Archiv für den Monat: Dezember 2021

Durchsuchung III: Beschlagnahme von Steuerakten, oder: Beschlagnahme-/Verwertungsverbot?

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Und als dritte Entscheidung heute dann noch der LG Koblenz, Beschl. v. 25.05.2021 – 10 Qs 30/21. Thematik Beschlagnahme/Beschlagnahme-/Verwertungverbot hinsichtlich beschlagnahmter Steuer- und Steuerstrafverfahrensakten.

Dazu das LG:

„e) Letztendlich steht der Beschlagnahme auch kein Beschlagnahmeverbot entgegen. Auch wenn hier keine Sperrerklärung nach § 96 StPO vorliegt, gebietet § 30 1 AO dem Amtsträger im Grundsatz die Wahrung des Steuergeheimnisses, was an sich zu einem Beschlagnahmeverbot von Steuerakten führt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 08.01.1991, Az.: 3 Ws 552/90, BeckRS 1991, 119326). Vorliegend ist die Offenbarung jedoch nach § 30 Abs. 4 Nr. 5 b) AO zulässig, sodass die Herausgabe der begehrten Steuerakten das Steuergeheimnis nicht verletzen würde.

Nach § 30 Abs. 5 Nr. 5 b) AO ist die Offenbarung oder Verwertung vom Steuergeheimnis geschützter Daten zulässig, soweit für sie ein zwingendes öffentliches Interesse besteht, das namentlich gegeben ist, wenn Wirtschaftsstraftaten verfolgt werden oder verfolgt werden sollen, die nach ihrer Begehungsweise oder wegen des Umfangs des durch sie verursachten Schadens geeignet sind, die wirtschaftliche Ordnung erheblich zu stören oder das Vertrauen der Allgemeinheit auf die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs oder auf die ordnungsgemäße Arbeit der Behörden und der öffentlichen Einrichtungen erheblich zu erschüttern. Hier handelt es sich bei dem zu verfolgenden Delikt des Subventionsbetruges um eine Wirtschaftsstraftat, was sich aus § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 GVG ergibt. Zwar ist die Tat hier bei einem alleinigen Abstellen auf den Schaden in Höhe von 9.000,00 EUR nicht geeignet, die wirtschaftliche Ordnung erheblich zu stören oder das Vertrauen der Allgemeinheit auf die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs oder auf die ordnungsgemäße Arbeit der Behörden und der öffentlichen Einrichtungen erheblich zu erschüttern. Jedoch liegt hier eine Begehungsweise vor, die diese Eignung aufweist. Wie bereits ausgeführt, kann gerade der Subventionsbetrug bezüglich der sog. Corona-Soforthilfe einen (unbenannten) besonders schwerer Fall begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 04.05.2021, Az.: 6 StR 137/21, zit. nach juris). Dies hat der Bundesgerichtshof u.a. mit dem Ausnutzen eines Soforthilfeverfahrens in einer deutschlandweiten Notlage begründet. Auf dieser Linie liegt auch die Rechtsprechung des Landgerichts Aachen (vgl. Beschluss vom 16.11.2020, Az.: 86 Qs 19/20, wistra 2021, 126), der sich die Kammer anschließt. Die Ausgestaltung des Soforthilfeverfahrens mit dem damit verbundenen (ganz erheblichen) Vertrauensvorschuss in die gesamte Bevölkerung in der Krisensituation und dessen Ausnutzung ist ohne weiteres zumindest geeignet, das Vertrauen der Allgemeinheit auf die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs erheblich zu erschüttern. Somit verstößt die Offenbarung bzw. Herausgabe der Akten nach § 30 Abs. 5 Nr. 5 b) AO nicht gegen die Pflicht zur Wahrung des Steuergeheimnisses aus § 30 Abs. 1 AO.

