die Ordnungsbehörde ausreichende Ermittlungen nach dem Fahrer zum Vorfallszeitpunkt angestellt hat. Die Beklagte hatte der Klägerin, die Halterin mehrerer Fahrzeuge ist, die vornehmlich von Mitarbeitern genutzt werden, einen Zeugenfragebogen zur Aufklärung der Verkehrsordnungswidrigkeit unter Beifügung des angefertigten Radarlichtbildes geschickt. Hierauf reagierte die Klägerin nicht. Die Behörde hat dann die Klägerin an die Beantwortung des Zeugenfragebogens erinnert. Ein  von der OWi-Behörde beauftragter Ermittlungsdienst versuchte zudem vergeblich, bei einem Besuch am Firmensitz den Fahrzeugführer festzustellen. Der Außendienstmitarbeiter notierte: „Der Fahrzeughalter konnte angeblich keine Personen auf dem Foto erkennen.“ Die OWi-Behörde stellte das Ermittlungsverfahren in der Folge am 30. November 2022 ein, weil der Fahrer nicht ermittelt werden könnte.

Gegen die dann später erlassene Fahrtenbuchanordnung wird geklagt, aber ohne Erfolg:

„Die Feststellung des Fahrzeugführers im Zeitpunkt der Begehung des Verkehrsverstoßes war der zuständigen Bußgeldbehörde nicht möglich. Unmöglichkeit im Sinne des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO ist anzunehmen, wenn die Behörde nach den Umständen des Einzelfalls nicht in der Lage war, den Täter zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat. Die Angemessenheit der Aufklärung beurteilt sich danach, ob die Behörde mit sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen ergriffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und in gleichgelagerten Fällen erfahrungsgemäß Erfolg haben.

……

Gemessen an diesen Grundsätzen war hier die Feststellung des Fahrzeugführers unmöglich im Sinne des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO. Die Ordnungswidrigkeitenbehörde war nach den Umständen des vorliegenden Falles nicht in der Lage, den Fahrer des Fahrzeugs, mit dem der Verkehrsverstoß begangen worden war, bis zum maßgeblichen Eintritt der Verfolgungsverjährung (vgl. § 26 Abs. 3 StVG) zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat. Ein für das negative Ermittlungsergebnis ursächliches Ermittlungsdefizit der Ordnungswidrigkeitenbehörde liegt nicht vor.

Ein Ermittlungsdefizit folgt insbesondere nicht auf dem Umstand, dass die Klägerin eine Vielzahl von Fahrzeugen hält und ihr Geschäftsführer angibt, den Fahrer zu erkennen. Bei Firmenfahrzeugen fällt es in die Sphäre der Geschäftsleitung, organisatorische Vorkehrungen dafür zu treffen, dass im Falle einer Verkehrszuwiderhandlung ohne Rücksicht auf die Erinnerung Einzelner festgestellt werden kann, welche Person zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Geschäftsfahrzeug benutzt hat. Es entspricht ? unabhängig von der Reichweite gesetzlicher Buchführungspflichten ? sachgerechtem kaufmännischen Verhalten, die mit einem Firmenwagen vorgenommenen Fahrten längerfristig zu dokumentieren. Die Geschäftsleitung kann deshalb ihrer Verpflichtung als Fahrzeughalterin, bei der Feststellung des Fahrzeugführers im Ordnungswidrigkeiten- bzw. Verwaltungsverfahren mitzuwirken, regelmäßig nicht mit der Behauptung genügen, es sei nicht möglich, den Fahrzeugführer – zeitnah ? ausfindig zu machen.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 31. März 1995 ? 25 A 2798/93 ?, NJW 1995, 3335 = juris, Rn. 17, und vom 29. April 1999 ? 8 A 699/97 ?, NJW 1999, 3279 = juris, Rn. 16, sowie Beschlüsse vom 29. Juni 2006 ? 8 B 910/06 ?, juris, Rn. 16 ff., vom 15. März 2007 ? 8 B 2746/06 ?, juris, Rn. 16, vom 13. November 2013 ? 8 A 632/13 ?, juris, Rn. 9, m.w.N.

