Archiv für den Monat: Mai 2022

Straßenbahnnotbremsung wegen „Rotsünder-Pkw“, oder: Haftet der „Rotsünder“ für Fahrgastverletzungen?

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Die zweite Entscheidung, das LG Berlin, Urt. v. 31.03.2022 – 44 O 340/21, das mir der Kollege Säverin aus Berlin geschickt hat,  behandelt einen Fall, der in der Praxis häufiger vorkommen dürfte.

Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde. Die Klägerin fährt in einer Straßenbahn der Linie M4 der Berliner Verkehrsbetriebe. Wegen eines bei Rot in eine Kreuzung einfahrenden Pkw muss die Straßenbahn scharf bis zum Stillstand bremsen. Die Klägerin behauptet, durch die Vollbremsung habe ein anderer Fahrgast das Gleichgewicht verloren und sei gegen ihr rechtes Knie gefallen, sie sei verletzt worden. Wegen der insoweit ggf. entstehenden Schäden nimmt sie sie Haftpflichtversicherung des Pkw in Anspruch und hat damit beim LG Erfolg:

„Die Verletzung der Klägerin wurde bei dem Betrieb des bei der Beklagten versicherten Pkw verursacht. Das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Vorschrift weit auszulegen. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG umfasst daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe. Es genügt, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat und das Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden ist. Ob dies der Fall ist, muss mittels einer am Schutzzweck der Haftungsnorm orientierten wertenden Betrachtung beurteilt werden. An diesem auch im Rahmen der Gefährdungshaftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang fehlt es, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos halten will. Für eine Zurechnung zur Betriebsgefahr kommt es maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht. Allerdings hängt die Haftung gemäß § 7 StVG nicht davon ab, ob sich der Führer des im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs verkehrswidrig verhalten hat, und auch nicht davon, dass es zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen ist. Diese weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ entspricht dem weiten Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG und findet darin ihre innere Rechtfertigung. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist sozusagen der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kfz – erlaubterweise – eine Gefahrenquelle eröffnet wird, und will daher alle durch den Kfz- Verkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist dem-gemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kfz entstanden, wenn sich von einem Kfz ausge-hende Gefahren ausgewirkt haben. Allerdings reicht die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Insbesondere bei einem sogenannten „Unfall ohne Berührung“ ist daher Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat, mithin, dass das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (BGH, Urteil vom 22. November 2016 — VI ZR 533/15 —, Rn. 11 – 14, juris).

Hier ist unstreitig, dass das bei der Beklagten versicherte Fahrzeug durch seine Verkehrsbeeinflussung den Zeugen pp. zum abrupten Abbremsen der Straßenbahn veranlasste.

Der Umstand, dass die Verletzung der Klägerin durch einen stürzenden anderen Fahrgast verursacht wurde, steht der Zurechenbarkeit zum Betrieb des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs nicht entgegen. Dies gilt selbst dann, wenn dieser Fahrgast sich nicht ausreichend festgehalten haben sollte. Für die haftungsrechtliche Würdigung von Fallgestaltungen, in denen die Schädigung erst durch die Handlung eines Dritten eintritt, hat der Bundesgerichtshof Beurteilungsgrundsätze entwickelt. Danach kann, wenn ein Schaden zwar bei rein naturwissenschaftlicher Betrachtung mit der Handlung des Schädigers in einem kausalen Zusammenhang steht, dieser Schaden jedoch entscheidend durch ein völlig ungewöhnliches und unsachgemäßes Verhalten einer anderen Person ausgelöst worden ist, die Grenze überschritten sein, bis zu der dem Erstschädiger der Zweiteingriff und dessen Auswirkungen als haftungsausfüllender Folgeschaden seines Verhaltens zugerechnet werden können. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten. Hat sich aus dieser Sicht im Zweiteingriff nicht mehr das Schadensrisiko des Ersteingriffs verwirklicht. war dieses Risiko vielmehr schon gänzlich abgeklungen und besteht deshalb zwischen beiden Eingriffen bei wertender Betrachtung nur ein „äußerlicher“. gleichsam „zufälliger“ Zusammenhang. dann kann vom Erstschädiger billigerweise nicht verlangt werden, dem Geschädigten auch für die Folgen des Zweiteingriffs einstehen zu müssen. Allein ein – auch grob fahrlässiger – Sorgfaltspflichtverstoß des hinzutretenden Dritten reicht hierfür jedoch in der Regel nicht aus (BGH, Urteil vom 26. März 2019 — VI ZR 236/18 —, Rn. 12, juris).