Zudem wäre eine Offenbarung der nach § 30 AO geschützten Verhältnisse ebenfalls zulässig nach § 31a Abs. 1 Nr. 2 AO, da sie für die Geltendmachung eines Anspruchs auf Rückgewähr einer Leistung aus öffentlichen Mittel erforderlich ist. Soll eine Entscheidung über die Bewilligung, Gewährung, Rückforderung, Erstattung, Weitergewährung oder Belassen einer Leistung aus öffentlichen Mitteln von der dafür zuständigen Behörde getroffen werden, hat die Finanzbehörde die ihr bekannten Informationen mitzuteilen, soweit dies für die Entscheidung erforderlich ist. Zuständig sind alle Behörden und Gerichte, die für die Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs zuständig sind und darüber hinaus können allen Behörden und Gerichten, die über Leistungen aus öffentlichen Mitteln entscheiden, Erkenntnisse übermittelt werden (vgl. Intemann in Koenig, AO, 3. Aufl. 2014, § 31a, Rn. 16). Zutreffend hat die Staatsanwaltschaft darauf hingewiesen, dass sie – zwingend (ohne Ermessen) – neben der Strafverfolgung wegen des Verdachts nach § 264 Abs. 1, Abs. 2 StGB auch über die Einziehung des Tatertrages nach §§ 73 ff. StGB zu entscheiden bzw. Maßnahmen zu treffen hat. Bei der Einziehung nach §§ 73 ff. StGB handelt es sich zwar nicht um den Rückgewähranspruch als solchen, sondern um einen quasibereicherungsrechtlichen Anspruch des Staates, der jedoch ganz eng mit diesem verbunden ist und letztendlich seiner Absicherung dient. Dies kommt nicht zuletzt in der Regelung des § 73e Abs. 1 StGB deutlich zum Ausdruck, wonach die Einziehung ausgeschlossen ist, soweit der Anspruch auf Rückgewähr erloschen ist. Zudem knüpft bereits § 73 Abs. 1 StGB konkret an das aus der Tat Erlangte an, mithin an den Gegenstand, der vom Rückgewähranspruch der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz erfasst wäre. Da dieser wegen seines Verbrauchs nicht mehr rückgabefähig ist, kann sich auch der originäre Rückabwicklungsanspruch nur in einen Bereicherungsanspruch umgewandelt haben, sodass ein wesentlicher struktureller Unterschied zur Einziehung nicht erkennbar ist. Infolge dieser engen Bindung an den Rückgewähranspruch und dem Umstand, dass es sich dabei um zwingendes Recht handelt, ist eine Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden für die Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs im konkreten Fall gegeben. Folglich ist eine Offenbarung bzw. Herausgabe der Steuerakten auch nach § 31a Abs. 1 Nr. 2 AO zulässig und stellt keinen Verstoß gegen das Steuergeheimnis aus § 30 Abs. 1 AO dar.“

Durchsuchung II: Durchsuchung bei Dritten, oder: Durchsuchung bei Rechtsanwälten

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem LG Stuttgart, Beschl. v. 04.11.2021 – 6 Qs 9/21 – geht es auch noch einmal um die Anforderungen an die Anordnung der Durchsuchung bei Dritten im Sinne von § 103 StPO, und zwar hier bei Rechtsanwälten.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, das die StA gegen die Beschuldigten L., I. K. und T. K. u.a. wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen das Insiderhandelsverbot führt. Der Beschuldigte L. ist Rechtsanwalt und Partner der Beschwerdeführerin, der C., die ihre Kanzleiräume in der S.-Straße in S. hat. Auf Antrag der StA hat das AG die Durchsuchung der Wohnräume des Beschuldigten L. in der C.-Straße in S. sowie seiner Geschäftsräume, der Kanzlei C. in der S.-Straße in S., jeweils einschließlich der auf dem Anwesen befindlichen Sachen, Behältnisse und Fahrzeuge, welche der Beschuldigte L. nutzen kann, angeordnet. Der Sicherstellung sollten auch elektronisch gespeicherte Daten und die zum sichtbar machen geeigneten Geräte unterfallen. Die Durchsuchungsanordnung ist dann ausgeführt worden, es sind verschiedene Gegenstände pp. sicher gestellt worden.

Dagegen hat sich die C gewandt, die mit ihrem Rechtsmittel teilweise Erfolg hatte:

„1. Die Anordnung der Durchsuchung war rechtmäßig. Die Voraussetzungen für den Erlass der Durchsuchungsanordnung gemäß §§ 102, 105 Abs. 1, 162 Abs. 1 und Abs. 2 StPO waren im allein maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses gegeben.

a) Es bestand ein Anfangsverdacht gegen die Beschuldigten L., I. K. und T. K. ….

b) Die Anordnung der Durchsuchung der Wohnräume und der Geschäftsräume des Beschuldigten L. in der Kanzlei C. ist nicht zu beanstanden.

aa) Der Begriff der Wohnung in § 102 StPO ist weit auszulegen. Darunter fallen auch nicht allgemein zugängliche Geschäfts- und Büroräume, die der Beschuldigte tatsächlich innehat (KK-StPO/Bruns, § 102 Rn. 8). Um einen solchen Raum handelt es sich jedenfalls bei dem persönlichen Büro des Beschuldigten L. nebst angeschlossenem Sekretariat.

Hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit der Anordnung der Durchsuchung weiterer Räume der Kanzlei ist zu differenzieren: Insoweit bleibt § 102 StPO dann maßgeblich, wenn weitere Personen lediglich Mitinhaber der tatsächlichen Herrschaft über die Räumlichkeiten sind. Wenn die Räumlichkeiten hingegen allein einer unbeteiligten Person zuzuordnen sind, ist § 103 StPO maßgeblich (BGH, NStZ 1986, 84, 85; OLG Köln, BeckRS 2018, 6002 Rn. 6).

