Archiv für den Monat: Juni 2022

StPO II: Anforderungen an den Besetzungseinwand, oder: (Gebuchter) Erholungsurlaub eines Schöffen

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Die zweite Entscheidung des Tages behandelt noch einmal die an einen Besetzungseinwand (§ 222b StPO) zu stellenden Anforderungen. Es geht um die Entbindung einer Hauptschöffin und einer Hilfsschöffin in einem Schwurgerichtsverfahren. Beide hatten Urlaub „geltend gemacht“.

Dagegen dann der Besetzungseinwand des Angeklagten. Das OLG hat ihn im OLG Hamm, Beschl. v. 12.05.2022 – 5 Ws 114/22 – als unzulässig und unbegründet angesehen:

„1…..

Die Begründung des Besetzungseinwands genügt jedoch nicht den an diesen zu stellenden Anforderungen.

Gemäß § 222b Abs. 1 S. 2 StPO sind die Tatsachen, aus denen sich die vorschriftswidrige Besetzung ergeben soll, anzugeben. Die an diesen Vortrag zu stellenden Anforderungen entsprechen im Wesentlichen den Rügeanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO (vgl. etwa BGH, Urteil vom 07. September 2016 – 1 StR 422/15 -; OLG Celle, Beschluss vom 27.01.2020 – 3 Ws 21/20 – jeweils recherchiert bei juris; Schmitt in: Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 222b Rn. 6; Jäger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 222b Rn. 17; Arnoldi in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2016, § 222b Rn. 13). Hierfür spricht zum einen die nahezu wortgleiche Formulierung des § 222b Abs. 1 S. 2 StPO und des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Dies entspricht aber auch dem Gesetzeszweck. Mit den durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 eingeführten Rügepräklusionsvorschriften der §§ 338 Nr. 1, 222b Abs. 1 StPO wollte der Gesetzgeber seinerzeit erreichen, dass Besetzungsfehler bereits in einem frühen Verfahrensstadium erkannt und geheilt werden, um zu vermeiden, dass ein möglicherweise mit großem justiziellen Aufwand zustande gekommenes Strafurteil allein wegen eines Besetzungsfehlers aufgehoben und in der Folge die gesamte Hauptverhandlung – mit erheblichen Mehrbelastungen sowohl für die Strafjustiz als auch für den Angeklagten – wiederholt werden muss (BGH a.a.O.). Mit Blick auf diesen Normzweck und im Sinne der Intentionen des Gesetzgebers sind unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Anforderungen hohe, weitgehend den Rügeanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechende Anforderungen an den Inhalt des Besetzungseinwands zu stellen (BGH a.a.O.). Nichts anderes ergibt sich auch nach der Neueinführung des § 222b Abs. 3 StPO durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 05.11.2019. Ziel auch dieser Neuregelung war ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien durch die Einführung des Vorabentscheidungsverfahrens Besetzungsrügen schon vor oder zu Beginn der Hauptverhandlung abschließend durch ein höheres Gericht bescheiden zu lassen, um Urteilsaufhebungen im Revisionsverfahren aufgrund von Falschbesetzungen zu vermeiden, ohne dass die Gesetzesbegründung Anhaltspunkte dafür bietet, dass ein von der bisherigen Rechtslage abweichender Darlegungs- oder Prüfungsmaßstab vom Gesetzgeber gewollt war (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 05.11.2019, BTDrucks. 19/14747).

Unter Anwendung revisionsrechtlicher Maßstäbe sind die den Besetzungsmangel begründenden Tatsachen in dem Besetzungseinwand ohne Bezugnahmen und Verweisungen anzugeben. Die Verfahrenstatsachen sind so vollständig und genau anzugeben, dass allein auf Grundlage dieses als richtig unterstellten Vortrages dem Senat eine Entscheidung möglich ist. Eine Bezugnahme auf Anlagen zur Antragsschrift ist demgegenüber unzulässig, denn es ist nicht Aufgabe des Rechtsmittelgerichts, das Vorbringen an der passenden Stelle zu ergänzen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 7.5.2018 ? 2 RBs 61/18 – beck online; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 344 Rn. 21).

Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen genügt das Vorbringen den Anforderungen des § 222b Abs. 1 S. 2 StPO i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO nicht. Insbesondere enthält die Rüge keine Angaben dazu, an welchen konkreten Tagen die Kammer Fortsetzungstermine anberaumt hat. Das Rügevorbringen beschränkt sich insoweit darauf, mitzuteilen, dass zehn Hauptverhandlungstermine in der Zeit zwischen dem 04.05.2022 und dem 24.06.2022 bestimmt worden seien, von welchen der Termin am 25.05.2022 nachträglich aufgehoben worden und ein weiterer Termin am 02.06.2022 anberaumt worden sei. Um die Entscheidungen über die Entbindung die Schöffinnen infolge der von ihnen mitgeteilten Abwesenheiten überprüfen zu können, ist dem Senat jedoch die Kenntnis darüber, inwieweit Fortsetzungstermine in die jeweiligen Zeiträume fallen, erforderlich.

