Archiv für den Monat: Juni 2023

Corona II: Nichtvorlage vom Impf-/ Genesenenausweis, oder: Bußgeld auch bei Weiterbeschäftigung

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Und als zweite Entscheidung dann noch etwas Bußgeldrechtliches, nämlich den OLG Oldenburg, Beschl. v. 13.03..2023 – 2 ORbs 17/23 (210 Js 31415/22). Das OLG hat zur Verhängung eines Bußgeldes wegen wegen der Nichtvorlage eines Impf- oder Genesenennachweises Stellung genommen. Das AG hatte den Betroffenen, der als Chirurg arbeitet, wegen vorsätzlicher Nichtvorlage eines Impf- oder Genesenennachweises zu einer Geldbuße von 500 EUR verurteilt. Dagegen dessen Rechtsbeschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„Der Senat ergänzt diese Ausführungen allerdings wie folgt:

Soweit der Betroffene geltend macht, ein Verstoß gegen § 20a Abs. 5 Satz 1 IfSG a. F., wonach die in Abs. 1 Satz 1 genannten Personen dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung oder das jeweilige Unternehmen befand, auf Anforderung einen Nachweis nach Abs. 2 Satz 1 vorzulegen hatten, habe für ihn nicht gegolten, da er mangels Impfung über einen derartigen Nachweis nicht verfügt habe, verfängt dieser Einwand ersichtlich nicht. Die entsprechende Regelung sollte nicht nur die Vorlage vorhandener Nachweise sanktionieren. Vielmehr musste (auch) derjenige, der ungeimpft bleiben wollte, bei Fortsetzung der Tätigkeit mit einer bußgeldbewehrten Nachweisanforderung rechnen (vergleiche BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022, 1 BvR 2649/21, juris, Rn. 114). Dass der Betroffene geglaubt haben könnte, er könne der Vorlagepflicht mit dem Argument, er habe keinen entsprechenden Nachweis, entgehen, ist vor dem Hintergrund der vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht geführten Diskussion – wie die Generalstaatsanwaltschaft schon zutreffend angemerkt hat – abwegig.

Der Hinweis des Betroffenen, gegen ihn sei ein Betretungsverbot nicht verhängt worden, führt nicht dazu, dass die vorherige Weigerung, einen Impf- oder Genesenennachweis vorzulegen, nicht mit einem Bußgeld sanktioniert werden könnte. Die Möglichkeit des Gesundheitsamtes, trotz Nichtvorlage durch den Beschäftigten, diesen weiterhin seiner Tätigkeit nachgehen zu lassen, ist vom Bundesverfassungsgericht vielmehr lediglich als ein Gesichtspunkt zur Abmilderung des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit, den die zur Erfüllung der Nachweispflicht veranlasste Impfung darstellt, angesehen worden (BVerfG, a. a. O., Randnummer 207, 212, 215).

Insofern hat der Gesetzgeber den vom Betroffenen angeführten Gesichtspunkt, die Aufgabe seiner Tätigkeit als Arzt wäre im Hinblick auf die Patientenversorgung kontraproduktiv gewesen, bereits berücksichtigt und das Gesundheitsamt hier von der genannten Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Auch wenn – wie der Betroffene geltend macht- in anderen Bundesländern Bußgeldbescheide wegen Nichtvorlage von Nachweisen nicht verhängt worden sein sollten, würde dieses nicht zu einem Verstoß gegen Art. 3 GG führen: Der Anspruch auf Gleichbehandlung besteht nur gegenüber dem nach der Kompetenzverteilung konkret zuständigen Verwaltungsträger; dieser hat in seinem Zuständigkeitsbereich die Gleichbehandlung zu sichern (BVerwGE 70. Bd., 127,132; BVerfGE 21. Bd., 54, 68).

Soweit der Betroffene meint, bei der Aufforderung zur Vorlage eines Impf- oder Genesenennachweises habe es sich um einen Verwaltungsakt gehandelt, der mangels Rechtsbehelfsbelehrung noch nicht bestandskräftig geworden sei, sodass hierauf ein Bußgeld nicht habe gestützt werden können, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Er schließt sich vielmehr den ausführlich begründeten Beschlüssen des OVG Lüneburg vom 22.06.2022 (14 ME 258/22) und des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 13.6.2022 (1 B 28/22), jeweils juris, an, wonach es sich um eine unselbständige Verfahrenshandlung im Sinne des § 44 a VwGO gehandelt hat. Auf die jeweiligen Begründungen wird insoweit verwiesen.