Vor diesem Hintergrund handelt es sich nach Ansicht der Kammer auch bei den Archivräumen der Kanzlei um Geschäftsräume des Beschuldigten L., da dieser als Partner der Kanzlei an den Räumen Mitgewahrsam hatte. Soweit die Beschwerde die Rechtsansicht vertritt, es bedürfe hierzu der tatsächlichen Nutzung, eine rechtliche Nutzungsbefugnis reiche nicht aus (LR-StPO/Tsambikakis, 27. Auflage 2018, § 102 Rn. 54; Hiéramente, NStZ 2021, 390, 392), folgt die Kammer dem nicht. Der Mitgewahrsam besteht bereits dann, wenn der beschuldigte Partner der Sozietät den Archivraum als Informationsquelle für seine Tätigkeit in der Kanzlei nutzen darf und der Archivraum anderen Bediensteten der Kanzlei nicht exklusiv zugeordnet ist (LG Bonn, BeckRS 2011, 11803). Insoweit setzt Mitgewahrsam, also die (geteilte) tatsächliche Sachherrschaft, nicht voraus, dass in dem Archivraum eine bestimmte Anzahl von Unterlagen des beschuldigten Partners der Sozietät gelagert sind, vielmehr kommt es auf die potentielle Zugriffsmöglichkeit an. Diese besteht auch dann, wenn der beschuldigte Partner der Sozietät nicht jeden einzelnen Archivraum der räumlichen Lage nach kennt. Es genügt insoweit, dass der Partner der Sozietät unter Zuhilfenahme beispielsweise des ihm zugeordneten Sekretariatspersonals Zugriff auf die Räumlichkeiten und die darin gelagerten Unterlagen nehmen kann. Soweit dem pauschal „Gründe des effektiven Geheimnisschutzes“ entgegengehalten (LR-StPO/Tsambikakis, a.a.O.) oder „ausufernde Unternehmensdurchsuchungen“ besorgt (Hiéramente, a.a.O.) werden, überzeugt dies nicht. Insoweit erfolgt eine Begrenzung im Rahmen des Durchsuchungsprogramms, wie es auch das Bundesverfassungsgericht fordert (BVerfG, NJW 1976, 1735, 1736; 1994, 2079; 2005, 1917, 1920).

bb) Eine weitere Konkretisierung der zu durchsuchenden Räumlichkeiten war nicht geboten, denn es war zulässig, den Ermittlungspersonen Zugang zu allen Räumen zu gewähren, an denen der Beschuldigte L. zumindest Mitgewahrsam hatte. Welche Räume dies sein würden, konnte im Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses nicht abschließend beurteilt werden. Die insoweit von der Beschwerde geltend gemachten Erfahrungssätze zur Einrichtung von Anwaltskanzleien existieren nicht.

cc) Die Anordnung der Durchsuchung gegen den Beschuldigten L. war auch unter Berücksichtigung seiner beruflichen Stellung als Rechtsanwalt und des Umstandes, dass seine Kanzlei durchsucht werden sollte, nicht unverhältnismäßig.

Mildere, gleich wirksame Mittel, die vorzuziehen gewesen wären, sind nicht ersichtlich. Ein Herausgabeverlangen gemäß § 95 StPO kam nicht in Betracht. Die Pflicht zur Vorlage und Auslieferung trifft nur den Zeugen (KK-StPO/Greven, § 95 Rn. 2). Die Anordnung einer solchen Maßnahme gegenüber dem Beschuldigten L. kam daher von vornherein nicht in Betracht.

Es handelt sich, anders als die Beschwerde meint, auch keineswegs um einen Tatvorwurf von untergeordneter Bedeutung, der nach Opportunitätsvorschriften einzustellen wäre. Die Gewinne, die der Beschuldigte L. erzielt haben soll, sind mit ca. 15.000 € gerade nicht geringfügig, sondern machen einen fünfstelligen Betrag aus. Hinzu käme, dass die Tat, sofern sie nachgewiesen werden würde, in engem Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit des Beschuldigten L. als Rechtsanwalt stünde.

Die Anordnung ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil potentiell der Mitgewahrsam anderer Rechtsanwälte betroffen war. Insoweit waren die sicherzustellenden Unterlagen so genau bezeichnet, dass der Umfang der Maßnahme von vornherein auf ein Mindestmaß beschränkt war.

c) Eine wirksame Anordnung der Durchsuchung bei Dritten nach § 103 StPO enthält der Beschluss nicht.

Zwar zitiert die Beschlussformel auch § 103 StPO. Dies genügt jedoch für die wirksame Anordnung einer Durchsuchung bei unverdächtigen Dritten nicht. Es wird weder klar, gegen wen sich die Durchsuchung insoweit richten soll, noch ob die Voraussetzungen hierfür vorlagen und geprüft wurden.

aa) Als Dritte im Sinne von § 103 StPO kamen hier bereits nach Aktenlage im Zeitpunkt des Erlasses die Zeugen Rechtsanwälte S. und R. in Betracht. Diese werden im Beschluss aber weder namentlich als Betroffene nach § 103 StPO bezeichnet, noch wird die Durchsuchung der ihnen allein zuzuordnenden Räume ausdrücklich angeordnet. Zwar werden die Zeugen S. und R. im Tenor in Zusammenhang mit den aufzufindenden Beweismitteln genannt. Es handelt sich bei der Aufzählung potentieller Beweismittel um nicht mehr als eine Richtlinie für die Durchsuchung im Sinne einer gattungsmäßigen Umschreibung von Beweismitteln (Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, 64. Auflage 2021, § 98 Rn. 9). Ausdrücklich angeordnet wird lediglich die Durchsuchung der Geschäftsräume des Beschuldigten L. an der Geschäftsanschrift der Kanzlei C.