Ferner gibt die Rüge auch die Mitteilung des „Urlaubstermins“ durch die Schöffin B, auf welche diese in ihrer Email vom 24.01.2022 Bezug nimmt nicht wieder, bzw. führt gegebenenfalls nicht aus, dass es eine solche Mitteilung nicht gab. Auch dies wäre für die Überprüfung des Rügevorbringens erforderlich gewesen.

2. Der Besetzungseinwand ist zudem auch unbegründet. Die Entbindungen der Hauptschöffin und der Hilfsschöffin sind nicht zu beanstanden.

Nach §§ 77 Abs. 3, 54 Abs. 1 GVG kann der Vorsitzende einer Strafkammer des Landgerichts einen Schöffen auf dessen Antrag wegen eingetretener Hinderungsgründe von der Dienstleistung an bestimmten Sitzungstagen entbinden. Ein Hinderungsgrund liegt vor, wenn der Schöffe an der Dienstleistung durch unabwendbare Umstände gehindert ist oder wenn ihm die Dienstleistung nicht zugemutet werden kann.

Ob einem Schöffen die Dienstleistung im Sinne von § 54 Abs. 1 S. 1 GVG zugemutet werden kann, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei ist – zur Wahrung des Rechts auf den gesetzlichen Richter – ein strenger Maßstab anzulegen (OLG Hamm, Beschluss vom 28. 5. 2001 – 2 Ss 400/01 – juris). Hierbei stellt Erholungsurlaub eines Schöffen in der Regel einen Umstand dar, der zur Unzumutbarkeit der Dienstleistung führt (vgl. BGH, Beschluss vom 8.5.2018 ? 5 StR 108/18 – beck online). Berufliche Gründe hingegen rechtfertigen nur ausnahmsweise die Verhinderung eines Schöffen (vgl. BGH, Beschluss vom 02.05.2018 – 2 StR 317/17 – beck online).

Der Senat überprüft die Ermessensentscheidungen des Vorsitzenden lediglich am Maßstab der Willkür (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 17.03.2020 – 2 Ws 36/20 – juris; KG, Beschluss vom 27. April 2020 – 4 Ws 29/20 -, juris; Ritscher, in: BeckOK zur StPO, 41. Edition Stand: 01.04.2022, § 222b Rn. 16; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 222b Rn. 19). Dies hat der Bundesgerichtshof unter Geltung der alten Rechtslage vor Novellierung des § 222b StPO durch das am 13.12.2019 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10.12.2019 mit Blick auf § 54 Abs. 3. S. 1 GVG, 336 S. 2 Alt. 1 StPO klargestellt (vgl. BGH, Beschluss vom 05. August 2015 – 5 StR 276/15 -, juris). Dieser im bisherigen Revisionsrecht bestehende Prüfungsmaßstab hat auch nach Neueinführung des § 222b Abs. 3 StPO weiterhin Geltung und ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 16. Dezember 2021 – 2 BvR 2076/21 – juris; OLG Hamm a.a.O.; Ritscher in: BeckOK a.a.O.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.).

Willkür in diesem Sinne liegt dabei nicht erst bei einer bewussten Fehlentscheidung, sondern bereits dann vor, wenn die mit der Entbindung des Schöffen verbundene Bestimmung des gesetzlichen Richters grob fehlerhaft ist und sich so weit vom Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie nicht mehr gerechtfertigt erscheint (vgl. BGH, Urteil vom 14.12.2016- 2 StR 342/15 -, juris). Dies ist hier nicht der Fall.