Hier verwirklichte sich mit dem Sturz des anderen Fahrgastes die mit dem Abbremsen der Straßenbahn typischerweise verbundene Gefahr, die wiederum durch die verkehrswidrige Fahrweise des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs verursacht worden war. Damit steht der Sturz des anderen Fahrgastes in einem engen inneren Zusammenhang mit dem Fahrmanöver des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs.

Ein Mitverschulden der Klägerin nach § 9 StVG, § 254 BGB ist nicht anzunehmen. Es wird von der insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten nicht aufgezeigt, wie die Klägerin hätte verhindern sollen, dass ein anderer Fahrgast gegen sie fällt. Ob die Klägerin sich ausreichend festgehalten hat ist unerheblich, weil ihre Verletzung nicht dadurch verursacht wurde, dass sie selbst stürzte.“

Verkehrsunfall an „beidseitiger Fahrbahnverengung“, oder: Wer hatte Vorfahrt?

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Im „Kessel Buntes“ heute zwei Entscheidungen zum Unfallrecht. Zunächst stelle ich hier das BGH, Urt. v. 08.03.2022 – VI ZR 47/21 – vor, über das ja auch schon in der Tagespresse berichtet worden ist. Problematik bzw. das Urteil nimmt Stellung zu der Frage, wer an einer „Beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) Vorfahrt hat.

Der Sachverhalt ist recht einfach. Vor dem Unfall fahren ein Pkw und ein LKW auf der gleichen Straße. Der Pkw fährt auf der rechten Fahrbahn, der Lkw auf der linken. Hinter einer Ampel wird die Straße einspurig, auf der Fahrbahn ist die Stelle mit dem Zeichen für „beidseitige Fahrbahnverengung“ markiert. Der LKw-Fahrer zieht den Lkw nach rechts, weil er den Pkw übersehen hat. Es kommt zur Kollision mit dem Pkw, weil dessen Führern davon ausgegangen, war, dass sie Vorfahrt habe. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt. Der Schaden am Pkw wird von der Haftpflichtversicherung des Lkw auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50:50 reguliert. Das reicht dem Halter aber nicht.

Das AG hat die auf Zahlung der Differenz zu einer hundertprozentigen Haftung der beklagten Versicherung des Lkw gerichteten Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das LG zurückgewiesen. Die Revision hatte beim BGH keinen Erfolg.

„2. Ohne Erfolg wendet sich die Revision ferner gegen die vom Berufungsgericht auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen vorgenommene hälftige Haftungsverteilung.

a) Die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG ist – wie im Rahmen des § 254 BGB – grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurteile vom 15. Mai 2018 – VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 10; vom 11. Oktober 2016 – VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn. 7; jeweils mwN). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurteile vom 15. Mai 2018 – VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 10; vom 11. Oktober 2016 – VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn. 7; jeweils mwN).

b) Nach diesen Grundsätzen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden.

aa) Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120) allein das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO) gilt und sich auch bei zwei gleichauf in die Engstelle fahrenden Fahrzeugen kein regelhafter Vortritt des rechts fahrenden Fahrzeugs ergibt.