bb) Darüber hinaus fehlt es betreffend die Zeugen S. und R. aber auch an der Begründung einer solchen Anordnung der Durchsuchung. Die bei Rechtsanwälten gebotene besonders sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2015 – 2 BvR 497/12, BeckRS 2015, 45182) ist nicht erkennbar. Der Beschluss des Amtsgerichts verhält sich mit Blick auf die Zeugen S. und R. weder zu der nach § 103 StPO erforderlichen qualifizierten Auffindevermutung, noch zu der Frage, ob eine Durchsuchung bei diesen als Dritte verhältnismäßig ist.

cc) Diese Mängel können auch nicht im Beschwerdeverfahren geheilt werden.

Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass das Beschwerdegericht die Begründung des Erstgerichts ergänzt, allerdings setzt dies voraus, dass die Funktion der präventiven Kontrolle gewahrt bleibt (MüKoStPO/Hauschild, 1. Aufl. 2014, § 105 Rn. 41b; BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 2005 – 2 BvR 1108/03, BeckRS 2005, 24600). Die Heilung einer vollzogenen Durchsuchungsanordnung kommt somit nicht in Betracht, wenn diese dem mit der Begrenzungsfunktion des Durchsuchungsbeschlusses bezweckten Schutz des von der Durchsuchung Betroffenen zuwiderliefe (BVerfG, NJW 2009, 2518, 2520 f.). Letzteres wäre angesichts des gänzlichen Fehlens der Begründung der Fall. Es ist nicht nachvollziehbar, ob das Amtsgericht die Durchsuchung bei den Dritten S. und R. anordnen wollte und geprüft hat. Da bereits die Begründung im Beschwerdeverfahren nicht nachgeholt werden kann, kann erst recht nicht die Anordnung selbst nachgeholt werden.

dd) Da bereits keine Anordnung einer Durchsuchung nach § 103 StPO vorliegt, kann auch dahinstehen, ob ein Herausgabeverlangen gemäß § 95 StPO betreffend die Zeugen S. und R. ein milderes, gleich wirksames Mittel gewesen wäre. Die Kammer neigt aber zu der Ansicht, dass ein grundsätzlicher Vorrang des Herausgabeverlangens gegenüber einer Durchsuchung nach § 103 StPO auch bei einer Rechtsanwaltskanzlei nicht existiert (Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, § 103 Rn. 1a; LG Köln, wistra 2021, 37).

ee) Die L1 als Mandantin der Zeugen S. und R. ist nicht Dritte im Sinne von § 103 StPO. Die Vorschrift setzt nämlich voraus, dass es sich um eine Durchsuchung „bei“ der dritten Person handelt, dass also ihre Wohn- oder Geschäftsräume, ihre Person oder ihre Sachen durchsucht werden sollen. Bei den Kanzleiräumen von C. handelt es sich nicht um Geschäftsräume der L1 Insoweit käme nur eine Durchsuchung von Sachen, insbesondere Unterlagen, der L1 in Betracht. Jedoch gilt § 103 StPO nur für Sachen, die beim Nichtverdächtigen abgestellt sind. Im Umkehrschluss war die Anordnung der Durchsuchung, sofern sich die Sachen im Mitgewahrsam des Beschuldigten L. befanden, bereits von der Anordnung nach § 102 StPO gedeckt (vgl. KK-StPO/Bruns, § 102 Rn. 11).

2. Die Art und Weise der Durchsuchung war rechtswidrig, soweit Büroräume und E-Mail-Konten durchsucht wurden, die allein den Zeugen S. und R. zuzuordnen waren.

Insoweit fehlte es an der erforderlichen ermittlungsrichterlichen Anordnung nach §§ 103, 105 Abs. 1, 162 Abs. 1 und Abs. 2 StPO (siehe oben).

Im Übrigen war die Art und Weise der Durchsuchung nicht zu beanstanden. Soweit die Beschwerde vorträgt, es seien über 100 Rechtsanwälte betroffen gewesen, ist dies unzutreffend, denn die Anordnung der Durchsuchung betraf lediglich den Beschuldigten L. und Räume an denen dieser Mitgewahrsam hatte. Dass Unterlagen dritter Rechtsanwälte – mit Ausnahme der Zeugen S. und R. – erhoben oder durchgesehen worden wären, ist nicht ersichtlich.