Dies gilt zunächst für die Entscheidung, dass der Hauptschöffin B infolge ihres Erholungsurlaubs die Dienstleistung in der Hauptverhandlung vom 04.05.2022 mit den Fortsetzungsterminen nicht zumutbar war. lm Falle von Erholungsurlaub eines Schöffen liegt die Annahme von Willkür ohnehin fern (vgl. BGH, Beschluss vom 8.5.2018 ? 5 StR 108/18 – beck online). Vorliegend hat der Vorsitzende sich zudem durch telefonische Nachfrage zusätzliche Erkenntnisse verschafft und sich so hinsichtlich der Dauer und des Grundes für die Unverschiebbarkeit des Urlaubs (bereits gebuchter Auslandsurlaub mit der Familie) versichert. Dass in den Entbindungsbeschluss sodann versehentlich die Daten der Urlaubsreise der Hauptschöffin (An- und Abreisetag) als Daten der Hauptverhandlungstermine, an welchen diese verhindert sei, eingetragen wurden, wie der Vorsitzende in seiner dienstlichen Stellungnahme vom 04.05.2022 ergänzend erläutert hat, stellt nicht infrage, dass der Vorsitzende seine Entscheidung auf der richtigen Tatsachengrundlage getroffen hat, zumal die offensichtliche Unrichtigkeit sich bereits daraus ergibt, dass am angegebenen 27.05.2022 überhaupt kein Fortsetzungstermin anberaumt war und die Daten den An- und Abreisetagen entsprechen. Soweit seitens der Verteidigung darauf hingewiesen wurde, dass die dienstliche Stellungnahme an sie nicht übersandt worden sei, ergibt sich aus dem Beschluss der Kammer vom 04.05.2022, dass diese in der Hauptverhandlung am selben Tag verlesen worden ist, was die Verteidigung in ihrem Vorbringen bestätigt. Einer zusätzlichen Übersendung bedurfte es daher nicht.

Ebenso wenig stellt sich die Entscheidung, der Hilfsschöffin A sei die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar, als willkürlich dar. Die Hilfsschöffin hatte mitgeteilt, sich am Fortsetzungstermin am 19.05.2022 mit ihrem Sohn im Urlaub befinden und Buchungsbestätigungen für die Flüge vorgelegt, wobei sich hieraus ergab, dass die Schöffin am Terminstag bereits früh morgens abreisen würde. Die Beurteilung des Kurzurlaubs anlässlich eines Geburtstags als Erholungsurlaub stellt sich jedenfalls nicht willkürlich dar. Sie ist vielmehr naheliegend. Die von der Verteidigung vorgebrachte Argumentation, aus § 7 Abs. 2 BUrlG sei zu schließen, dass von Erholungsurlaub erst ab einem Urlaub von zwölf aufeinanderfolgenden Werktagen auszugehen sei, geht fehl. Die vorgenannte Vorschrift bestimmt vielmehr, dass bei einem Arbeitnehmer, der Anspruch auf Urlaub von mehr als zwölf Werktagen hat, ein Urlaubsteil mindestens zwölf Werktage umfassen muss. Daraus folgt aber, dass der andere Urlaubsteil gerade einen geringeren Umfang haben kann.

Schließlich sind auch die Entscheidungen des Vorsitzenden, in beiden Fällen die Schöffinnen von der Dienstleistung insgesamt zu entbinden und die jeweiligen Fortsetzungstermine nicht zu verlegen, nicht als willkürlich anzusehen. Unabhängig davon, ob eine Pflicht hierzu überhaupt angenommen werden kann (ablehnend etwa OLG Hamm, Beschluss vom 17.03.2020 – 2 Ws 36/20 – juris), war dies jedenfalls vorliegend angesichts dessen, dass ein umfangreiches Beweisprogramm bereits vorbereitet und Zeugen für jeden Fortsetzungstermin geladen waren – was im Rahmen des Rügevorbringen ebenfalls nicht dargestellt worden ist -, unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen nicht geboten.

Die Entbindungsentscheidungen des Kammervorsitzenden genügten – ergänzt durch den Vermerk des Kammervorsitzenden vom 27.01.2022 – auch dem Dokumentationserfordernis des § 54 Abs. 3 S. 2 GVG. Dass es sich bei den in der Entbindungsentscheidung der Schöffin B angegebenen Daten um einen offensichtlichen Fehler handelt, ergibt sich – wie oben ausgeführt – bereits durch einen Abgleich mit den festgesetzten Terminen. Der Vorsitzende hat dies zudem durch seine dienstliche Stellungnahme vom 04.05.2022 ergänzend erläutert. Dass es sich um die Urlaubsdaten der Schöffin handelte, hätte sich außerdem durch die – im Rügevorbringen fehlende – Vorlage der Mitteilung der Schöffin über die Daten ihres Urlaubs – wie in deren Email in Bezug genommen – ergänzend überprüft werden können. Die Entscheidung betreffend die Hilfsschöffin A bedurfte vor dem Hintergrund der mitgeteilten Abwesenheit aufgrund eines Urlaubs im Ausland keiner weiteren Begründung.“

StPO I: Erkenntnisse aus längerfristiger Observation, oder: FoF ist nicht von „erheblicher Bedeutung“

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Heute dann ein Tag mit „StPO-Entscheidungen“.

