Archiv für den Monat: September 2023

Widerruf eines mehrstufigen Anwaltsvertrages, oder: (Keine) Anwendbarkeit des FernabsatzG

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Und als zweite Entscheidung dann das AG Mannheim, Urt. v. 23.06.2023 – 17 C 1517/23 – zum Widerruf eines Anwaltsvertrages mit Vergütungsvereinbarung.

Der Kläger, ein Rechtsanwalt/Verteidiger, verlangt von der Beklagten die Zahlung von restlichem Anwaltshonorar für die strafrechtliche Verteidigung der Tochter der Beklagten. Die Beklagte macht mit der Widerklage die Rückzahlung eines Vorschusses geltend.

Am 5. oder 6.09.2022 wurde der Kläger von der Beklagten telefonisch mit der Verteidigung ihrer minderjährigen Tochter in einem Ermittlungsverfahren der beauftragt. Hierzu wurde unter anderem ein Stundenhonorar in Höhe von 300,00 EUR zzgl. 19 % MwSt. vereinbart. Ferner wurde vereinbart, dass der Beklagten nach Akteneinsicht ein Pauschalhonorar angeboten wird und sie einen Vorschuss von 892,50 EUR brutto zu zahlen hat. Dieser wurde auch ausgeglichen.

Nachdem Akteneinsicht gewährt und der Arbeitsaufwand abgeschätzt werden konnte, wurde mit der Beklagten am 16.12.2022 in den Kanzleiräumlichkeiten des Klägers eine Pauschalhonorarvereinbarung für die Verteidigung im Ermittlungsverfahren über 1.700,00 EUR zzgl. 19 % MwSt. und Auslagen getroffen. Rechengrundlage für die Höhe des Pauschalhonorars war das zuvor vereinbarte Stundenhonorar. Unter Berücksichtigung des Aktenumfangs (255 Seiten), der administrativen Tätigkeiten, der notwendigen Abstimmung mit Kollegen (mehrere Beschuldigte), der ausführlichen Besprechung mit der Beklagten und deren Tochter sowie des Aufwands für die Erstellung der Stellungnahme an die Staatsanwaltschaft wurde ein Gesamtaufwand zwischen 5 und 7 Stunden geschätzt.

Mit Schreiben vom 17.12.2022 wurde der Beklagten die Abrechnung übersandt. Nach Abzug des bereits geleisteten Vorschusses verblieb ein Rechnungsbetrag in Höhe von 1.168,58 EUR. Dieser Restbetrag war bis spätestens zum 30.12.2022 auszugleichen, da bis zum 6.1.2023 die Stellungnahme an die Staatsanwaltschaft hätte abgegeben werden müssen. Nachdem die Zahlungsfrist ohne Zahlungsausgleich verstrich, wurde das Mandat vom Kläger mit Schreiben vom 6.1.2023 niedergelegt.

Der Kläger hat sich im Verfahren zur Begründung seiner (Rest)Forderung auf die in seinen Kanzleiräumlichkeiten geschlossene Vergütungsvereinbarung vom 16.12.2022 gestützt. Es liege – so der Kläger – ein gestreckter bzw. mehrstufiger Vertragsschluss vor, der nicht ausschließlich unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln geschlossen worden sei. Die eigentliche Beratung in der Sache sei erst an diesem Tag im Rahmen des persönlichen Gesprächs erfolgt. Schließlich liege bei ihm kein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem vor.

Die Beklagte hatte sich demgegenüber darauf berufen, dass sie, nachdem der Rechtsberatungsvertrag unter ausschließlicher Nutzung von Fernkommunikationsmitteln mit der Beklagten als Verbraucherin geschlossen worden sei, ein Fernabsatzwiderrufsrecht habe. Sie hätte zudem auch belehrt werden müssen, was hier noch nicht der Fall sei, so dass die Widerrufsfrist frühestens nach einem Jahr und 14 Tagen ablaufe. Dementsprechend widerrufe sie sämtliche, auf Abschluss eines Rechtsberatungsvertrages gerichtete Willenserklärungen. Danach habe der Kläger auch den bezahlten Vorschuss zurück zu gewähren. Ein späterer persönlicher Kontakt, eine spätere nochmalige Beauftragung und ähnliches heile den ursprünglichen Verstoß nicht. Der Kläger sei tätig geworden, habe Vorschuss gefordert und Akteneinsicht genommen. Es habe sich gerade nicht um eine bloße Voranfrage oder Terminsanfrage gehandelt. Hätte sie vor dem ersten persönlichen Treffen vom Vertrag Abstand genommen, hätte der Kläger sicherlich auf einem Vertragsschluss bestanden und den entstandenen Arbeitsaufwand abgerechnet.