Soweit die Klägerin vorträgt, dass aufgrund der schlechten Qualität des Fotos auf dem Zeugenfragebogen keine eindeutige Zuordnung habe erfolgen können, rechtfertigt dies ebenfalls keine andere Bewertung. Die Mitwirkungsobliegenheit besteht vor dem Hintergrund, dass ein Foto für die Verfolgung einer Verkehrsordnungswidrigkeit nicht erforderlich ist und oftmals auch gar nicht gefertigt werden kann, grundsätzlich unabhängig davon, ob dem Halter ein Foto vorgelegt wird. Nichts anderes kann gelten, wenn zwar ein Lichtbild vorgelegt wird, dieses aber ? gleich aus welchen Gründen ? keine Identifikation ermöglicht. Erst recht ist dies vor dem Hintergrund der aufgezeigten erhöhten Mitwirkungspflicht für den Halter eines Firmenfahrzeuges anzunehmen.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juni 2020 – 8 A 1423/19 -, juris, Rn. 23 sowie vom 9. Dezember 2013 ? 8 A 2166/13 ?, Seite 3 des Beschlussabdrucks, und vom 12. März 2015 – 8 B 1163/14 -, Seite 9 des Beschlussabdrucks, beide nicht veröffentlicht.

Abgesehen davon, dass die Kammer überzeugt ist, dass das der Klägerin übermittelte und dem Geschäftsführer vom Außendienst vorgelegte Foto so deutlich ausgefallen ist, dass der Fahrer von jedermann, der ihn kennt, ohne Weiteres zu identifizieren ist, kommt es auf die Qualität des Lichtbildes nicht an. Hiervon ausgehend kommt es auch nicht darauf an, ob der Klägerin die Digitalfotos bzw. der Fotosatz übersandt wurden. Hätte die Klägerin ihre Dokumentationsobliegenheit erfüllt, hätte es für eine ordnungsgemäße Mitwirkung nicht des Fotosatzes bzw. der Akteneinsicht bedurft.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 8 A 1423/19 -, juris, Rn. 20 und 22 f.

Aufgrund der fehlenden rechtzeitigen Mitwirkung der Klägerin und des daraus resultierenden Fehlens weiterer Ermittlungsansätze konnte die Ordnungswidrigkeitenbehörde von weiteren zeitaufwändigen und wenig erfolgversprechenden Ermittlungsmaßnahmen absehen.

BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1982 – 7 C 3.80 -, juris, Rn. 7; OVG NRW, Beschlüsse vom 22. Juli 2020 – 8 B 892/20 ?, juris, Rn. 15 , vom 15. Mai 2018 – 8 A 740/18 -, juris, Rn. 35 sowie vom 23. Mai 2014 – 8 B 396/14 -, n.v.

Das gilt auch für die von der Klägerin angemahnten Befragungen von anderen Mitarbeitern oder Nachbarn.

Soweit die Klägerin vorträgt, es sei überzogen, vom Halter von Firmenfahrzeugen zu verlangen, dass dieser den Fahrer jederzeit nennen kann, überzeugt das nicht. Der Klägerin als Halterin von Fahrzeugen, die sie Dritten (z.B. Mitarbeitern) überlässt, kann sie vertraglich aufgeben, ihr den Fahrer zur Tatzeit mitzuteilen. Unterlässt sie das oder setzt sie entsprechende Vertragspflichten nicht durch, treffen sie die Halterpflichten nicht unangemessen.“

„Leerfahrt“ und Heranziehung zu Abschleppkosten, oder: Anderweitiger Abschleppfahrzeugeinsatz

Bild von cdz auf Pixabay

Und heute im „Kessel Buntes“ mal wieder zwei Entscheidungen aus dem verkehrsverwaltungsrechtlichen Bereich.

Ich beginne mit dem VG Neustadt (Weinstraße), Urt. v. 13.11.2023 – 5 K 82/23.NW -, das sich noch einmal zur Heranziehung zu Abschleppkosten bei abgebrochenem Vollzug eines Abschleppfahrzeugeinsatzes äußert.

Der Kläger klagte gegen einen Kostenbescheid, mit dem ihm die Kosten eines abgebrochenen Abschleppvorgangs auferlegt wurden. Der Kläger hatte im Oktober 2021 seinen PKW in der Deidesheim auf einer Straße so geparkt, dass hierdurch eine Restfahrbahnbreite von nur noch 2,65m verblieb. Daraufhin kontaktierte ein Mitarbeiter der Beklagten einen Abschleppdienst, der um ca. 15:54 Uhr vor Ort eintraf. Im weiteren Verlauf kam der Kläger hinzu und fuhr sein Fahrzeug persönlich weg, sodass dieses nicht abgeschleppt wurde. Stattdessen schleppte derselbe Abschleppwagen ein hinter dem Fahrzeug des Klägers parkendes Fahrzeug ab. Der Kläger bezahlte die Rechnung des Abschleppunternehmers in Höhe von 297,50 EUR vor Ort.