a) Die vorläufige Sicherstellung der Asservate Nr. 1/1/1 und 1/2/1 bis 1/2/17 zur Durchsicht ist nach § 110 StPO rechtmäßig erfolgt. Eine solche setzt voraus, dass Papiere, worunter auch elektronische Aufzeichnungen und E-Mails auf dem Server des E-Mail-Providers fallen, im Gewahrsam des Betroffenen stehen ohne weiteres als Beweisgegenstand aufgrund des Durchsuchungsbeschlusses in Betracht kommen (KK-StPO/Bruns, § 110 Rn. 2 f.). Dies ist angesichts des im Beschluss vom 26. April 2021 enthaltenen Durchsuchungsprogramms für die genannten Asservate der Fall. Das Asservat 1/1/1 wurde im Büro des Beschuldigten L., die übrigen Asservate in den Archivräumen der Kanzlei erhoben, an denen der Beschuldigte L. Mitgewahrsam hatte.

b) Die vorläufige Sicherstellung des Asservats Nr. 1/3/1 ist rechtswidrig, soweit E-Mails der Zeugen S. und R. sichergestellt wurden. Eine Durchsuchung nach § 103 StPO wurde nicht angeordnet. Folglich kann auch keine Durchsicht nach § 110 StPO erfolgen, da diese Teil der Durchsuchung ist. Die Anordnung der Durchsuchung beim Beschuldigten L. nach § 102 StPO bietet insoweit keine hinreichende Grundlage, da dieser nicht zumindest Mitgewahrsam an den E-Mail-Postfächern der Zeugen S. und R. hatte.

Die E-Mails sind daher herauszugeben bzw. die elektronischen Kopien zu löschen, sofern keine richterliche Beschlagnahme durch das hierfür zuständige Amtsgericht angeordnet wird. Obwohl die Staatsanwaltschaft die richterliche Beschlagnahme bereits mit Schreiben vom 3. August 2021 beantragt hat, ist eine Entscheidung des Amtsgerichts insoweit noch nicht erfolgt.“

Ist ein bisschen viel, aber das LG musste ja auch einiges prüfen 🙂 .

Da sind die Änderungen der Wiederaufnahme, oder: Bundespräsident zweifelt an Vereinbarkeit mit GG

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So, außerhalb des Tagesprogramms dann ein Update, und zwar zu: Wo bleiben die Änderungen der Wiederaufnahme?, oder: Wie lange/gründlich prüft der Bundespräsident?

Das sind/waren die Änderungen zum – kurz gefasst – „Gesetz zur Herstellung der materiellen Geerechtigkeit“ mit der Änderung des § 362 StPO – also Erweiterung der Wiederaufnahme zu Lasten des Verurteilten. Das Gesetz war ja schon im September im Bundestag und Bundesrat beschlossen worden, danach war Ruhe.

Nun, so ganz wohl nicht. Wie man inzwischen hatte lesen können, hatte der  Bundespräsident dann betreffend die Neuregelung die „Verfassungstreue zur Strafprozessordnung an„gezweifelt. Er hat das Gesetz dann aber trotz seiner Bedenken am 21.12.2021 unterzeichnet, heute ist die Änderung im BGBl veröffentlicht worden, und zwar BGBl I. S. 5252. Damit treten die Änderungen dann morgen in Kraft.

Aber ganz zu Ende ist der Marathon noch nicht: Wie man an verschiedenen Stellen lesen konnte – vgl. hier die FAZ vom 22.12.2021 -, hatte der Bundespräsident „erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken“ gegen die Änderung der StPO. Und die Folge: „In einem Brief an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) bat der promovierte Jurist allerdings darum, „das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen“.“  Eine etwas pflaumenweiche Lösung, aber: Wenn die Bedenken nicht ausreichen, dann muss er wohl unterzeichnen.

Na ja, man wird sehen, was die Parteien im Bundestag nun noch machen. Die SPD war ja immerhin bei der Beschlussfassung auch Regierungspartei. Daher wird m.E. nicht viel passieren.

Letztlich wird wahrscheinlich das BVerfG das letzte Worte sprechen und die Vereinbarkeit der Neuregelung mit dem GG prüfen. Ob das vereinbar ist, kann man m.E. mit Recht bezweifeln.

Durchsuchung I: Verhältnismäßigkeitsanforderungen, oder: Durchsuchung beim Nichtverdächtigen/Zeugen

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Heute dann drei Entscheidungen zum Ermittlungsverfahren, alle drei stehen in Zusammenhang mit einer Durchsuchung.

Zunächst etwas von „ganz oben“, also etwas vom BGH, und zwar der BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – StB 6 u. 7/21 .

Gegen den Beschuldigten S. ist ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Mordes (§ 211 StGB) anhängig. In dem hat u.a. hat der Ermittlungsrichter des BGH am 24.11.2020 die Durchsuchung der von dem Beschwerdeführer/Zeugen genutzten Wohn- und Nebenräume, eines auf ihn zugelassenen Kraftfahrzeugs, seiner Person und seiner Sachen nach näher umschriebenen potentiellen Beweismitteln (3 BGs 717/20), mit Beschluss vom 28.01.2021 (3 BGs 48/21) die Durchsuchung eines weiteren auf den Betroffenen/Zeugen zugelassenen Kraftfahrzeugs angeordnet. Die Beschlüsse sind am 28.01.2021 vollzogen worden. Die Durchsicht der sichergestellten Beweismittel – vorwiegend Datenträger – dauert noch an.