Das AG hat der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Das AG führt aus:

„Die zulässige Klage ist begründet, während die zulässige Widerklage unbegründet ist.

Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung in Höhe von 1.168,58 € aus §§ 611 Abs. 1, 675 BGB in Verbindung mit dem zwischen den Parteien zustande gekommenen Anwaltsvertrag.

Der zwischen den Parteien zustande gekommene Anwaltsvertrag stellt einen mehrstufigen Vertrag dar, bei dem nicht ausschließlich Fernkommunikationsmittel verwendet wurden. Damit konnte die Beklagte den Vertrag nicht nach den Regeln über Fernabsatzverträge widerrufen.

Zwar ist der als Mandatsvertrag bezeichnete Anwaltsvertrag vom 05.09.2022 zwischen den Parteien zunächst unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln gemäß § 311 c BGB zustande gekommen. Das Erstgespräch fand telefonisch statt und die Vollmacht vom 06.09.2022 sowie der unterzeichnete Mandatsvertrag vom 05.09.2022 wurden per E-Mail versandt.

Allerdings wurde die „ergänzende Vergütungsvereinbarung“ vom 13.12.2022 bei persönlicher Anwesenheit beider Parteien in den Kanzleiräumlichkeiten des Klägers unterzeichnet. Diese Vergütungsvereinbarung ist nach Auffassung des Gerichts kein eigenständiger Vertrag, sondern als Teil des Anwaltsvertrags vom 05.09.2022 zu qualifizieren. Dies ergibt sich bereits aus der Bezeichnung als „ergänzende Vergütungsvereinbarung“ sowie aus dem Einleitungssatz, wonach sie „in Ergänzung des Mandatsvertrags mitsamt Vergütungsvereinbarung vom 05.09.2022″ vereinbart wurde. Der Kläger hat im Rahmen der Klageschrift zudem nachvollziehbar vorgetragen, dass die Rechengrundlage für die Höhe des Pauschalhonorars in der ergänzenden Vergütungsvereinbarung das zuvor vereinbarte Stundenhonorar gewesen sei. Außerdem wird bereits im Mandatsvertrag vereinbart, dass nach erfolgter Akteneinsicht dem Auftraggeber – also der Beklagten – ein Pauschalhonorar angeboten werden wird. Gegen die Annahme eines eigenständigen Vertrags spricht auch, dass die „ergänzende Vergütungsvereinbarung“ nicht alle essentialia negotii enthält. So fehlt insbesondere der Auftragsgegenstand, welcher lediglich im Mandatsvertrag bezeichnet wird.

Somit ist der Anwaltsvertrag in seiner Gesamtheit, das heißt unter Berücksichtigung der dazugehörigen Pauschalvergütungsvereinbarung, nicht unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln geschlossen worden. Denn die hinsichtlich des Pauschalhonorars seitens der Beklagten abgegeben Willenserklärungen ist in Form einer Unterschrift im Rahmen eines persönlichen Kontakts in den Kanzleiräumlichkeiten des Klägers erfolgt.

Schließlich spricht auch das Gesamtbild des streitgegenständlichen Anwaltsvertrags nicht für die Annahme eines einheitlichen Fernabsatzvertrags. Denn die Konkretisierung der vertraglichen Leistung ist im Rahmen eines persönlichen Gesprächs am 16.12.2022 erfolgt. Dementsprechend ist die Konkretisierung der Leistung und ggf. die gesamte Leistungserbringung gerade nicht fern-kommunikativ erfolgt — wie etwa im Rahmen einer Rechtsberatung über eine „Anwalts-Hotline“ (MüKoBGB/Wendehorst, 9. Aufl. 2022, BGB § 312c Rn. 17).