Mit Schreiben seines Bevollmächtigten hat der Kläger dann Widerspruch eingelegt und hat die Rückerstattung des gezahlten Betrages verlangt, da im Falle einer Leerfahrt keine Kosten von ihm verlangt werden dürften, wenn wie hier geschehen mit demselben Abschleppfahrzeug unmittelbar im Anschluss ein anderes Fahrzeug abgeschleppt werde.

Die Beklagte trat der Darstellung des Klägers entgegen und erklärte, dass es sich keineswegs um eine Leerfahrt gehandelt habe, da bereits konkret mit den Arbeiten am Fahrzeug des Klägers begonnen worden sei. Das Abschleppfahrzeug sei bereits in Position gebracht, die Abschleppgabel heruntergelassen und unter das Fahrzeug des Klägers geschoben worden. Diese Kosten seien spezifisch für das Fahrzeug des Klägers entstanden und könnten nicht dem Folgefahrzeug auferlegt werden. Insbesondere dürfe die Ordnungsbehörde die Herausgabe des abgeschleppten Fahrzeugs gem. § 6 POG i.V.m. § 63 Abs. 2 LVwVG i.V.m. § 273 BGB analog von der Zahlung der Abschleppkosten abhängig machen.

Mit Bescheid vom 02.11.2021 legte die Beklagte dem Kläger die Kosten für den abgebrochenen Abschleppvorgang in Höhe von 297,50 EUR zzgl. Verwaltungsgebühren für die Durchführung in Höhe von 52,00 EUR, in Höhe von 18,00 EUR für den Erlass des Kostenbescheids und 4,00 EUR für die Postzustellungsurkunde, mithin 371,50 EUR auf.

Die dagegen gerichtete Klage hatte weitgehend Erfolg. Hier die Leitsätze des VG zu dem in der Sache ergangenen Urteil:

1. Dem Zustandsverantwortlichen können die Kosten der Abschleppmaßnahme auch im Falle einer sog. Leerfahrt oder eines abgebrochenen Abschleppvorgangs auferlegt werden.

2. Dies gilt jedoch im Falle einer Leerfahrt grundsätzlich dann nicht, wenn unmittelbar danach mit demselben Abschleppfahrzeug ein anderes Fahrzeug abgeschleppt wird und die Kosten hierfür dem anderen Verantwortlichen auferlegt werden.

3. Wurden im Falle eines abgebrochenen Abschleppvorgangs bereits spezifische auf die Entfernung des Fahrzeugs gerichtete Leistungen erbracht, die nicht dem für das ersatzweise abgeschleppte Fahrzeug Verantwortlichen in Rechnung gestellt werden können, ist die Geltendmachung der für diese spezifischen Aufwendungen entstandenen Kosten auch unter Berücksichtigung des Äquivalenzprinzips gerechtfertigt.

4. Für die Frage, ob solche abrechenbaren Leistungen entstanden sind, kommt es nicht in erster Linie auf das Bestehen einer technischen Verbindung zwischen dem abzuschleppenden Fahrzeug und dem Abschleppwagen an (so aber: OVG Hamburg, Urteil vom 28. März 2000, 3 Bf 215/98, juris, Rn. 46), sondern darauf, ob bereits so erhebliche Aufwendungen seitens des Abschleppunternehmers getätigt wurden, die eine Abrechnung dieser Leistungen rechtfertigen.

5. Den Ordnungsbehörden und erst recht dem Abschleppunternehmer steht kein Zurückbehaltungsrecht an dem im Abschleppen befindlichen Fahrzeug zu. Ein Zurückbehaltungsrecht wie dies gesetzlich für den Fall der Sicherstellung nach § 25 Abs. 3 Satz 3 POG ausdrücklich geregelt ist, findet für den Fall der unmittelbaren Ausführung nach § 6 Abs. 2 POG in den landesrechtlichen Regelungen weder im POG noch im LVwVG eine Stütze und kann auch nicht aus einer analogen Anwendung des § 273 BGB hergeleitet werden.