(1) Das Allgemeine Gefahrenzeichen 120 („Verengte Fahrbahn“) nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO signalisiert eine Verengung der Fahrbahn. Im Falle der Verengung von zuvor zwei auf nunmehr nur noch einen Fahrstreifen gibt es – anders als beim Zeichen 121 („Einseitig verengte Fahrbahn“) – nicht einen durchgehenden und einen endenden Fahrstreifen, sondern beide Fahrstreifen werden in einen Fahrstreifen überführt. Das Durchfahren der Engstelle ist daher für sich genommen nicht mit einem Fahrstreifenwechsel im Sinne des § 7 Abs. 5 StVO verbunden; auch greift das Reißverschlussverfahren des § 7 Abs. 4 StVO nicht unmittelbar. Die in der Verengung liegende und durch das Zeichen 120 signalisierte Gefahr führt jedoch zu einer erhöhten Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht der auf beiden Fahrstreifen auf die Engstelle zufahrenden Verkehrsteilnehmer im Sinne des § 1, § 3 Abs. 1 StVO (vgl. AG Düsseldorf, Schaden-Praxis 2012, 176, juris Rn. 16; Quarch in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVO Rn. 6; Heß in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl., § 7 StVO Rn. 19a; insoweit auch LG Hamburg, BeckRS 2018, 24345 Rn. 9 m. Anm. Bachmor, NZV 2019, 209; Lafontaine in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand 1.12.2021, § 40 StVO Rn. 106).

(2) Nichts anderes gilt auch dann, wenn beide Fahrzeuge gleichauf und mit gleicher Geschwindigkeit an die Engstelle gelangen. Auch in diesem Fall gebührt dem rechts fahrenden Fahrzeug nicht regelhaft der Vortritt (vgl. AG Düsseldorf, Schaden-Praxis 2012, 176, juris Rn. 16; Feskorn in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand 1.12.2021, § 7 StVO Rn. 26; aA LG Hamburg, BeckRS 2018, 24345 Rn. 9; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 7 StVO Rn. 20; Lafontaine in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand 1.12.2021, § 40 StVO Rn. 106).

(a) Das Gefahrenzeichen 120 enthält eine derartige Vorrangregelung nicht. Anders als die Revision meint, ergibt sich ein solcher Vorrang des rechts fahrenden Verkehrsteilnehmers auch nicht mittelbar aus einer Gesamtschau der insoweit relevanten Vorschriften der Straßenverkehrsordnung. Zwar ist grundsätzlich von zwei Fahrbahnen die rechte zu benutzen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 StVO) und auch darüber hinaus möglichst weit rechts zu fahren (§ 2 Abs. 2 StVO). Bei Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen in eine Richtung ist dieses Rechtsfahrgebot jedoch unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 und 3 StVO aufgehoben, so dass sich auch der auf dem linken Fahrstreifen der Engstelle nähernde Verkehrsteilnehmer grundsätzlich verkehrsgerecht verhält. Die Situation einer Kreuzung oder Einmündung, in der die Vorfahrt hat, wer von rechts kommt (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StVO), ist nicht vergleichbar.

(b) Einem Vorrang des rechts fahrenden Fahrzeugs stünde in systematischer Hinsicht auch der Vergleich mit der Konstellation des Zeichens 121 Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO („Einseitig verengte Fahrbahn“) entgegen. Im Fall der einseitigen Fahrbahnverengung muss das auf dem endenden Fahrstreifen fahrende Fahrzeug einen Fahrstreifenwechsel vornehmen (§ 7 Abs. 4 StVO), während das auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrende Fahrzeug einen grundsätzlichen Vorrang genießt. Besteht bei der einseitigen Fahrbahnverengung links ein Vorrang des auf dem rechten Fahrstreifen fahrenden und bei der einseitigen Fahrbahnverengung rechts ein Vorrang des auf dem linken Fahrstreifen fahrenden Fahrzeugs, weil sich diese jeweils auf dem durchgehenden Fahrstreifen befinden, während der andere Fahrstreifen endet, ist es folgerichtig, bei der beidseitigen Fahrbahnverengung keinem der beiden Fahrzeuge gegenüber dem jeweils anderen regelhaft einen Vorrang einzuräumen.