Entsprechend der Verfügung des Ermittlungsrichters des BGH vom 25.01.2021 sind dem Zeugen bei Vollzug der Durchsuchungen zunächst lediglich Beschlussausfertigungen ohne Gründe ausgehändigt worden, um eine andernfalls drohende Gefährdung des Untersuchungszweckes zu vermeiden. Die Zurückstellung der Benachrichtigung war zunächst auf einen Monat ab Vollzug der Maßnahme befristet, ist dann aber mehrfach, jeweils um einen Monat verlängert worden, letztmals bis zum 28.09.2021. Die Zustellung der vollständigen Beschlussgründe an den Zeugen hat der GBA sodann am 28.09.2021 veranlasst. Im Anschluss daran ist dem Zeugen Gelegenheit eingeräumt worden, im Beschwerdeverfahren ergänzend vorzutragen.

Die Rechtsmittel des Zeugen hatten keinen Erfolg. Der BGH nimmt insbesondere zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchungsanordnung gegen einen nichtverdächtigen Betroffenen Stellung:

„cc) Die Durchsuchungsanordnungen stehen zum Grad des Tatverdachts und zur Bedeutung und Schwere der aufzuklärenden Straftat in einem angemessenen Verhältnis; sie waren insbesondere erforderlich.

(1) Eine Zwangsmaßnahme muss zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein. Das ist dann nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, in jedem Verfahrensstadium das jeweils mildeste Mittel anzuwenden (BVerfG, Beschluss vom 29. Februar 2012 – 2 BvR 1954/11, NJW 2012, 2096 Rn. 19). Die Durchsuchung bei einem Nichtbeschuldigten, der durch sein Verhalten auch aus der Sicht der Ermittlungsbehörden keinen Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben hat, stellt über die allgemeinen Erwägungen hinaus erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit (BVerfG, Beschluss vom 18. März 2009 – 2 BvR 1036/08, NJW 2009, 2518 Rn. 65 mwN). Deshalb ist nichtverdächtigen Betroffenen zumindest vor der Vollstreckung der Zwangsmaßnahme in der Regel Gelegenheit zur freiwilligen Herausgabe des sicherzustellenden Gegenstandes zu geben (MüKoStPO/Hauschild, § 103 Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 64. Aufl., § 103 Rn. 1a; SSWStPO/Hadamitzky, 4. Aufl., § 103 Rn. 9; KMR/Hadamitzky, StPO, 94. Lfg., § 103 Rn. 9; LG Kaiserslautern, Beschluss vom 19. März 1981 – 5 Qs 346/80, NStZ 1981, 438, 439; LG Mühlhausen, Beschluss vom 15. November 2006 – 6 Qs 9/06, wistra 2007, 195, 197; LG Saarbrücken, Beschluss vom 2. Februar 2010 – 2 Qs 1/10, NStZ 2010, 534, 535; LG Dresden, Beschluss vom 27. November 2013 – 5 Qs 113/13 u.a., NZI 2014, 236, 237; LG Hamburg, Beschluss vom 18. September 2018 – 608 Qs 26/18, juris Rn. 13 f.; enger: LR/Tsambikakis, StPO, 27. Aufl., § 103 Rn. 8; SK-StPO/Wohlers/Jäger, 5. Aufl., § 103 Rn. 16, die eine Durchsuchung ohne vorherige Aufforderung generell für rechtswidrig halten). Diese Abwendungsbefugnis ist regelmäßig in die Anordnungsentscheidung aufzunehmen (anders: SSW-StPO/Hadamitzky, 4. Aufl., § 103 Rn. 9; KMR/ Hadamitzky, StPO, 94. Lfg., § 103 Rn. 9; differenzierend: LG Hamburg, Beschluss vom 18. September 2018 – 608 Qs 26/18, juris Rn. 13 f.). Abhängig von den sich aus den bisherigen Ermittlungsergebnissen ergebenden tatsächlichen Umständen, insbesondere der Kooperationsbereitschaft bzw. -pflicht des Adressaten der Maßnahme (vgl. MüKoStPO/Hauschild, § 103 Rn. 16; LG Potsdam, Beschluss vom 8. Januar 2007 – 25 Qs 60/06, JR 2008, 260, 261; LG Dresden, Beschluss vom 27. November 2013 – 5 Qs 113/13 u.a., NZI 2014, 236, 237 zur Mitwirkungspflicht des unverdächtigen Insolvenzverwalters), kann es im Einzelfall sogar geboten sein, anstelle einer Durchsuchungsanordnung ein Herausgabeverlangen nach § 95 StPO als sanktionsfähige strafprozessuale Maßnahme vordringlich in Betracht zu ziehen. Ein solches kann sich insbesondere dann als gleich geeignet, indes weniger beeinträchtigend erweisen, wenn Gewissheit herrscht, dass sich ein beschlagnahmefähiger Beweisgegenstand im Gewahrsamsbereich eines herausgabepflichtigen Adressaten befindet, es zur Erlangung des Gegenstandes nicht auf einen Überraschungseffekt ankommt, die Maßnahme erfolgversprechend ist, das Gebot der Verfahrensbeschleunigung nicht entgegensteht und weder ein das Ermittlungsverfahren bedrohender Verlust der begehrten Sache zu befürchten ist noch etwaige Verdunkelungsmaßnahmen zu besorgen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. März 1994 – 2 BvR 396/94, NJW 1994, 2079, 2080 f.; LG Bonn, Beschluss vom 11. November 1982 – 37 Qs 116/82, NStZ 1983, 327 f.; LG Saarbrücken, Beschluss vom 2. Februar 2010 – 2 Qs 1/10, NStZ 2010, 534, 535; LG Dresden, Beschluss vom 27. November 2013 – 5 Qs 113/13 u.a., NZI 2014, 236, 237; vgl. SSW-StPO/ Hadamitzky, 4. Aufl., § 103 Rn. 9). Denn in diesem Fall würde schon das Erscheinen von Ermittlungsbeamten beim Herausgabepflichtigen eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung seiner Rechte darstellen (vgl. Bittmann, NStZ 2001, 231, 232). Umgekehrt kann die Gewährung einer Abwendungsbefugnis im Ausnahmefall dann entbehrlich sein, wenn sich aus den bisherigen Ermittlungsergebnissen Tatsachen ergeben, aus denen zu schließen ist, dass der Betroffene zur freiwilligen Mitwirkung nicht bereit ist und Verdunkelungsmaßnahmen zu besorgen sind. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Beweismittel nur der Gattung nach bestimmt werden können und begründeter Anlass zu der Vermutung besteht, der Pflichtige täusche die Ermittlungsbehörden durch die bewusste Herausgabe nur eines Teils der beweiserheblichen Gegenstände.