An der Spitze steht das OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.05.2022 – III-2 RVs 15/22, das sich mit der Frage der Verwendung von einer bei einer längerfristigen Observation festgestellten Umstände in anderen Verfahren befasst. In dem Verfahren ist dem Angeklagten zur Last gelegt worden, am 27. Januar 2021 gegen 10:57 Uhr in Duisburg auf der pp. Straße den Pkw Opel Tigra, amtliches Kennzeichen pp., geführt zu haben, ohne im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein. Dies sei dem Angeklagten auch bewusst gewesen. Er sei zu einer Hauptverhandlung bei dem Amtsgericht Duisburg-Hamborn gefahren, bei der er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden sei.

Das AG hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen, weil die Erkenntnisse zu dem Tatvorwurf bei einer längerfristigen Observation in anderer Sache erlangt worden seien und deshalb in dem diesem Verfahren ein Beweisverwertungsverbot bestehe.

Dagegen die Revision der StA, die das OLG Düsseldorf zurückweist:

„…

b) Die Ermittlungsmaßnahme der längerfristigen Observation unterfällt der Verwendungsbeschränkung des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO.

Die Anordnung der längerfristigen Observation erfordert zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ begangen worden ist (§ 163f Abs. 1 Satz 1 StPO). Es handelt sich damit im Sinne des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO um eine Maßnahme, die „nur bei Verdacht bestimmter Straftaten“ zulässig ist.

Das Kammergericht (Beschluss vom 20. Dezember 2018, 3 Ws 309/18, bei juris = NStZ 2019, 429) hat zu dem inhaltsgleichen § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. mit ausführlicher Begründung dargelegt, dass der Terminus „bestimmte Straftaten“ nicht nur konkret und enumerativ aufgeführte Katalogtaten, sondern auch generalklauselartig umschriebene Delikte wie etwa eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ erfasst. Dieser Bewertung tritt der Senat bei.

So gelten die Verfahrensregeln für verdeckte Maßnahmen gemäß § 101 Abs. 1 StPO auch für die längerfristige Observation. Durch die Pflicht, dass personenbezogene Daten, die durch solche verdeckten Maßnahmen erhoben wurden, nach § 101 Abs. 3 StPO entsprechend zu kennzeichnen sind, soll nach dem Willen des Gesetzgebers gerade sichergestellt werden, dass die für eingriffsintensive verdeckte Ermittlungsmaßnahmen geltenden Verwendungsbeschränkungen beachtet werden (vgl. BT-Drucksache 16/5846 S. 3 zu § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO a.F.). Daraus geht klar hervor, dass der Gesetzgeber die Verwendung von personenbezogenen Daten, die durch längerfristige Observation bei dem Verdacht einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ erlangt wurden, den Beschränkungen des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO unterwerfen wollte (vgl. auch: Henseler NZV 2020, 423).

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat, dass das Merkmal einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ Grundrechtseingriffe im Strafverfahren einer hinreichend bestimmten Begrenzung unterwirft. Eine solche Straftat muss mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BVerfG NJW 2001, 879, 880; NJW 2003, 1787, 1791; NJW 2005, 1338, 1339).

Genügt das in § 163f Abs. 1 Satz 1 StPO bezeichnete Merkmal einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ mithin auf der Eingriffsebene den Anforderungen an die Normenklarheit und Tatbestandsbestimmtheit, ist es nur folgerichtig, die Regelung des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO, die für die Verwendungsbeschränkung auf eine „nur bei Verdacht bestimmter Straftaten“ zulässige Maßnahme abstellt, auch auf eine derart umschriebene Straftat anzuwenden.

c) Die gesetzlichen Verwendungsbeschränkungen können bei Zufallserkenntnissen nicht mit der Erwägung umgangen werden, dass dieselben personenbezogenen Daten auch durch weniger eingriffsintensive Maßnahmen hätten erlangt werden können. Maßgeblich ist stets, aufgrund welcher Ermittlungsmaßnahme die Zufallserkenntnisse tatsächlich gewonnen wurden. Anderenfalls würden die gesetzlichen Verwendungsbeschränkungen häufig leerlaufen. So kann etwa dann, wenn an einer nach § 111 StPO eingerichteten Kontrollstelle ein Kraftfahrzeugführer ohne die erforderliche Fahrerlaubnis angetroffen wurde, nicht darauf abgestellt werden, dass derselbe Sachverhalt auch bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle (§ 36 Abs. 5 StVO) hätte festgestellt werden können.

Soweit von Teilen der Literatur zufällige Erkenntnisse zu anderen Straftaten, die durch eine längerfristige Observation (§ 163f StPO) erlangt wurden, ohne nähere Begründung als uneingeschränkt verwertbar angesehen werden (vgl. von Häfen in: BeckOK, StPO, 42. Edition 2022, § 163f Rdn. 15; Moldenhauer in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019; § 163f Rdn. 31), steht dies in Widerspruch zu § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO.