(3) Im Ergebnis hat daher keines der beiden Fahrzeuge den Vorrang und sind die Fahrzeugführer gehalten, sich unter gegenseitiger Rücksichtnahme (§ 1 StVO) darüber zu verständigen, wer als erster in die Engstelle einfahren darf (Feskorn in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand 1.12.2021, § 7 StVO Rn. 26). Gelingt die Verständigung nicht, sind sie dazu verpflichtet, im Zweifel jeweils dem anderen den Vortritt zu lassen.

bb) Nach all dem ist das Berufungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass sowohl der Beklagte zu 2 als auch die Zeugin S. gegen ihre Pflicht zur erhöhten Rücksichtnahme verstoßen haben. Der Beklagte zu 2 hat die Fahrbahnverengung nicht aufmerksam genug befahren und deshalb das klägerische Fahrzeug nicht gesehen. Die Zeugin S. ist zu Unrecht von eigener Vorfahrt ausgegangen und hat daher sorgfaltswidrig darauf vertraut, das links neben ihr fahrende Beklagtenfahrzeug werde sich hinter ihr in die von ihr befahrene rechte Spur einfädeln.

cc) Die Abwägung der festgestellten Verursachungsbeiträge sowie die darauf beruhende Festsetzung der konkreten Haftungsquote als solche obliegt dem Tatrichter und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Soweit sich die Revision gegen die Gewichtung der Betriebsgefahren wendet, erhebt sie keine ordnungsgemäß ausgeführte Verfahrensrüge gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, es stehe nicht fest, dass sich eine erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs im Streitfall ausgewirkt habe.“

Ich habe da mal eine Frage: Kann ich ggf. auch die Grundgebühr Nr. 4100 VV abrechnen?

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Und dann zum Tagesschluss noch die Gebührenfrage, und zwar heute mal wieder eine verkehrsstrafrechtliche Fragestellung betreffend; die Frage stammt aus der FB-Gruppe „Strafverteidiger“.

„…

Ich soll für den Mandanten eine Sperrfristverkürzung beantragen. Bisher war ich für ihn nicht tätig, insbesondere nicht im Hauptsacheverfahren. Fällig wird wohl 4204, wobei ich mich auch frage, ob in diesem Fall nicht sogar eine Einzeltätigkeit vorliegt.

Frage: Wenn 4204, kann ich dann hier grundsätzlich auch die Grundgebühr abrechnen, weil ich ja bislang noch nicht tätig war?

Ablehnung der Auslieferung nach Polen als unzulässig, oder: Werden Kosten und/oder Auslagen erstattet?

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Bei der zweiten Entscheidung, die ein etwas abgelegeneres Rechtsgebiet betrifft, handelt es sich um den OLG Celle, Beschl. v. 21.02.2022 – 2 AR (Ausl) 67/21. Am Aktenzeichen kann man erkennen: Es geht um ein Auslieferungsverfahren. In dem ist die Auslieferung des Verfolgten nach Polen als unzulässig abgelehnt worden. Der Verfolgte beantragt dann, die Kosten des Verfahrens der Landeskasse aufzuerlegen. Der Antrag hat beim OLG keinen Erfolg:

„Der Antrag des Verfolgten war abzulehnen, weil eine Kosten- oder Auslagenentscheidung nicht veranlasst ist. Auch für eine Entschädigungsentscheidung für erlittene Auslieferungshaft fehlt eine Grundlage.

1. Nach ganz herrschender Rechtsprechung kommt in Auslieferungsverfahren eine Erstattung notwendiger Auslagen auf der Grundlage von § 77 IRG i.V.m. §§ 467, 467a StPO in entsprechender Anwendung allenfalls in Betracht, wenn bereits ein Antrag auf Feststellung der Zulässigkeit der Auslieferung nach § 29 IRG gestellt worden war (BGH, Beschluss vom 17. Januar 1984 – 4 ARs 19/83, BGHSt 32, 221; OLG Celle, Beschluss vom 14.06.2010 – 1 Ausl 7/10, juris; OLG Koblenz, MDR 1983, 691; OLG Köln, NStZ-RR 2000, 29; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 252 und StV 2007, 151; OLG Frankfurt am Main vom 4. Oktober 2007, 2 Ausl A 53/07). Erst dieser hat – wie die Erhebung einer zur unmittelbaren Anwendung von §§ 467, 467a StPO führenden Anklage – zur Folge, dass in einem Auslieferungsverfahren eine gerichtliche Entscheidung in der Sache zu ergehen hat (BGH, Beschluss vom 9. Juni 1981, 4 ARs 4/81, BGHSt 30, 152 noch zur – im Ergebnis vergleichbaren – Rechtslage nach dem bis zum Erlass des IRG geltenden § 25 DAG).