Der Vortrag der Beklagten überzeugt nicht. Sie meint, der spätere Abschluss einer Vergütungs-vereinbarung ändere nichts daran, dass die ursprüngliche Beauftragung unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln erfolgt sei und sie insoweit nicht belehrt worden sei. In diesem Fall wären die ursprüngliche Beauftragung in Form des Anwaltsvertrags und die spätere Vergütungs-vereinbarung zwei voneinander zu unterscheidende eigenständige Verträge. Danach könnte zwar der Anwaltsvertrag als Fernabsatzvertrag widerrufen werden, die später geschlossene Vergütungsvereinbarung bliebe jedoch als eigenständiger Vertrag bestehen und diente dem Kläger weiter als Rechtsgrundlage für seine Forderung. Dementsprechend bleibt die Beklagte die Beantwortung der Frage, was bei Zugrundelegung ihrer Auffassung mit der Vergütungsvereinbarung passiert, die unstreitig nicht unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln geschlossen wurde, schuldig.

Im Ergebnis ist die „ergänzende Vergütungsvereinbarung“ entweder ein Teil des Anwaltsvertrags, der dann nicht ausschließlich unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln geschlossen wurde und dann nicht widerrufen werden kann, oder sie ist eine eigenständige Vereinbarung, die bei Widerruf des Anwaltsvertrags wirksam bleibt und den Kläger berechtigt, das vereinbarte Pauschalhonorar zu fordern. Das Gericht bevorzugt aus den bereits genannten Gründen die erste Auffassung. Letztlich führen jedoch beide zum gleichen Ergebnis, dass der Kläger einen Anspruch auf das vereinbarte Pauschalhonorar abzüglich des bereits geleisteten Vorschusses besitzt.“

Nochmals zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV, oder: Gegenstandswert von 30 Mio EUR ist zu hoch

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Am Gebührenfreitag heute zwei Entscheidungem und zwar eine von einem OLG und eine von einem AG.

Ich starte mit der OLG-Entscheidung. Es handelt sich um den OLG Zweibrücken, Beschl. v. 06.07.2023 – 1 Ws 22/23 – (noch einmal) zum Anfall der Einziehungsgebühr Nr. 4142 VV RVG und zum Gegenstandswert. Folgender Sachverhalt:

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Verurteilten wegen verschiedener Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz unter dem 12.04.2022 Anklage zum Landgericht erhoben. In der Anklageschrift wird darauf hingewiesen, dass ein Betrag von 660.500,00 EUR gem. §§ 73, 73c, 73d StGB der Einziehung und ein Betrag in Höhe von 31.704.000,00 EUR gem. §§ 73a, 73c, 73d StGB der erweiterten Einziehung unterliege. Unter der Überschrift „Vermögensabschöpfung“ wird dies näher begründet. In der Hauptverhandlung hat der Vertreter der Staatsanwaltschaft dann die Einziehung von Taterträgen in Höhe von 274.000,00 EUR und den „erweiterten Verfall“ in Höhe von 85.500,00 EUR beantragt. Das Landgericht hat im Urteil die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 101.500,00 EUR angeordnet.

Nach Einreichung des Kostenfestsetzungsantrags durch den Pflichtverteidiger hat die Bezirksrevisorin beim LG die Festsetzung des Gegenstandswertes für das Einziehungsverfahren beantragt. Das LG hat diesen auf 660.500,00 EUR festgesetzt und zur Begründung ausgeführt, die erweiterte Einziehung von Taterträgen in Höhe von 31.704.000,00 EUR sei nach Aktenlage niemals ernsthaft in Betracht gekommen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Verteidigers, mit der die Festsetzung eines Gegenstandswertes von 30.000.000,00 EUR angestrebt wird. Das LG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der zur Entscheidung berufene Einzelrichter beim OLG hat das Verfahren gem. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG wegen grundsätzlicher Bedeutung dem Senat übertragen. Dieser hat die Beschwerde zurückgewiesen:

„Das Rechtsmittel bleibt allerdings in der Sache erfolglos.