(2) Gemessen an diesen Maßstäben waren die Durchsuchungsanordnungen erforderlich; die Ermittlungsbehörde war nicht auf das mildere Mittel eines Herausgabeverlangens nach § 95 StPO zu verweisen. Mit Blick auf das bisherige Verhalten des Zeugen im Ermittlungsverfahren musste diesem durch den Ermittlungsrichter auch keine Abwendungsbefugnis eingeräumt werden. Der Betroffene hat – wie bereits dargelegt – schon frühzeitig signalisiert, nicht bereit zu sein, bei den Ermittlungen mitzuwirken, weil er ?kein Spitzel der Polizei? sein wolle. Seiner Vorladung zur Zeugenvernehmung ist er zunächst nicht nachgekommen. Unmittelbar nach seiner Vernehmung hat er den Beschuldigten aufgesucht und beteuert: „wenn alle dichthalten, kommt eh nichts raus“.

Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob das Fehlen einer an sich erforderlichen Abwendungsbefugnis im Durchsuchungsbeschluss durch eine entsprechende Maßnahme bei Vollzug der Anordnung geheilt werden kann (vgl. LG Hamburg, Beschluss vom 18. September 2018 – 608 Qs 26/18, juris Rn. 13 f.). Denn eine solche ist vorliegend nicht gegeben.“

Pflichti III: Entpflichtung des Sicherungsverteidigers, oder: Wenn der Sicherungsverteidiger nicht gehen darf

Und als letzten Beschluss zur Pflichtverteidigung in 2021 dann noch der OLG Celle, Beschl. v. 21.12.2021 – 5 StS 1/21. Er betrifft ein Verfahren wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung u.a.. In dem hat das OLG den Angeklagten am 25.10.2021 verurteilt. Gegen das Urteil hat der Wahlanwalt Revision eingelegt.

Nun hat der dem Angeklagten vom OLG bestellte Sicherungsverteidiger Aufhebung seiner Bestellung beantragt. Dieser war dem Angeklagten am 02.03.2021 als zusätzlicher, zweiter Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Zur Begründung dieser Entscheidung hatte der OLG darauf verwiesen, dass der Umfang der gesamten Verfahrensakten einschließlich aller Beiakten mehr als 80 Leitzordner nebst weiteren umfangreichen Strukturakten umfasse. Zudem werde dem Angeklagten ein Verstoß gegen § 18 AWG beruhend auf einer tatsächlichen Konstellation des Tatverdachts zur Last gelegt, die bislang soweit ersichtlich weder durch die Obergerichte noch durch den BGH entschieden worden sei.

Das OLG hat die Entbindung abgelehnt:

„Der Antrag von Rechtsanwalt P ist unbegründet. Zur Sicherung der Durchführung des Verfahrens ist die Mitwirkung von Rechtsanwalt P als zusätzlicher Pflichtverteidiger trotz Verkündung des Urteils erster Instanz und der konkludent in dem Entpflichtungsantrag enthaltenen Erklärung, an der Revisionsbegründungschrift und dem anschließenden Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof nicht mitwirken zu wollen, weiterhin iS von § 144 Abs. 1 StPO „erforderlich“.