Auch der Einwand des Betroffenen, ein Festhalten am Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27.4.2022 sei in keiner Weise mehr zu rechtfertigen, greift nicht durch. Abzustellen ist auf den Zeitpunkt des Aufforderungsschreibens des Landkreises vom 13.07.2022. Am 27.04.2022 hatte das Bundesverfassungsgericht noch ausgeführt, dass nicht erkennbar sei, dass die Nachweispflicht mittlerweile in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen wäre. Bis zum hier maßgeblichen Zeitpunkt waren lediglich zweieinhalb Monate verstrichen. Aber selbst am 08.09.2022 hat das OVG Lüneburg (14 ME 297/22, juris) diesen Zeitpunkt noch nicht als erreicht angesehen (vergleiche auch OVG NRW, Beschluss vom 23.12.2022, 13 B 1256/22, juris, das auch für diesen Zeitpunkt § 20a IfSG noch als verhältnismäßig angesehen hat).

Die Gegenerklärung gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung:

Dass die Vorlage eines Impfnachweises nicht mittels Zwangsgeld durchgesetzt werden konnte, weil keine Impfpflicht bestand, ändert an der Rechtmäßigkeit einer Bußgeldbewehrung nichts (vgl. BVerfG a.a.O., RN 267 ff.).

Im Hinblick auf § 4 Abs. 3 OWiG (Meistbegünstigungsprinzip) ist es zwar zutreffend, dass die Ausnahme hiervon durch § 4 Abs. 4 OWiG (Zeitgesetz) dann nicht zum Tragen kommt, wenn „sich der Gesetzgeber zu der getroffenen Regelung aufgrund eines Wandels der Rechtsüberzeugung nicht mehr bekennt.“ (OLG Hamm, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 4 RBs 387/21 –, Rn. 50, juris).

Dies gilt aber für Zeitgesetze im weiteren Sinne, also solche, die ihrem Inhalt nach für sich ändernde zeitbedingte Verhältnisse gedacht sind (vgl. Göhler-Gürtler/Thoma, OWiG, 18. Auflage, § 4 RN 10 und 10a).

Hier lag aber bereits ein Zeitgesetz im engeren Sinne vor:

Ein derartiges Zeitgesetz (im engeren Sinne) ist dadurch gekennzeichnet, dass bereits bei seiner Verkündung oder später ein nach dem Kalender festgelegter Zeitpunkt oder ein sonstiges in der Zukunft liegendes Ereignis, an dem das Gesetz außer Kraft treten soll, ausdrücklich bestimmt wird (KK-OWiG/Rogall, § 4 Rn. 37; Göhler/Gürtler, § 4 Rn. 10). (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 17. Februar 2021 – 2 RB 69/20 –, Rn. 20, juris).

Nach Art. 2 des Gesetzes zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 vom 10.12.2021 wurden §§ 20a und 20b IfSchG bereits zukünftig aufgehoben, denn Art. 23 des Gesetzes sah das Inkrafttreten von Art. 2 für den 1.1.2023 vor. Tatsächlich hat es eine Verlängerung auch nicht gegeben.

Dass dies auf einem Wandel der Rechtsüberzeugung (was gegen ein Zeitgesetz i.w.S. sprechen würde) und nicht auf einer Änderung des Pandemiegeschehens beruht hätte, ist ohnehin nicht ersichtlich.“

 

Corona I: „Judenstern“ mit „Ungeimpft“ bei FB, oder: (Keine) Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens?

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So, und heute dann seit längerem mal wieder „Corona-Entscheidungen“ bzw. Entscheidungen zu Fragen, die sich aus der Corona-Pandemie ergeben haben.

Zunächst das KG, Urt. v. 11.05.2023 – (4) 121 Ss 124/22 (164/22) – mit einem Sachverhalt, den man kennt. Das AG Tiergarten hat den  wegen Volksverhetzung (§ 130 Abs. 3 StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt. Auf die hiergegen eingelegte Berufung des Angeklagten hin hat das LG das Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision. Die hatte keinen Erfolg.

Das KG geht von folgenden amtsgerichtlichen Feststellungen aus:

2. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

„Am 12. März 2021 um 12.18 Uhr teilte der Angeklagte in B. auf seinem öffentlich einsehbaren Profil der Internet-Plattform Facebook den Post eines Bekannten. Dieser Post beinhaltete das Bild eines gelben Sterns, der in dieser Art in der Zeit des Nationalsozialismus zur Kennzeichnung von Juden verwendet wurde, mit der Inschrift „Nicht geimpft“ und der unmittelbar darüber plazierten Überschrift „Die Jagd auf Menschen kann nun wieder beginnen“. Den Post versah der Angeklagte zusätzlich mit dem Kommentar: „Ich bin dabei, einen Judenstern zu basteln und an meine Jacke zu stecken, wenn die indirekte Impfpflicht kommt!“

Der Beitrag wurde bei Facebock von Nutzern sowohl positiv als auch – überwiegend – negativ kommentiert, wobei die negativen Kommentare unter anderem auf die Unverhältnismäßigkeit des Vergleichs mit dem Holocaust und die damit verbundene Verharmlosung desselben hinwiesen.