So ist die Erwägung, dass sich bei einer längerfristigen Observation strafrechtlich relevante Beobachtungen zu anderen, nicht von der Anordnung erfassten Tathandlungen zuweilen gar nicht vermeiden ließen und deshalb wie Ergebnisse kurzfristiger Observationen gemäß § 163 Abs. 1 StPO zu behandeln seien (vgl. von Häfen a.a.O), nicht überzeugend. Zufallserkenntnisse können sich bei sämtlichen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen ergeben. Es kommt auch nicht in Betracht, die längerfristige Observation, die tatsächlich durchgeführt wurde, fiktiv auf die weniger eingriffsintensive Stufe einer einfachen Observation zu reduzieren (vgl. Günther in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2016, § 163f Rdn. 33). Maßgeblich ist nach § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 Satz 1 StPO, ob die längerfristige Observation auch zur Aufklärung der zufällig entdeckten Straftat hätte angeordnet werden dürfen (vgl. LG Braunschweig StV 2019, 320, 321 = BeckRS 2018, 41459; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 163f Rdn. 11; Erb in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018; § 163f Rdn. 18; Zöller in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 6. Aufl. 2019, § 163f Rdn. 12; Ambos in: Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2022, § 163f StPO Rdn. 2).

d) Die Anordnung der längerfristigen Observation wäre zur Aufklärung eines Vergehens nach § 21 Abs. 1 StVG nicht zulässig gewesen. Denn bei vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis handelt es sich nicht – wie gemäß § 163f Abs. 1 StPO erforderlich ist – um eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“.

Eine Straftat hat – wie oben bereits dargelegt (II.1.b) – „erhebliche Bedeutung“, wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Dies setzt voraus, dass der Gesetzgeber der Straftat allgemein ein besonderes Gewicht beimisst und sie im konkreten Fall erhebliche Bedeutung hat (vgl. BVerfG NJW 2003, 1787, 1791; BGH NStZ 2014, 281).

Der Strafrahmen des § 21 Abs. 1 StVG reicht von Geldstrafe bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe. Bei dieser geringen Strafrahmenobergrenze, die sich etwa auch bei Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB) findet, hat der Gesetzgeber dem Delikt schon allgemein kein besonderes Gewicht beigemessen (vgl. KG NStZ 2019, 429, 431). Zwar liegen im konkreten Fall erschwerende Umstände vor, die in der Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft aufgezeigt worden sind. So ist der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis mehrfach vorbestraft, wobei er zur Tatzeit am 27. Januar 2021 wegen der einschlägigen Verurteilung vom 13. Mai 2019 unter laufender Bewährung stand. Auch stellt es eine besondere Dreistigkeit dar, dass der Angeklagte mit einem Pkw ohne die erforderliche Fahrerlaubnis zu dem Hauptverhandlungstermin vom 27. Januar 2021 gefahren ist, bei dem er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer weiteren Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Da allein die Hinfahrt zum Amtsgericht Duisburg-Hamborn Gegenstand der Anklage ist, sei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass er zur Tatzeit entgegen dem Revisionsvorbringen nicht zweifach unter laufender Bewährung stand. Ungeachtet dessen ändern die erschwerenden Tatumstände nichts daran, dass vorliegend eine geringe Strafrahmenobergrenze von einem Jahr Freiheitstrafe gilt. Für die Annahme einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ fehlt es bereits an der Voraussetzung, dass der Gesetzgeber der Straftat allgemein ein besonderes Gewicht beimisst. Dass die Straftat auch im konkreten Fall erhebliche Bedeutung hat, muss ggf. hinzutreten.

Nach alledem war das Amtsgericht gemäß § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 Satz 1 StPO gehindert, die Zufallserkenntnisse aus der längerfristigen Observation zur Aufklärung des Tatvorwurfs zu verwenden. Ein „hypothetischer Ersatzeingriff“ wäre nicht zulässig gewesen.“

OWi III: In der Umweltzone wird ohne Plakette geparkt, oder: Halterhaftung?

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Urheber Jojo659

Und zum Schluss des Tages habe ich dann noch eine Entscheidung des AG Marburg, die ich mir beim Kollegen Gratz vom VerkehrsRechtsBlog „geklaut“ habe.