Nach Nr. 4142 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (VV) fällt eine besondere Verfahrensgebühr als Wertgebühr an, wenn der Rechtsanwalt eine auf die Einziehung und verwandte Maßnahmen bezogene gerichtlich oder außergerichtliche Tätigkeit für den Beschuldigten ausübt (BGH, Beschluss vom 29.11.2018 – 3 StR 625/17, juris Rn. 4). Die Verfahrensgebühr wird auch durch eine bloß beratende Tätigkeit des Rechtsanwalts ausgelöst. Erforderlich, aber auch ausreichend für das Entstehen der zusätzlichen Gebühr ist eine nach Aktenlage gebotene Beratung des Mandanten. Das wird immer der Fall sein, wenn Fragen der Einziehung naheliegen. Es kommt weder darauf an, ob der Erlass der Maßnahme rechtlich zulässig ist, noch, ob es an einer gerichtlichen Entscheidung über die Einziehung fehlt, noch ist erforderlich, dass die Einziehung ausdrücklich beantragt worden ist. Es genügt, dass sie nach Lage der Sache ernsthaft in Betracht kommt (OLG Dresden, Beschluss vom 14.02.2020 – 1 Ws 40/20, juris Rn. 1; OLG Braunschweig, Beschluss vom 01.03.2022 – 1 Ws 38/22; juris Rn. 3).

Der Gegenstandswert für die Einziehung richtet sich nach dem objektiven wirtschaftlichen Interesse des Angeklagten an der Abwehr der Anordnung (BGH, Beschluss vom 30.04.2014 – 1 StR 53/13, juris Rn. 1; Beschluss vom 07.10.2014 – 1 StR 166/07, juris Rn. 1; Beschluss vom 29.11.2018 – 3 StR 625/17, juris Rn. 5; Beschluss vom 22.05.2019 – 1 StR 471/18, juris Rn. 2). Maßgeblich ist – wie bei Festsetzung der Kosten im Zivilprozess – der Nominalwert der titulierten Einziehungsforderung. Eine Verringerung des Gegenstandswerts wegen fehlender Durchsetzbarkeit des Zahlungsanspruchs ist generell weder im Streitwert- noch im Kostenfestsetzungsverfahren vorgesehen. Es kommt daher nicht darauf an, ob wegen einer Vermögenslosigkeit des Angeklagten erhebliche Zweifel an der Werthaltigkeit der Einziehungsforderung bestehen (BGH, Beschluss vom 22.05.2019 – 1 StR 471/18, a. a. O. für das Revisionsverfahren; anders für den Arrest: BGH, Urteil vom 08.11.2018 – III ZR 191/17, juris Rn. 20). Beanstandet die Staatsanwaltschaft im Revisionsverfahren, das Landgericht habe zu Unrecht davon abgesehen, den Verfall von Wertersatz anzuordnen, bemisst sich der Gegenstandswert im Revisionsverfahren nach dem von der Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision verfolgten Ziel, mithin der von ihr erstrebten Höhe der Anordnung des Verfalls von Wertersatz (BGH, Beschluss vom 24.02.2015 – 1 StR 245/09, juris Rn. 5). Die für die Wertgebühr maßgebende Höhe des Verfalls des Wertersatzes kann sich nur nach den zum Zeitpunkt der anwaltlichen Beratung erkennbaren Anhaltspunkten in der Verfahrensakte, nicht jedoch nach dem in der Hauptverhandlung gestellten Schlussantrag der Staatsanwaltschaft richten. Ob sich später, etwa in der Hauptverhandlung, Anhaltspunkte für einen niedrigeren Wert ergeben haben, ist ebenso unerheblich wie der Umstand, in welcher Höhe letztlich das Gericht die Einziehung von Wertersatz festgesetzt hat. Der in der zugelassenen Anklage enthaltene Hinweis auf die in Betracht kommende Rechtsfolge der Verfallsanordnung ist nicht völlig bedeutungslos; der Hinweis in der Anklageschrift führt immerhin dazu, dass durch sie ein rechtlicher Hinweis des Gerichts in der Hauptverhandlung entbehrlich wird (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23.08.2007 – 3 Ws 267/07, juris Rn. 7; OLG Oldenburg, Beschluss vom 03.12.2009 – 1 Ws 643/09, juris Rn. 8 und Beschluss vom 06.07.2011 – 1 Ws 351/11, juris Rn. 11).