Ich habe da mal eine Frage: Übernimmt die Staatskasse die Reisekosten nach Südfrankreich?

© AllebaziB – Fotolia

Und dann noch die RVG-Frage, mal wieder aus der FB-Gruppe „Strafverteidiger“:

„Reisekosten Pflichtverteidiger.

Leider hab ich hierzu nichts gefunden.

Ich vertrete einen Mandanten mit Sitz in Südfrankreich als Pflichtverteidiger. Zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung ist ein persönliches Gespräch mit Mandanten notwendig. Er verfügt nicht über die Mittel vorbei zu kommen. Jemand von Euch in einer ähnlichen Situation schon mal vom Gericht Reisekosten ins Ausland übernommen bekommen? Wenn ja, mit welchen Argumenten?“

Was interessieren uns unsere eigenen Grundsätze?, oder: Pauschgebühren beim OLG Dresden

Smiley

Und dann im zweiten Gebührenposting zwei Entscheidungen zur Pauschgebühr des OLG Dresden, von denen zumindest eine falsch ist. Vorsicht: Das wird jetzt ein wenig viel zum Lesen, aber das muss mal sein.

Bei dem „falschen“ Beschluss handelt es sich um den OLG Dresden, Geschl. v. 15.12.2023 – 1 (S) AR 53/22, der nach einem sehr umfangreichen und schwierigen Wirtschaftsstrafverfahren, das beim LG Dresden mehrere Jahre anhängig war, ergangen ist.

Der antragstellende Rechtsanwalt ist am 06.11.2013 (!!) noch im Ermittlungsverfahren als Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt worden. Nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens hat der Verteidiger dann mit Schriftsatz vom 18.08.2022 die Bewilligung einer Pauschvergütung für die Vertretung des Angeklagten im Ermittlungsverfahren, in der Hauptverhandlung vor dem LG und in der Revisionsinstanz in Höhe von 300.000,00 EUR (netto) beantragt.

Die Bezirksrevisorin bei dem Oberlandesgericht ist zu dem Antrag gehört worden. Sie hat ihn wegen des (Akten-)Umfangs der Sache in Höhe von 2.240,00 EUR (!!!!) über die gesetzlichen Gebühren in Höhe von 89.015,00 EUR befürwortet. Das OLG hat eine Pauschgebühr in Höhe von 23.000 EUR bewilligt.

Auch hier: Die allgemeinen Ausführungen des OLG, das übrigens durch den Einzelrichter entschieden hat, kann man sich sparen. Die kennen wir und haben wir schon zig-mal gelesen. Sie werden dadurch, dass die OLG sie immer wieder wiederholen, nicht besser/richtiger.

Dann aber die zur konkreten Sache:

„1. Gemessen an diesen Maßstäben ist der Antrag auf Bewilligung einer Pauschvergütung in Höhe von 23.000,00 € gerechtfertigt. Der darüber hinausgehende Antrag ist als unbegründet zurückzuweisen.

a) Vorliegend ist das Verfahren aufgrund des Aktenumfangs als besonders umfangreich im Sinne des § 51 Abs. 1 RVG anzusehen. So ist bis zur ersten Hauptverhandlung von einem wesentlichen Aktenumfang von bis zu 50.000 Blatt auszugehen, wobei sich der Umfang der Hauptakten bis zum Ende des Verfahrens jedoch deutlich erhöht hat. Auf die detaillierten Aus-führungen der Stellungnahme der Bezirksrevisorin wird insoweit Bezug genommen. Die von den Strafsenaten des Oberlandesgerichts für vergleichbare Fälle nach § 51 Abs. 1 RVG aufgestellten Grundsätze sehen vor, dass bei erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht ab einem Aktenumfang ab 1.200 Blatt eine Pauschvergütung bewilligt werden kann. Danach ist je nach Umfang der Akte eine Staffelung der zusätzlich zur Grundgebühr zu gewährenden Gebühren vorzunehmen. Eine lineare Fortführung der Tabelle kann im Einzelfall angemessen sein, ist aber nicht generell geboten. Diesen Grundsätzen folgend ergingen auch die Entscheidungen des Senats und der anderen Senate, auf die im Antrag bzw. den Anträgen der Mitverteidiger Bezug genommen wurde (etwa Beschluss vom 08. Februar 2016, Az.: 1 (S) AR 47115 – Wirtschaftsstrafsache). Dazu kommt, dass den Verteidigern umfangreiche elektronische Daten zur Verfügung gestellt wurden, unter anderem allein ein drei Terrabyte umfassendes Exzerpt digitalisierter Daten; eine nähere Beschreibung findet sich etwa in dem Antrag eines Mit-verteidigers Meißner auf Gewährung von Pauschvergütung vom 01. Dezember 2022, Az.: 1(S) AR 73/22. Andererseits ist insoweit zu beachten, dass es sich dabei nicht per se um klassischen Lesestoff handelt, vielmehr bedürfen die Inhalte in großen Teilen lediglich einer kursorischen Erfassung und sind Grundlage computergestützer Recherchen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. April 2018, Az.: 111-3 AR 256/16 – juris).