Es handelt sich um den AG Marburg, Beschl. v. 24.01.2022 – 52 OWi 45/21 – zur Frage der Kostentragungspflicht des Halters nach § 25a Abs. 1 StVG im Falle des Fehlens einer Umweltplakette an einem geparkten Fahrzeug. Das AG Marburg geht in dem Beschluss jetzt davon aus, dass den Halter die Kostentragungspflicht trifft:

„Die Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 StVG, wonach dem Fahrzeughalter die Kosten des wegen eines Halt- oder Parkverstoßes eingeleiteten Bußgeldverfahrens aufzuerlegen sind, sofern der Fahrzeugführer nicht mit angemessenem Aufwand vor Ablauf der Verfolgungsverjährungsfrist ermittelt werden kann, liegen vor. Angesichts der untergeordneten Bedeutung des Parkverstoßes hat die Verwaltungsbehörde mit der Versendung des Anhörungsbogens an den Betroffenen den gebotenen Aufwand zur Ermittlung des Fahrers betrieben. In Ansehung seiner Antwort auf dieses hat es der Versendung eines Erinnerungsschreibens nicht mehr bedurft. Weitere Nachforschungen wären unangemessen
gewesen.

Die von dem Betroffenen gegenüber der Verwaltungsbehörde sowie im Rahmen der Antragsbegründung erhobenen Einwände verfangen nicht. Namentlich gilt dies auch mit Blick auf den von ihm angeführten – nicht von dem jetzt zur Entscheidung berufenen Richter erlassenen – Beschluss des Amtsgerichts Marburg vom 25.02.2018 – 52 OWi 2/18. Das Oberlandesgericht Düsseldorf, dessen Beurteilung sich das Gericht uneingeschränkt anschließt, hat zwischenzeitlich mit Beschluss vom 26.02.2020 – IV-2 RBs 1/20, DAR 2020, 468 – judiziert, dass eine verbotene Teilnahme am Verkehr auch dann gegeben ist, wenn ein Kraftfahrzeug ohne (gültige) Plakette im Sinne von § 3 der 35. BImSchV (“Umweltplakette”) in einer Umweltzone lediglich abgestellt war, und die damit gegenüber dem Kraftfahrzeugführer gemäß §§ 24 StVG, 41 Abs. 1 Anl. 2 (VZ 270.1 u. 270.2), 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, Nr. 153 BKat bußgeldbewehrte Zuwiderhandlung gegenüber dem Fahrzeughalter als Halte- bzw. Parkverstoß eine der Kostentragungsregelung des § 25a Abs. 1 S. 1 StVG unterfallende Anlassordnungswidrigkeit darstellt (ebenso zuletzt etwa AG Hannover, Beschluss vom 30.04.2020 – 210 OWi 194/20, NZV 2020, 373; AG Köln, Beschluss vom 02.05.2019 – 813 OWi 5/19 [b], NZV 2019, 651 Ls.). Gegensätzliche obergerichtliche Rechtsprechung ist nicht ersichtlich (s. zuvor bereits OLG Hamm, Beschluss vom 24.09.2013 – III-1 RBs 135/13, NZV 2014, 52).“

OWi II: (Un)Wirksamkeit des Bußgeldbescheides, oder: Nur bei wesentlichen Mängeln

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Und dann als zweite Entscheidung hier der OLG Brandenburg, Beschl. v. 30.05.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 144/22. Nicht Besonderes, sondern nur Festschreibung der Rechtsprechung zur Wirksamkeit des Bußgeldbescheides:

„b) Der Bußgeldbescheid vom 21. Dezember 2020 bildet entgegen der Auffassung des Betroffenen eine wirksame Verfahrensgrundlage.

Mängel des Bußgeldbescheides sind im gerichtlichen Verfahren unbeachtlich, wenn der Bescheid nicht unwirksam ist (OLG Düsseldorf VRS 1978, 440; Göhler, OWiG, 18. Auflage, vor § 65, Rz. 9). Unwirksam ist der Bußgeldbescheid nur bei schwerwiegenden Mängeln, liegen solche vor, ist das Verfahren mangels Vorliegens einer Prozessvoraussetzung gemäß §§ 36 Abs. 1 OWiG, 206a, 260 StPO einzustellen (Göhler a. a. O.).