Deshalb ist im vorliegenden Fall das von der Vertreterin der Landeskasse tatsächlich zutreffend herausgestellte „grobe Missverhältnis“ zwischen den von der Staatsanwaltschaft hochgerechneten Einkünften des Verurteilten und dem nach dem Urteil letztlich der Einziehung unterfallenden Betrag für die Festsetzung des Gegenstandswertes ohne Bedeutung. Auch dass – wie die Generalstaatsanwaltschaft in tatsächlicher Hinsicht zutreffend einwendet – eine Anordnung der erweiterten Einziehung von Wertersatz bei dem Verurteilten wirtschaftlich nicht durchsetzbar ist, spielt für die Festsetzung keine Rolle. Schließlich vermögen auch die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung der erweiterten Einziehung hier schon nach Aktenlage nicht vorlagen (BGH, Beschluss vom 04.03.2021 – 5 StR 447/20, juris Rn. 67 f.; ferner: Beschluss vom 03.11.2020 – 6 StR 258/20, juris Rn. 7; Beschluss vom 19.08.2021 – 5 StR 238/21, juris Rn. 4; Beschluss vom 26.10.2021 – 5 StR 327/21, juris Rn. 3), die Wertfestsetzung nicht zu beeinflussen.

Als aus der Akte erkennbarem Anhaltspunkt für das objektive, wirtschaftliche Interesse des Angeklagten an der Abwehr der Einziehungsanordnung kommt der Anklageschrift, wenn diese sich zur Vermögensabschöpfung äußert, naturgemäß erhebliche Bedeutung zu. Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft die nach ihrer Auffassung der Einziehung und der erweiterten Einziehung unterliegenden Beträge nicht nur beziffert, sondern deren Berechnung auch noch ausführlich begründet. Nach der Anklageschrift sollte ein Betrag von insgesamt 32.364.500,00 € der Einziehung bzw. der erweiterten Einziehung von Wertersatz unterliegen.

Entsprechenden Ausführungen der Staatsanwaltschaft grundsätzlich keine Bedeutung für das Interesse des Verurteilten an der Abwehr der Anordnung beizumessen, würde der Bedeutung der Anklageschrift für das Strafverfahren nicht gerecht; steht die Vermögensabschöpfung in der genannten Höhe allerdings ernstlich nicht im Raum und hat die Berechnung deshalb nur fiktiven Charakter, verliert der Inhalt der Anklageschrift seine Bedeutung für die Bestimmung des Gegenstandwertes (zum Verfall und unter Geltung der BRAGO: OLG Köln, Beschluss vom 01.06.2007 – 2 Ws 173-175/07, BeckRS 2007, 16796 = StraFo 2007, 525).

So liegt der Fall hier. Der fiktive Charakter der Berechnung des vermeintlich der erweiterten Einziehung unterliegenden Betrages lässt sich zwar nicht dem Wortlaut der Anklageschrift entnehmen; die Bezifferung dieses Betrages ist aber im Hinblick auf den Ansatzpunkt für deren Berechnung und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten im Tatzeitraum offensichtlich abwegig.

Deshalb hat es mit dem von dem Landgericht für das Einziehungsverfahren festgesetzten Gegenstandwert in Höhe von 660.500,00 € sein Bewenden.“

Dazu ist anzumerken:

1. Vorab: Auf den ersten Blick scheint der Streit des Pflichtverteidigers mit der Landeskasse ein „Streit um Kaisers“ Bart zu sein. Denn selbst, wenn das LG/OLG den Gegenstandswert auf die vom Verteidiger beantragten 30.000.000 EUR – auf § 22 Abs. 2 S. 2 RVG wird hingewiesen – festgesetzt worden wäre – hätte sich für die Pflichtverteidigergebühren nichts geändert. Denn für den Pflichtverteidiger gilt die Beschränkung aus § 49 RVG, die den Gegenstandswert für ihn bei 50.000 EUR kappt. Mehr als 659 EUR entstehen für den Pflichtverteidiger an Gebühren also bei der Nr. 4142 VV RVG nicht.