Im Hinblick auf den vorliegend besonders großen Akten- und Datenumfang hält der Einzelrichter hier eine deutliche Erhöhung der Grundgebühr für gerechtfertigt.

Einen besonderen Umfang hat der Verteidiger nachvollziehbar in Bezug auf die Haftsituation seines Mandanten, insbesondere die Vielzahl der benannten Haftbesuche bereits im Rahmen des Ermittlungsverfahrens und in Bezug auf die im Zusammenhang mit Haftentscheidungen erstellten Schriftsätze dargetan. Dies fand bei der Entscheidung ebenso Berücksichtigung wie der v.a. angesichts der Urteilsgründe erhöhte Aufwand im Revisionsverfahren.

b) Keine Pauschvergütung rechtfertigt sich – selbst angesichts der hohen Zahl der Hauptverhandlungstage und des insoweit aufgetretenen Vor- und Nachbearbeitungsaufwandes – für den Umfang der Tätigkeit des Verteidigers während der Hauptverhandlung.

Insoweit fehlt es an der Unzumutbarkeit der gesetzlichen Gebühren, die nach dem klaren Wortlaut des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG und dem in der amtlichen Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwälte (vgl. BT-Drs. 15/1971, Seite 201) zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise (BVerfG, NJW 2007, 3420) neben einem besonders schwierigen oder besonders umfangreichen Verfahren zusätzlich vorauszusetzen ist. Insbesondere vermag der Antragsteller vor diesem Hintergrund eine ausschließliche oder fast ausschließliche Inanspruchnahme nicht aufzuzeigen. Die zwischen dem 16. November 2015 und dem 09. Juli 2018 an insgesamt 168 Tagen durchgeführte Hauptverhandlung führte – bei quartalsmäßiger Betrachtung – zu einer Terminsdichte zwischen 0,7 und 1,6 Hauptverhandlungstagen pro Woche und bei einer Gesamtbetrachtung von 1,2 Hauptverhandlungstagen pro Woche.

Eine Berücksichtigung der Verhandlungsdichte kommt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung – auch des Senats – regelmäßig erst bei einer Terminsdichte von (mehrfach) mindestens drei ganztägigen Verhandlungen pro Woche in Betracht (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 10. Dezember 2021, Az.: 5 AR (P) 7/20 – juris). Die Anzahl der Hauptverhandlungstermine und deren Dauer wird durch die jeweiligen Terminsgebühren und gegebenenfalls Längenzuschläge erfasst. Eine Pauschvergütung ist auch durch die umfangreiche Nutzung des Selbstlese-verfahrens durch eine Vielzahl entsprechender Anordnungen und im Umfang von über 6.000 Seiten (vgl. Antragsbegründung im Verfahren 1(S) AR 51/22) nicht veranlasst. Bei „Aufteilung“ auf die Anzahl der Hauptverhandlungstage ergibt sich daraus lediglich ein Leseaufwand von etwas über 40 Seiten pro Hauptverhandlungstag, der ebenfalls als noch nicht unzumutbar ein-zuordnen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei regelmäßig um Unterlagen handelt, die ohnehin im Rahmen der Einarbeitung (dazu unter Buchst. a) zur Kenntnis zu nehmen waren (OLG Hamm, Beschluss vom 05. Mai 2022, Az.: III-5 RVGs 16/22 – juris).