Zwar hat die Generalstaatsanwaltschaft mit ihrer Zuschrift vom 8. Februar 2022 beim Senat beantragt, über die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten zu entscheiden. Dieser Antrag war indes nicht geeignet, die Folge einer Auslagenerstattung auszulösen. So, wie die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft regelmäßig mit dem Ziel einer Verurteilung des Angeschuldigten erfolgt, muss mit einem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft nach § 29 Abs. 1 IRG, der für den Fall der Ablehnung der Zulässigkeit die Kostenfolge der §§ 467, 467a StPO auslöst, von dieser mit ihrem Antrag vertreten werden, dass die Auslieferung zum Zeitpunkt der Antragstellung weiterhin zulässig ist. Dies folgt schon daraus, dass für die Generalstaatsanwaltschaft regelmäßig, jedenfalls im Rechtshilfeverkehr mit Nicht-EU-Staaten, kein Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Zulässigkeitsentscheidung besteht, wenn sie die vom ersuchten Staat begehrte Auslieferung ihrerseits nicht für bewilligungsfähig hält (Schomburg/Lagodny/Riegel, 6. Aufl. 2020, IRG § 29 Rn. 2, 5). Dementsprechend kommt eine Auslagenerstattung nicht in Betracht, wenn die Generalstaatsanwaltschaft ihrerseits wie hier die Auslieferung bereits für unzulässig hält und lediglich – aus welchem Grund auch immer – eine gerichtliche Bestätigung ihrer Rechtsauffassung begehrt.

Vorliegend hat die Generalstaatsanwaltschaft ausweislich der Begründung ihrer Zuschrift vom 8. Februar 2022 ausdrücklich begehrt, die Auslieferung aufgrund eines aus der deutschen Staatsangehörigkeit des Verfolgten gemäß § 9 Nr. 2 IRG folgenden Auslieferungshindernisses für unzulässig zu erklären. Hierzu war sie – unabhängig von der Frage, ob dies verfahrensrechtlich geboten ist – entsprechend den Ausführungen in der Antragsschrift jedenfalls aus behördeninternen Gründen aufgrund eines Erlasses des Niedersächsischen Justizministeriums verpflichtet. Hintergrund hierfür wiederum ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, wonach vollstreckende Justizbehörden im Sinne des Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (Rb-EuHB) weisungsunabhängig sein müssen (EuGH, Urteil vom 24 November 2020 – C-510/19), was auf deutsche Staatsanwaltschaften im Lichte der §§ 146, 147 GVG nicht zutrifft (vgl. insoweit bereits EuGH, Urteil vom 27. Mai 2019 – C-508/18). Ob deutsche Staatsanwaltschaften auf Grundlage dieser Rechtsprechung im Auslieferungsverkehr auf Grundlage des Rb-EuHB auch nicht mehr eigenständig entscheiden dürfen, ob eine Auslieferung – wie vorliegend – offenkundig unzulässig ist, ist umstritten und Gegenstand einer bislang nicht entschiedenen Anrufung des Bundesgerichtshofes durch den Senat (Beschluss vom 7. Mai 2021 – 2 AR (Ausl) 26/21). Sofern die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Notwendigkeit der Weisungsunabhängigkeit der vollstreckenden Justizbehörde dazu führen sollte, dass nach nationalem Recht nicht mehr die Generalstaatsanwaltschaften, sondern die Oberlandesgerichte über die Unzulässigkeit einer Auslieferung entscheiden müssen, ist nicht erkennbar, warum dies einen Einfluss auf einen Auslagenerstattungsanspruch des Verfolgten haben könnte. Bei ablehnender Entscheidung bereits durch die Generalstaatsanwaltschaft ist ein solcher Anspruch unzweifelhaft nicht gegeben. Daran kann sich nichts ändern, weil nunmehr – möglicherweise – das Oberlandesgericht entscheiden muss. Die Frage der Unabhängigkeit der Justizbehörden hat mit der Frage der Auslagenerstattung des Verfolgen nichts zu tun.