Der Streit ist aber nur vordergründig überflüssig bzw. hat ggf. Bedeutung in Verfahren, in denen es um Wahlanwaltsgebühren geht, da insoweit eben von einem Gegenstandswert von 30.000.000 EUR ausgegangen werden könnte. Das könnte, was sich aus der Entscheidung allerdings nicht ergibt, im Übrigen auch hier greifen. Wenn nämlich das LG in seinem Urteil oder ggf. der BGH in einer potentiellen Revisionsentscheidung nach den Grundsätzen von BGH (Beschl. v. 25.02.2021 – 1 StR 423/20, AGS 2021, 287) eine Kostenentscheidung teilweise zugunsten des Angeklagten getroffen hätte und wegen der erheblichen Verringerung der Einziehungsbetrages, dessen sich die Staatsanwaltschaft berühmt hat, die Kosten und Auslagen zumindest teilweise der Staatskasse auferlegt hätte. Dann würde im Rahmen der Erstattung für den Angeklagten der höhere Gegenstandswert herangezogen werden müssen.

2. Hinsichtlich der Ausführungen des OLG zur Bemessung des Gegenstandswertes ist gegen die Darlegungen  zum objektiven wirtschaftlichen Interesse des Angeklagten als Grundlage für die Bemessung nichts einzuwenden. Sie sind grundsätzlich zutreffend. Zutreffend sind auch die Anmerkungen des OLG zur Bedeutung der Anklageschrift. Nicht selten wird sie Grundlage der Gegenstandswertbemessung sein, da in ihr die Staatsanwaltschaft, wenn sie eine Einziehung bejaht/ankündigt, auch zu deren Höhe Stellung nehmen muss. Damit ist aber die Grundlage für den Verteidiger gelegt. Der muss/kann aus der Anklageschrift entnehmen, welcher Einziehungsanspruch gegen seinen Mandanten geltend gemacht wird und womit der Mandant schlimmstenfalls rechnen muss. Die Staatsanwaltschaft berühmt sich für den Staat als Rechtsfolge einer Verurteilung eines Anspruchs in dieser Höhe. Gegen den muss sich der Mandant verteidigen, was seinem objektiven wirtschaftlichen Interesse entspricht. M.E. kann man an der Stelle nicht auf einen „fiktive Charakter der Berechnung des vermeintlich der erweiterten Einziehung unterliegenden Betrages“ abstellen, wenn man zuvor die Anklageschrift als das „Maß aller Dinge“ als Grundlage der Bemessung herangezogen hat. Das ist widersprüchlich. Und ob „die die Bezifferung dieses Betrages … im Hinblick auf den Ansatzpunkt für deren Berechnung und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten“ zutreffend ist oder nicht, kann m.E. auch keine Rolle spielen. Die Staatsanwaltschaft hat sich eines solchen Anspruchs berühmt, gegen den muss sich der Angeklagte verteidigen. Auch bei Festsetzung der Kosten im Zivilprozess wird – das OLG sieht selbst die Parallel – ja nicht gegen eine geltend gemachte Klageforderung bei (teilweise) Klageabweisung eingewandt, diese sei fiktiv gewesen. Das durch eine „fiktive“ Forderung entstehende Kostenrisiko ist das Risiko des Klägers, der sich einer solchen „übersetzten“ Forderung berühmt. Im Strafverfahren ist es das Risiko des Staates, der sich, vertreten durch die Staatsanwaltschaft, einer zu hohen/übersetzten Einziehungsforderung berühmt. Da hilft es auch nicht, wenn man mit „offensichtlich abwegig.“ formuliert. Die Formulierung zeigt vielmehr, dass man sich schon darüber bewusst ist, dass die eigene Begründung widersprüchlich ist und den Beschluss nicht trägt.