Der Angeklagte, der jüdische Vorfahren hat, seit 2017 Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e.V. ist und im Jahr 2015 versuchte, zum Judentum zu konvertieren, wollte mit dem Post auf die Diskriminierung von Ungeimpften und Impfgegnern – wie ihm selbst – hinweisen und sich als Opfer der Coronapolitik der deutschen Bundesregierung darstellen.“

Hier der Leitsatz zu der KG-Entscheidung:

Die für jedermann zugängliche Veröffentlichung eines sogenannten „Judensterns“ mit dem Zusatz „Ungeimpft“ auf der Plattform Facebook ist zur Störung des öffentlichen Friedens jedenfalls dann nicht geeignet, wenn sie auf ein kritisches persönliches Umfeld trifft und sich aus ihrem übrigen Inhalt – hier der Ankündigung, sich einen „Judenstern“ zu „basteln“ – ergibt, dass sie nicht auf die Provokation unfriedlicher Reaktionen oder die Herabsetzung von Hemmschwellen gegen rechtsgutgefährdende Handlungen angelegt ist.

Sonntagswitz, zum internationalen Tag des Kindes hier: Kinderwitze

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Am vergangenen Donnerstag (01.06.) wurde der „Internationale Tag des Kindes“ begangen. Daher gibt es hier heute „Kinderwitze“, und zwar „Fritzchenwitze“, die sind immer gut, auch wenn man sie ggf. schon kennt:

Fragt die Tante beim Kaffeetisch: „Hilfst du auch immer schön deiner Mutter?“

Sagt Fritzchen: „Natürlich, ich muss immer die Silberlöffel zählen, wenn du gegangen bist!“


Fritzchen fragt seinen Lehrer: „Ist es gerecht, wenn ich für etwas bestraft werde, dass ich nicht gemacht habe?“

Lehrer: „Natürlich nicht!“

Fritzchen: „Gut. Ich habe meine Hausaufgaben nämlich nicht gemacht!“


Fritzchen geht zum Geigenunterricht. Als er den Geigenkasten öffnet, befindet sich eine Pistole darin.

Entsetzt sagt Fritzchen zum Geigenlehrer: „Jetzt steht mein armer Papa mit der Geige in der Bank!“


Fritzchen fragt ein Mädchen in der Schule: „Willst du mit mir gehen?“

Das Mädchen antwortet: „Fällt dir nichts Besseres ein?“

Fritzchen sagt: „Doch, aber die wollte nicht.“

Wochenspiegel für die 22. KW., das war beA-Update, erbsenfreies Essen, Umgangsrecht, Berufsrichterzeuge

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Und am ersten Junisonntag 2023 der Wochenspiegel für die 22. KW. mit folgenden Hinweisen:

  1. Coming soon: beA-Update 3.18

  2. VG Hannover: SB-Tankstelle darf Videoaufzeichnungen nur maximal 72 Stunden speichern

  3. Rechtsextremer erklagt sich Referendariat in Sachsen,

  4. Überraschungs-Urteil: DSGVO doch nicht anwendbar bei Pseudonymisierung?

  5. Erbsenfreies Essen ist keine Pflicht,

  6. OVG Münster: Kein Zugang zu Berichten der Justizministerkonferenz

  7. Deutschlandticket, BahnCard & Co – Was sollten Arbeitgeber beachten?

  8. Elektromobilität: EuGH-Urteil zur Abrechnung von Ladeleistungen,

  9. Gericht klärt Umgangsrecht mit Hund

  10. und aus meinem Blog: Aufklärung II: Vernehmung der früheren Berufsrichter, oder: Was haben die Zeugen früher gesagt?

Eingang am Tag des Fristablaufs nach Dienstschluss, oder: Fristverlängerungsantrag ist (noch) rechtzeitig

entnommen wikimedia.org
Urheber Ulfbastel

Die zweite Entscheidung behandelt auch eine Verzögerungsproblematik. Die liegt bei dem BVerfG, Beschl. v. 10.05.2023 – 2 BvR 370/22 – aber nicht auf Seiten der Parteien, sondern auf Seiten des Gerichts.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten Zahlungsklage erhoben. Der Beklagte trat der Forderung entgegen. Das AG leitete die Klageerwiderung mit Schreiben vom 01.12.2021 weiter und setzte eine Frist zur Replik innerhalb von zwei Wochen. Das Schreiben ging am 06.12.2021 bei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein.