Unabhängig von der Beantwortung dieser Rechtsfrage war der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ersichtlich nicht darauf gerichtet, die Auslieferung des Verfolgten – entsprechend einer mit dem Ziel der Verurteilung erhobenen Anklage – durch den Senat für zulässig erklären zu lassen. Dementsprechend ist für eine Auslagenerstattung entsprechend der §§ 467, 467a StPO vorliegend kein Raum.“

Gerichtsgebühren für die erfolglose Anhörungsrüge, oder: Altes oder neues Recht

Heute ist RVG- bzw. Gebührentag, also Entscheidungen, die mit Gebühren, Kosten und Auslagen zu tun haben. Und in dem Zusammenhang stelle ich heute zwei Entscheidungen vor, die sich mit etwas abgelegeneren Fragen befassen.

Das ist zunächst der BFH, Beschl. v. 16.12.2022 – X S 16/21 u.a. Der nimmt Stellung zur Frage, in welcher Höhe für eine nach dem 31.12.2020 bei Gericht eingegangene –ohne Erfolg gebliebene– Anhörungsrüge die Festgebühr festzusetzen ist. Altes Recht, also 60 EUR oder neuen Recht, also 66 EUR. Es geht um die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für eine vom Kläger beabsichtigte Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Urteil eines Finanzgerichts. Der entsprechende Antrag ist abgelehnt worden. Dagegen hat der  Antragsteller/Kläger Anhörungsrüge erhoben, die keinen Erfolg hatte. Die Anhörungsrüge ist nach dem 1.1.2021 eingegangen, also nach Wirksamwerden der Rechtsänderungen durch das KostRÄG 2021. Der BFH sagt: Anwendbar ist aber dennoch altes Recht:

„1. Für erfolglose Anhörungsrügen sieht das Kostenverzeichnis in Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG) eine Festgebühr vor (vgl. Nr. 6400 des Kostenverzeichnisses zum GKG). Diese Festgebühr greift auch dann ein, wenn —wie vorliegend— mit der Anhörungsrüge ein Verfahren wegen PKH-Bewilligung fortgesetzt werden soll, das seinerseits gerichtsgebührenfrei ist (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschlüsse vom 16.02.2006 ? VII S 2/06 , BFH/NV 2006, 1123, unter II.4.; vom 14.12.2006 ? VIII S 25/06 , BFH/NV 2007, 923, unter II.3., und vom 26.03.2014 ? XI S 1/14 , BFH/NV 2014, 1071, Rz 18).

2. Infolge der Änderung des GKG durch das Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 vom 21.12.2020 —KostRÄG 2021— (BGBl I 2020, 3229) ist nach Nr. 6400 des Kostenverzeichnisses zum GKG ab dem 01.01.2021 eine Festgebühr in Höhe von 66 € anzusetzen (vgl. Art. 1 Abs. 2 Nr. 108 , Art. 13 Abs. 3 KostRÄG 2021 ), bis zum 31.12.2020 fiel eine Festgebühr von 60 € an.