Einen in diesem Sinne schwerwiegenden Mangel weist der verfahrensgegenständliche Bußgeldbescheid nicht auf. Er würde nur dann das Tatgeschehen nicht ausreichend begrenzen, wenn Zweifel über die Tatidentität möglich wären, also nicht eindeutig wäre, welcher Lebensvorgang zur Entscheidung des Gerichts gestellt ist (BGHSt 23, 336; 39, 291; OLG Hamburg wistra 1998, 278; OLG Düsseldorf DAR 1999, 275; Göhler a. a. O., zu § 66, Rz. 39). Die tatsächliche und rechtliche Bezeichnung der Tat gemäß § 66 Abs. 1 Ziff. 3 OWiG soll die Beschuldigung eindeutig kennzeichnen. Wesentlich für die Bezeichnung ist deshalb, dass der Betroffene erkennen kann, welches Tun oder Unterlassen den Gegenstand des Verfahrens bildet, gegen welchen Vorwurf er daher seine Verteidigung richten muss (Göhler a. a. O., Rz. 12). Es kommt darauf an, wie wahrscheinlich es ist, dass der Betroffene zu der angegebenen Zeit und in dem angegebenen Raum weitere gleichartige Ordnungswidrigkeiten verübt hat und eine Verwechselungsgefahr besteht (BGH a. a. O.; Göhler a. a. O., Rz. 12). Gemessen hieran ist der Bußgeldbescheid ausreichend, wenn nach seinem Inhalt kein Zweifel über die Tatidentität bestehen kann, also feststeht, welchen Sachverhalt er erfasst und ahnden soll (BayObLG VRS 1978, 36; NZV 1998, 515; OLG Köln DAR 2018, 338). Ein offensichtlicher Irrtum in der Bezeichnung des Zeitpunktes oder des Ortes der Tat ist unschädlich (OLG Stuttgart Die Justiz 1978, 477; OLG Hamm GA 1972, 60; NZV 2004, 317; Göhler a. a. O., Rz. 39). Bei einer falschen Ortsbezeichnung kommt es darauf an, ob es sich um ein offensichtliches Missverständnis handelt. Ergeben die näheren Umstände zweifelsfrei, welcher Ort gemeint ist, bildet der Bußgeldbescheid eine ausreichende Verfahrensgrundlage (OLG Hamm NZV 1992, 283; OLG Düsseldorf NZV 2000, 89; Göhler a. a. O., Rz. 43).

So liegt der Fall hier. Jedenfalls nach der richterlichen Aufklärung durch Einholung einer dienstlichen Stellungnahme des Messbeamten ergibt sich aus dem Akteninhalt zweifelsfrei, dass sich die Messstelle auf Höhe des Kilometers 3,6 befand und nur in das Messprotokoll versehentlich Kilometer 3,2 eingegeben worden war.

Bedenken hinsichtlich der Beschilderung und des Abstandes der Messstelle zu dieser ergeben sich daraus nicht.“

OWi I: Verhüllungsverbot und Tragen eines Niqabs, oder: Religionsfreiheit im Straßenverkehr

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Author Manuelfb55

Heute dann ein bisschen OWi. Derzeit ist es in dem Bereich recht ruhig. Hoffentlich ist das nicht die Ruhe vor dem berühmten/berüchtigten Stum (?).

Den Opener mache ich mit dem OLG Düsseldorf, Beschl. v. 07.06.2022 – IV-2 RBs 73/22. Das AG hat die Betroffene wegen „vorsätzlichen Führens eines Kraftfahrzeugs mit verdecktem Gesicht“ zu einer Geldbuße verurteilt. Bei der Betroffenen handelt es sich um eine gläubige Muslima. Sie trug zur Tatzeit beim Führen ihres Pkw einen Niqab, d. h. eine das Gesicht bis auf die Augenpartie verhüllende Vollverschleierung. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die das OLG zugelassen hat, die dann aber ohne Erfolg geblieben ist:

„Die allein auf die Sachrüge gestützte Rechtsbeschwerde ist unbegründet.

1. Der Schuldspruch weist keinen Rechtsfehler auf.

Gemäß § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO darf, wer ein Kraftfahrzeug führt, sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass es nicht mehr erkennbar ist. Gegen das Gesichtsverhüllungsverbot hat die Betroffene vorsätzlich verstoßen, indem sie als Kraftfahrzeugführerin einen Niqab getragen hat.

a) Diese Verbotsnorm ist wirksam. Sie verstößt auch unter Berücksichtigung der durch Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG geschützten Religionsfreiheit und Religionsausübung nicht gegen den Wesentlichkeitsvorbehalt, wonach der parlamentarische Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen in allen grundlegenden normativen Bereichen selbst zu treffen hat (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 26. November 2020, 6 L 2150/20, bei juris = BeckRS 2020, 33205; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 8. Januar 2021, 14 L 1537/20, bei juris = BeckRS 2021, 55).