Mit Schreiben vom 20.12.2021 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Fristverlängerung. Aufgrund erheblicher Arbeitsüberlastung und urlaubsbedingter Ortsabwesenheit vom 06. bis 10.12.2021 sei eine inhaltliche Rücksprache mit der Klägerin  nicht mehr rechtzeitig möglich. Das Schreiben wurde am 20.12.2021 um 17:54 Uhr per besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) versandt.

Laut handschriftlichem Vermerk lag das Schreiben dem Richter zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht vor. Mit Urteil vom 21.12.2021 wies das AG die Klage ab. Das Urteil wurde der Geschäftsstelle am 21.12.2021, 13:35 Uhr, übergeben und den Parteien aufgrund Verfügung vom selben Tag zugestellt.

Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 30.12.2021 erhob die Klägerin Anhörungsrüge. Das Urteil sei ohne vorherige Entscheidung über ihren Fristverlängerungsantrag ergangen. Wäre die Frist antragsgemäß verlängert worden, was im Falle der erstmaligen Verlängerung zu erwarten sei, zumal tragfähige Gründe anwaltlich versichert worden seien, so wäre das Vorbringen des Beklagten bestritten worden.

Mit Beschluss vom 20.01.2022 wies das AG die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Gegen Art. 103 Abs. 1 GG sei nicht in entscheidungserheblicher Weise verstoßen worden. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte sein Fristverlängerungsgesuch früher stellen müssen. Er habe nicht erwarten können, dass nach Ablauf der üblichen Dienstzeiten noch über sein Gesuch entschieden werde und er habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werden würde. Bei Abfassung des Urteils habe der Antrag noch nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nur bei plötzlicher und unvorhergesehener Arbeitsüberlastung gewährt werden.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde der Klägerin, die Erfolg hatte:

„Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit sie sich gegen das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 21. Dezember 2021 richtet. In diesem Umfang ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet und ist ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin geboten. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen den Beschluss des Amtsgerichts über die Anhörungsrüge wendet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen, da sie unzulässig ist.

1. Gemäß § 93a Abs. 2 lit. b), § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG kann die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen und ihr stattgeben, wenn diese zulässig und offensichtlich begründet und ihre Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Dies ist im genannten Umfang der Fall.

2. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 21. Dezember 2021 wendet, ist ihre Verfassungsbeschwerde zulässig. Insbesondere wurde sie fristgerecht erhoben und hinreichend im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG begründet. Soweit die Beschwerdeführerin auch den Beschluss über ihre Anhörungsrüge angreift, ist ihre Verfassungsbeschwerde nicht zulässig. Ein Beschluss, mit dem über die Anhörungsrüge entschieden wird, kann nur dann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, wenn mit ihm eine eigenständige Beschwer verbunden ist (BVerfGE 119, 292 <294 f.>). Dies ist nur dann der Fall, wenn der Beschluss über die Anhörungsrüge dazu führt, dass bereits der Zugang zu dem Anhörungsverfahren mit nicht tragfähiger Begründung versagt wird und dieses Ergebnis bindend für den weiteren Prozess ist, eine andere fachgerichtliche Möglichkeit, die Korrektur des gerügten Gehörsverstoßes zu erreichen, also nicht mehr besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. März 2007 – 1 BvR 2748/06 -, Rn. 11 f.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2008 – 1 BvR 2327/07 -, Rn. 17). Nach diesem Maßstab liegt in dem Beschluss über die Anhörungsrüge keine eigenständige Beschwer, da lediglich die Korrektur des zuvor bereits begangenen Verstoßes unterblieb.

3. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie offensichtlich begründet. Das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr hat das Recht der Beschwerdeführerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

a) Art. 103 1 GG garantiert die Möglichkeit der Verfahrensbeteiligten, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten im gerichtlichen Verfahren zu behaupten (vgl. BVerfGE 55, 1 <6>). Zu jeder dem Gericht unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite muss die Gelegenheit zur Äußerung bestehen (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>). Das Gericht hat das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Bei seiner Entscheidung darf das Gericht keine Anforderungen an den Sachvortrag stellen, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter unter Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nicht zu rechnen braucht. Es darf auch keine Tatsachen zugrunde legen, zu denen nicht Stellung genommen werden konnte (vgl. BVerfGE 7, 275 <278>; 55, 1 <6>). Eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht besteht jedoch nicht. Auch kann aus Art. 103 Abs. 1 GG keine Pflicht des Gerichts, auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen, abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>). Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist demnach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf rechtliche Gesichtspunkte oder Erwägungen abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (BGH, Beschluss vom 13. Januar 2011 – VII ZR 22/10 -, juris, Rn. 6). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt aber keine Pflicht der Gerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Denn grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE 149, 86 <109 Rn. 63>). Art. 103 Abs. 1 GG ist daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 f.>; stRspr).