3. Im Streitfall beträgt die Festgebühr noch 60 €. Dies ergibt sich aus § 71 Abs. 1 Satz 1 GKG , wonach die Kosten in Rechtsstreitigkeiten, die vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung anhängig geworden sind, nach dem bisherigen Recht erhoben werden. Der Antragsteller hat zwar die Anhörungsrüge X S 16/21 erst am 20.07.2021 beim BFH angebracht. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der PKH-Bewilligungsantrag, gegen dessen Ablehnung sich die vorliegende Anhörungsrüge richtet, bereits am 13.09.2019 beim BFH eingegangen ist.

a) Zwar hat der Senat Anhörungsrügen in der Vergangenheit als selbständige Verfahren der FGO und damit als eine Rechtsstreitigkeit i.S. des § 71 1 Satz 1 GKG angesehen und damit auf die Anhängigkeit der Anhörungsrüge abgestellt ( Beschlüsse vom 31.01.2014 ? X S 57/13 , BFH/NV 2014, 871, Rz 10, und vom 20.05.2014 ? X S 11/14 , BFH/NV 2014, 1754, Rz 13, m.w.N.). Diese Qualifikation als selbständiges Verfahren wird allerdings dem Wesen einer Anhörungsrüge nicht gerecht, die eine nachträgliche Selbstkontrolle des Gerichts und eine die Rechtskraft der bereits getroffenen Entscheidung beiseiteschiebende Fortsetzung des Verfahrens ermöglicht (so Rüsken inGosch, FGO § 133a Rz 11). Die Regelungen des § 133a FGO sind hierfür der Beleg: Nach dessen Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 FGO führt das Gericht bei begründeter Anhörungsrüge das Verfahren fort. Das Verfahren wird nach § 133a Abs. 5 Satz 2 FGO in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung befand.

b) Zudem ist der Senat in einem Entschädigungsklageverfahren wegen überlanger Verfahrensdauer gemäß § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) davon ausgegangen, dass eine sich an ein isoliertes Verfahren auf PKH-Bewilligung anschließende Anhörungsrüge ein Rechtsbehelf ist, der auf die Fortführung des ursprünglichen Verfahrens gerichtet ist ( Urteil vom 20.03.2019 ? X K 4/18 , BFHE 263, 498, BStBl II 2020, 16, Rz 36). Er hat damit die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) bestätigt, nach der ein Anhörungsrügeverfahren kein selbständiges Verfahren ist, sondern dem Hauptsacheverfahren hinzugerechnet wird und somit Teil eines einheitlichen Gerichtsverfahrens i.S. von § 198 6 Nr. 1 GVG ist ( BGH-Urteil vom 21.05.2014 ? III ZR 355/13 , Neue Juristische Wochenschrift 2014, 2443, Rz 12). Nach Auffassung des Senats ist kein Grund erkennbar, den Begriff der Rechtsstreitigkeit i.S. von § 71 Abs. 1 Satz 1 GKG und den des einheitlichen Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG in diesem Zusammenhang unterschiedlich auszulegen.

c) Aus alledem ergibt sich, dass der Senat —unter Aufgabe seiner in den Entscheidungen in BFH/NV 2014, 871 [BFH 31.01.2014 – X S 57/13] und BFH/NV 2014, 1754 [BFH 20.05.2014 – X S 11/14] vertretenen Auffassung— die vorliegende Anhörungsrüge als Teil eines einheitlichen Verfahrens (hier des unter dem Aktenzeichen pp. geführten PKH-Bewilligungsverfahrens) ansieht. Demzufolge ist nach § 71 1 Satz 1 GKG noch das bis zum 31.12.2020 gültige Kostenrecht anzuwenden. Nichts anderes ergibt sich aus § 71 Abs. 1 Satz 2 GKG . Danach kommt im Verfahren über ein Rechtsmittel, das nach dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung eingelegt worden ist, abweichend von Satz 1 das im Zeitpunkt seiner Einlegung geltende Recht zur Anwendung. Die Anhörungsrüge gemäß § 133a FGO ist aber mangels Devolutiv- und Suspensiveffekts kein Rechtsmittel, sondern lediglich ein subsidiärer Rechtsbehelf (vgl. Senatsurteil in BFHE 263, 498, BStBl II 2020, 16 [BFH 20.03.2019 – X K 4/18] , Rz 36; Bergkemper inHHSp, § 133a FGO Rz 3,8).“

Die Argumentation könnte auch in anderen Verfahren helfen.