Es ist überdies weder dargetan noch ersichtlich, dass die jeweils erforderliche Anreise zum Gerichtsort bei der Bemessung des Umfangs der Sache zu einer Überschreitung der Zumut-barkeitsgrenze führen würde (BGH NJW 2015, 2437). Der entsprechende und zu den reinen Verhandlungszeiten hinzutretende Zeitaufwand wird durch das Tage- und Abwesenheitsgeld (Nr. 7005 VV RVG) erfasst.

c) Im Übrigen war das Verfahren jedoch als besonders schwierig einzustufen. Die Schwierigkeit ging weit über ein durchschnittlich vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zu führendes Verfahren hinaus. Die Verteidiger hatten sich etwa mit besonderen Rechtsfragen aus den Gebieten des Versicherungsrechts, des Handels- und Gesellschaftsrechts, des Bank-und Kapitalmarktrechts, des Aktienrechts und des Insolvenzrechts zu befassen (vgl. Antrag eines Mitverteidigers pp. auf Gewährung von Pauschvergütung vom 01. Dezember 2022, Az.: 1(S) AR 74/22). Es ist nachvollziehbar, dass damit ein höherer Vorbereitungs- und Be-sprechungsaufwand sowohl vor als auch im Zusammenhang mit der Hauptverhandlung einher ging; dies gerade auch, um eine sachgerechte Befragung von Zeugen und Sachverständigen zu ermöglichen.

3. Nach Abwägung aller relevanten Umstände und unter Berücksichtigung der vom Verteidiger in seinen Schriftsätzen vorgebrachten Argumente erschien dem Einzelrichter angesichts des außergewöhnlichen Gepräges des Verfahrens, das – wie schon das Landgericht in seinem Haftfortdauerbeschluss vom 03. Mai 2016 ausgeführt hat:

„Es geht im vorliegenden Fall nicht nur um ein für den Freistaat Sachsen bisher singuläres Betrugsverfahren, sowohl nach Zahl der mutmaßlichen Geschädigten wie nach der Schadenshöhe, sondern auch die Komplexität und der Umfang des Verfahrens machen dieses zu einem der bundesweit herausragenden der letzten Jahrzehnte.“ –

sich erheblich von durchschnittlichen Wirtschaftsstrafverfahren abhebt, zum Ausgleich der von ihm erbrachten Tätigkeiten eine (zusätzliche) Pauschvergütung in der ausgesprochenen Höhe für angemessen.

Die in den Besonderheiten des Verfahrens begründete Höhe der Pauschvergütung wird daher kein verallgemeinernder Maßstab für die zukünftige Handhabung des Senats in anderen Fällen sein.“

Dazu ist anzumerken:

Folgende Verfahrensumstände, die vom OLG nur mager mitgeteilt werden –  man verwendet lieber Zeit und Platz auf Selbstverständlichkeiten -, sind von Bedeutung:

  • 50.000 Blatt Akten bis zum Beginn der Hauptverhandlung, wobei offen bleibt, wie sich der Aktenbestand danach erhöht hat,
  • zusätzlich drei Terrabyte elektronische Daten,
  • insgesamt 168 Tagen Hauptverhandlungstermine zwischen dem 16.11.2015 und dem 9.7.2018, also eine Hauptverhandlungsdichte von 1,2 Hauptverhandlungstagen/Woche,
  • eine Vielzahl (wieviel konkret?) von Haftbesuchen,
  • „besonders schwierig“, da besondere Rechtsfragen aus den Gebieten des Versicherungsrechts, des Handels- und Gesellschaftsrechts, des Bank- und Kapitalmarktrechts, des Aktienrechts und des Insolvenzrechts eine Rolle gespielt haben,
  • lange Verfahrensdauer von fast 10 Jahren
  • das OLG braucht zur Entscheidung 15 Monate.

Man fragt sich bei den Umständen zunächst allgemein: Was soll es eigentlich, ein Verfahren wegen „seiner Komplexität und des Umfangs als eines „der bundesweit herausragenden der letzten Jahrzehnte“ anzusehen, wenn man dem dann bei der Bemessung der Pauschgebühr nicht gerecht wird? Und Ansatzpunkte waren genügend da. Vielleicht hätte man sich mal mit der Berücksichtigung des „Gesamtgepräges“ des Verfahrens (vgl. dazu mit der OLG Hamm, Beschl. v. 2.1.2007 – 2 [s] Sbd. IX-150/06]; Beschl. v. 16.3.2007 – 2 [s] Sbd. IX-30/07; vgl. auch OLG Stuttgart, RVGreport 2008, 383 = StRR 2008, 359 m. Anm. Burhoff = Rpfleger 2008, 441) befassen können? Das hätte sicherlich – allein schon wegen der langen Verfahrensdauer von fast 10 Jahren die – zugegeben nicht sehr hohe – Verhandlungsdichte – die zugrunde liegende Berechnungsmaßstäbe der OLG-Rechtsprechung als richtig unterstellt – relativiert, wobei offen bleibt, wie lange die Hauptverhandlungstermine durchschnittlich gedauert haben. Oder: Wie ist der Umstand zu bewerten, dass das Verfahren nicht nur „besonders umfangreich“, sondern eben auch „besonders schwierig“ war, wobei hier wohl – um einen Begriff aus der BGH-Rechtsprechung aufzugreifen – die Schwierigkeit nach Auffassung des OLG „exorbitant“ war. Alles in allem, „klebt“ der Beschluss m.E. zu sehr an Einzelumständen und lässt den Gesamteindruck, den das Verfahren macht, zu sehr außer Acht.