b) Das Gericht überging den Fristverlängerungsantrag der Beschwerdeführerin und erließ sein den Rechtszug abschließendes Urteil, ohne darüber entschieden zu haben. Dies geht bereits aus den Gründen des Anhörungsrügebeschlusses hervor.

Die in dem Beschluss vom 20. Januar 2022 dargelegten Gründe rechtfertigen seine Vorgehensweise nicht.

aa) Maßgebliche Vorschrift für die Verlängerung gerichtlich gesetzter Stellungnahmefristen ist § 224 2 ZPO. Nach § 224 Abs. 2 ZPO können richterliche Fristen verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind. Es wird dabei als zulässig angesehen, auf eine eidesstattliche Versicherung zu verzichten und eine bloße anwaltliche Versicherung ausreichen zu lassen (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 224, Rn. 5), insbesondere dann, wenn es sich um eine erstmalige Verlängerung handelt (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 225, Rn. 4). Über einen Antrag auf Fristverlängerung kann nach § 225 Abs. 1 ZPO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

bb) Ein Antrag auf Fristverlängerung muss innerhalb der noch laufenden Frist bei Gericht eingegangen sein (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 224, Rn. 8). Nicht erforderlich ist dagegen, dass über ihn noch während des Fristlaufs entschieden wird. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet wird oder dass es der Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es in den Machtbereich des Gerichts gelangt (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 3. Oktober 1979 – 1 BvR 726/78 -, juris, Rn. 20 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Dezember 2012 – 2 BvR 1294/10 -, Rn. 14; BGH, Beschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02 -, NJW 2003, S. 3418).

cc) Nach diesem Maßstab muss der Fristverlängerungsantrag als am 20. Dezember 2022, 17:54 Uhr, gestellt gelten, denn zu diesem Zeitpunkt gelangte das per beA übermittelte Schreiben in den Machtbereich des Gerichts. Soweit das Amtsgericht in seinem Beschluss über die Anhörungsrüge ausführte, der Fristverlängerungsantrag habe zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen, verfehlt es die prozessrechtlichen Anforderungen. Das Gericht hätte noch über den Antrag befinden müssen; Verzögerungen bei der Weiterleitung des Antrags innerhalb des Gerichts können nicht zu Lasten der Beschwerdeführerin gehen.

dd) Das Amtsgericht konnte auch nicht verlangen, dass der Prozessbevollmächtigte seinen Fristverlängerungsantrag zu einem früheren Zeitpunkt hätte stellen müssen. Fristen dürfen einem gesicherten prozessrechtlichen Grundsatz zufolge, der seine Stütze im Verfassungsrecht findet, vollständig ausgeschöpft werden (vgl. BVerfGE 40, 42 <44>; 41, 323 <328>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>). Lediglich bei der Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax ist zu beachten, dass mit der Übermittlung so rechtzeitig begonnen wird, dass in der Regel mit einem rechtzeitigen Abschluss des Sendungsvorgangs gerechnet werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 12. April 2016 – VI ZB 7/15 -, juris, Rn. 9).

ee) Zuletzt spielt auch keine Rolle, ob den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin Verschulden trifft, ob er damit rechnen durfte, dass seinem Antrag stattgegeben werden würde und wann er mit einer Entscheidung rechnen durfte. Da es hier nicht um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geht, sind diese Fragen unerheblich. Maßgeblich ist nach oben Dargestelltem allein, ob der Fristverlängerungsantrag rechtzeitig bei Gericht einging und ob ein erheblicher Grund dafür glaubhaft gemacht wurde. Von beidem ist hier auszugehen. Es ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen das Amtsgericht den erstmaligen Fristverlängerungsantrag wegen Arbeitsüberlastung und Ortsabwesenheit hätte ablehnen können.

c) Das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr überging nicht nur den Fristverlängerungsantrag der Beschwerdeführerin, sondern schnitt ihr auf diesem Wege auch die Möglichkeit ab, zu dem Vorbringen der Beklagtenseite Stellung und damit Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung zu nehmen. Dies war entscheidungserheblich…..“