Das VG Düsseldorf hat dazu ausgeführt:

„Die Verpflichtung, beim Führen von Kraftfahrzeugen das Gesicht weder zu verhüllen noch sonst zu verdecken, führt zu keiner gezielten oder unmittelbar den Schutzbereich der Religionsfreiheit betreffenden Beschränkung. Sie stellt vielmehr eine generelle Anordnung dar, die nur in seltenen Fällen mit der Religionsfreiheit kollidieren kann. Auch in etwaigen Konfliktfällen ist die Intensität des Eingriffs in der Regel gering, weil das Verhüllungsverbot nur das Führen eines Kraftfahrzeuges betrifft und die Religionsausübung damit nur in einer eng begrenzten und für die Religionsfreiheit typischerweise nicht wesentlichen Lebenssituation eingeschränkt sein kann.“

Aus diesen Erwägungen, denen sich der Senat anschließt, bedarf das Gesichtsverhüllungsverbot für Kraftfahrzeugführer ebenso wenig einer unmittelbaren Ausgestaltung durch den parlamentarischen Gesetzgeber wie etwa die Schutzhelmpflicht für Motorradfahrer (§ 21a Abs. 2 Satz 1 StVO), die auch für Personen gilt, die aus religiösen Gründen einen Turban tragen (vgl. hierzu: BVerwG NJW 2019, 3466).

b) Die Regelung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO verstößt auch sonst nicht gegen höherrangiges Recht und ist mit dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG vereinbar.

Durch das Gesichtsverhüllungsverbot wird niemand an der Ausübung seines Glaubens gehindert. Bei Befolgung der von ihr als verbindlich erachteten Vollverschleierungspflicht (Niqab) muss die Betroffene, die nicht über eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO verfügt, allerdings auf das Führen eines Kraftfahrzeugs verzichten. Die Regelung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO kann sie daher mittelbar in ihrer Religionsausübung beeinträchtigen.

Zwar enthält Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt, so dass sich Einschränkungen aus der Verfassung selbst ergeben müssen. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen indes die Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl. statt aller: BVerfG NJW 2020, 1049, 1051 m.w.N.). Die Sicherheit des Straßenverkehrs stellt einen solchen Gemeinschaftswert von Verfassungsrang dar (vgl. BVerfG BeckRS 2018, 3247 = ZfS 2018, 230; OVG Münster NJW 2021, 2982, 2984; VG Düsseldorf BeckRS 2020, 33205).

Das durch § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO angeordnete Gesichtsverhüllungsverbot dient in repressiver Hinsicht dem Ziel, die Erkennbarkeit und damit die Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen zu sichern, um diese bei Verkehrsverstößen heranziehen zu können. Dazu heißt es in der Begründung des Verordnungsgebers (Bundesrat-Drucksache 556/17, S. 2):

„In Deutschland ist der Halter für ein schuldhaftes Fehlverhalten des Kraftfahrzeugführers nicht verantwortlich. Die Verantwortlichkeit des Kraftfahrzeugführers bei einer automatisierten Verkehrsüberwachung („Blitzerfoto“) nachzuweisen fällt immer dann schwer, wenn das Gesicht verdeckt oder verhüllt ist. Zur Gewährleistung einer effektiven Verkehrsüberwachung, die mehr und mehr automatisiert durchgeführt wird, ist es daher geboten, für die das Kraftfahrzeug führende Person ein Verbot der Verhüllung und Verdeckung wesentlicher Gesichtsmerkmale auszusprechen, welches die Feststellbarkeit der Identität von vornherein gewährleistet.“

Damit kommt der Regelung zugleich eine präventive Schutzfunktion zu. Denn ein Kraftfahrzeugführer, der damit rechnen muss, dass er anhand eines automatisiert erstellten Messfotos für einen Verkehrsverstoß (insbesondere bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, Missachtung des Rotlichtes oder Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands) zur Verantwortung gezogen wird, wird sich eher verkehrsgerecht verhalten als derjenige, der unter Verhüllung seines Gesichts unerkannt am Straßenverkehr teilnimmt. Mit dieser Zielsetzung dient § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer (vgl. BVerfG BeckRS 2018, 3247 = ZfS 2018, 230; OVG Münster NJW 2021, 2982, 2984; VG Düsseldorf BeckRS 2020, 33205).

Der Verordnungsgeber erfüllt durch das Gesichtsverhüllungsverbot eine staatliche Schutzpflicht. Die Regelung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO ist schon mit Blick auf den bezweckten präventiven Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer gerechtfertigt.

Die Tragfähigkeit weiterer Gesichtspunkte (Gewährleistung von Rundumsicht und nonverbaler Kommunikation), die in der Verwaltungsrechtsprechung zur Rechtfertigung des Gesichtsverhüllungsverbots ergänzend angeführt worden sind (vgl. VG Düsseldorf BeckRS 2020, 33205; kritisch: Rebler/Huppertz NZV 2021, 127, 128 f.), bedarf daher keiner Erörterung.

c) Besonderen individuellen Gründen des Kraftfahrzeugführers kann im Einzelfall durch Erteilung einer Ausnahmegenehmigung (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StVO) Rechnung getragen werden. Über eine solche Ausnahmegenehmigung verfügte die Betroffene zur Tatzeit (und auch danach) nicht.“