Gemäß § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem gewählten oder gemäß § 141 StPO bestellten Verteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist.“ Aus ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut ergibt sich, dass Prämisse und zentrale Voraussetzung dieser Norm – neben den weiteren Voraussetzungen des Falles einer notwendigen Verteidigung und der bereits erfolgten Beauftragung bzw. Bestellung eines Verteidigers – ist, dass die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers zur Sicherung der Durchführung des Verfahrens erforderlich, mithin notwendig sein muss Eine die Durchführung des Verfahrens beschleunigende Wirkung muss der Beiordnung, wie die Verwendung des Adjektivs „zügig“ vermuten lassen könnte, hingegen nicht zukommen. Der Gesetzgeber dürfte hier vielmehr seiner Hoffnung Ausdruck verliehen haben, dass durch die Beiordnung das Verfahren auch weiterhin „zügig“ durchgeführt werden kann. Soweit der Gesetzgeber beispielhaft „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens anführt, hat er sich ersichtlich eines Regelbeispiels bedient und dabei einen der Hauptanwendungsfälle benannt, in welchem die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers in Frage kommt (vgl. Senatsbeschluss v. 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, BeckRS 2020, 8474).

Die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO liegen trotz des nach Urteilsverkündung nunmehr absehbaren Abschlusses des Verfahrens erster Instanz weiterhin vor. Aufgrund der Tatsache, dass Rechtsanwalt E eine nicht beschränkte Revision eingelegt hat, kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil aufgehoben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung sowohl über den Schuld- als auch den Rechtsfolgenausspruch an einen anderen Senat zurückverwiesen werden könnte. In diesem Fall müsste dem Angeklagten, würde dem Antrag von Rechtsanwalt P entsprochen und dieser jetzt entpflichtet, jedenfalls wegen des vorstehend unter I. skizzierten Umfangs des Verfahrens eventuell erneut ein zusätzlicher Pflichtverteidiger bestellt werden. Ob Rechtsanwalt P, der sich zwischenzeitlich in das umfangreiche Verfahren eingearbeitet hat, in diesem Fall abermals als solcher zur Verfügung stünde, kann nicht verlässlich vorhergesagt werden. Wäre dies nicht der Fall, müsste sich ein anderer zusätzlicher Pflichtverteidiger vor einer erneuten Verhandlung erst in das sehr umfangreiche Verfahren einarbeiten, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer – durch die Aufrechterhaltung der Beiordnung von Rechtsanwalt P – vermeidbaren Verzögerung führen würde.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem vorstehend aufgezeigten Verfahrensgang lediglich um einen möglichen und – statistisch gesehen – weniger wahrscheinlichen Fall als den der Verwerfung der Revision handelt. Es reicht aus, dass der vorstehend aufgezeigte Verfahrensgang lediglich möglich ist. Rechtsanwalt P hat weder Umstände dargelegt noch sind solche erkennbar, aufgrund derer er im Falle der Aufrechterhaltung seiner Bestellung gewichtigere andere berufliche bzw. sonstige Verpflichtungen nicht einhalten könnte. Derartige Umstände könnten zwar die Erforderlichkeit der Mitwirkung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht berühren, wohl aber die Zumutbarkeit für Rechtsanwalt P, diese Aufgabe weiterhin wahrzunehmen.

Die Mitwirkung von Rechtsanwalt P ist somit weiterhin „erforderlich“ iS des § 144 Abs. 1 StPO und diesem auch zumutbar. Damit liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung seiner Bestellung nach § 144 Abs. 2 StPO, der in einem komplementären Verhältnis zu Abs. 1 steht, nicht vor. Für eine solche Auslegung des § 144 Abs. 1 und 2 StPO in Fällen der vorliegenden Art, in denen mithin aufgrund des Umfangs des Verfahrens ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist und gegen das Urteil erster Instanz ein nicht beschränktes Rechtsmittel eingelegt wurde, sprechen auch die mit dem Wortlaut der Norm zwanglos in Einklang zu bringende Motive des Gesetzgebers. Danach soll die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers dann aufzuheben sein, wenn die speziellen Voraussetzungen der Bestellung entfallen seien, was bei Bestellung zur Sicherung der Durchführung einer umfangreichen Hauptverhandlung „in der Regel erst mit deren Abschluss der Fall“ sei (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 50).

Die Bestellung von Rechtsanwalt P hat mithin fortzudauern. Sie würde bei unveränderter Sachlage gemäß § 143 Abs. 1 StPO erst mit dem „rechtskräftigen Abschluss“ des Verfahrens oder mit dessen Einstellung enden.“

Das kann ich nicht so ganz nachvollziehen. Warum denn jetzt noch einen Sicherungsverteidiger? Allein wegen der Möglichkeit der Aufhebung des OLG-Urteils durch den BGH? Das überzeugt mich nicht. Man kann ja, wenn der BGH aufheben sollte, den Pflichtverteidiger erneut bestellen. Dem entgegen zu halten, dass der ggf. nicht zur Verfügung steht, ist ein wenig viel „Blick in die Zukunft“-