Von Bedeutung ist zudem ein weiterer Punkt. Das OLG verweist in Zusammenhang mit der Bewertung des Aktenumfangs auf seine insoweit geltenden Grundsätze (vgl. dazu auch Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, 6. Aufl., 2021, § 51 Rn 114). So schön, wie es ist, dass das OLG Dresden eines der OLG ist, dass solche Grundsätze aufgestellt hat und damit in gewissem Umfang Berechnungsgrundlagen offen gelegt hat. Nur: Was sollen solche Grundsätze, wenn man diese bei Anwendung sogleich selbst relativiert: – „Eine lineare Fortführung der Tabelle könne im Einzelfall angemessen sein, sei aber nicht generell geboten“ – und wegen der drei Terrabyte weiterer Daten überhaupt nicht erkennbar ist, welchen Einfluss die auf die Gewährung, vor allem die Bemessung der Pauschgebühr hatten? Da schreckt man offenbar vor den selbst aufgestellten Grundsätzen zurück, denn: 1 Terrabyte Speicherplatz sind – nach einer Internetrecherche – etwa 6,5 Millionen Dokumentseiten, die als Office-Dateien, PDF-Dateien und Präsentationen gespeichert werden. Noch Fragen hinsichtlich der Angemessenheit der Pauschgebühr?

Zusammenfassend: Wenn das OLG das Verfahren selbst wegen seiner Komplexität und des Umfangs als eines „der bundesweit herausragenden der letzten Jahrzehnte“ ansieht, spricht vieles dafür, dass die festgesetzte Pauschgebühr von 23.000 EUR erheblich zu niedrig ist. Ob nun die beantragten 300.000 EUR angemessen gewesen wären, kann man diskutieren, aber nur 23.000 EUR sind doch zu mager.

Und: Gelegenheit: Die von der Vertreterin der Staatskasse als angemessen angesehenen 2.240,00 EUR (!!) sind eine Frechheit und waren dann wohl selbst dem OLG zu niedrig.

Etwas zur Beruhigung trägt dann der zweite Beschluss bei, und zwar der OLG Dresden, Beschl. v. 02.01.2024 – 1 (S) AR 40/23. Da hat das OLG in einem amtsgerichtlichen Verfahren wegen des Aktenumfangs eine Pauschgebühr gewährt, denn – so der Leitsatz:

Bei erstinstanzlichen Verfahren vor dem Amtsgericht kann ab einem Aktenumfang von 800 Blatt eine Pauschvergütung bewilligt werden kann. Danach ist je nach Umfang der Akte eine Staffelung der zusätzlich zur Grundgebühr zu gewährenden Gebühren vorzunehmen. Für einen Umfang zwischen 2.000 und 3.000 Blatt ergibt sich eine 2-fache Erhöhung der Grundgebühr.

Aber: Eben nur etwas Beruhigung, denn man ärgert sich natürlich, dass bei dieser Pauschgebühr die Grundsätze zum Aktenumfang angewendet werden. Hier passt es. Ist ja auch nicht so viel, was man feststellen muss. Für mich ein Widerspruch, der die Gewährung von Pauschgebühren – beim OLG Dresden – unberechenbar macht. Im Übrigen: Hinsichtlich der Voraussetzungen für die Gewährung einer Pauschgebühr verwendet das OLG offensichtlich Textbausteine, da die Ausführungen dazu in dem Beschluss vom 02.01.2024 weitgehend wortgleich sind mit denen bei OLG Dresden, Beschl. v. 15.12.2023 – 1 (S) AR 53/22 sind.