Archiv für den Monat: November 2021

JGG II: Verbüßung von Jugendstrafe (nach Widerruf), oder: Anrechnung von Ungehorsamsarrest

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Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich heute um den LG Limburg, Beschl. v. 07.05.2021 – 2 Qs 56/21. Es geht um die Anrechnung der Verbüßung on Ungehörsamsarrest auf die Vollstreckung von Jugendstrafe. Das LG sagt: Es muss angerechnet werden:

„c) Weiter ist der vollstreckte zweiwöchige Ungehorsamsarrest auf die Jugendstrafe analog §§ 26 Abs. 3 S. 3, 52a S. 1 JGG anzurechnen.

Nach § 26 Abs. 3 S. 3 JGG wird Jugendarrest, der nach § 16a JGG verhängt wurde, in dem Umfang, in dem er verbüßt wurde, auf die Jugendstrafe angerechnet. In der Literatur ist umstritten, ob hiernach ebenfalls Ungehorsamsarrest i.S.v. §§ 23 Abs. 1 S. 4, 11 Abs. 3, 15 Abs. 3 S. 2 JGG angerechnet werden kann oder sogar muss. Rechtsprechung zu dieser Frage existiert – soweit ersichtlich – nicht.

Teilweise wird die Möglichkeit einer Anrechnung verneint und dies damit begründet, dass der Ungehorsamsarrest keine Strafe i.S.v. Art. 103 Abs. 3 GG darstelle und seine Vollstreckung auch nicht die zugrunde liegende Weisung oder Auflage ersetze (BeckOK JGG/Nehring, 20. Ed. 1.2.2021, JGG § 26 Rn. 32 f.).

Demgegenüber wird die Anrechnung überwiegend für möglich oder sogar zwingend erachtet (Ostendorf/Ostendorf, JGG, 10. Aufl. 2016, JGG § 26a Rn. 18; Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, JGG § 26a Rn. 26; Meier/Rössner/Trüg/Wulf, JGG, 2. Aufl. 2014, JGG § 26 Rn. 13; Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl. 2020, § 26a Rn. 20). Zur Begründung wird u. a. angeführt, dass dies dem Einheitsprinzip entspreche (so Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, JGG § 26a Rn. 26) und dass eine Analogie zu § 26 Abs. 3 S. 3 JGG und § 52a JGG angezeigt sei (so Ostendorf/Ostendorf, JGG, 10. Aufl. 2016, JGG § 26a Rn. 18).

Die Kammer schließt sich der zuletzt genannten Ansicht an. Zwar ist in § 26 Abs. 3 S. 3 JGG lediglich die Anrechnung des Arrestes i.S.v. § 16a JGG (sog. Warnschussarrest) geregelt, doch rechtfertigt die vergleichbare Interessenlage eine analoge Anwendung auf den Ungehorsamsarrest.

§ 26 Abs. 3 S. 3 JGG ist gemeinsam mit § 16a JGG durch das Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom 04.09.2012 (BGBl. I S. 1854) eingeführt worden. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollte mit der Anrechnung, bei der nur auf den neuen § 16a JGG abgestellt wurde, Bedenken im Hinblick auf eine Doppelbestrafung oder Überschreitung des Schuldmaßes durch den Jugendarrest neben der Jugendstrafe entgegengetreten werden (BT-Drs. 17/9389, S. 14). Zwar stellt der Ungehorsamsarrest keine Strafe für die Tat dar, sondern dient der Durchsetzung der richterlichen Weisung (BVerfG, NJW 1989, 2529), doch geht er mittelbar auf die Tat zurück. Der Vergleich zu § 52a JGG stützt dies. Danach sind Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung, die der Angeklagte aus Anlass einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, erlitten hat, auf die Jugendstrafe anzurechnen, soweit nicht erzieherische Gründe entgegenstehen. Der „Anlass“ wird dabei weit verstanden (vgl. BVerfG, NStZ 2000, 277, 278; Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, JGG § 52a Rn. 5, § 52 Rn. 8 f.).

Die Nichtanrechnung des Ungehorsamsarrestes könnte im Einzelfall wie beim ebenso bis zu vierwöchigen Warnschussarrest zu einer übermäßigen Gesamtsanktionierung führen. Vor dem Hintergrund des dem Jugendstrafrecht zugrunde liegenden Erziehungsgedankens (§ 2 Abs. 1 S. 2 JGG) und des darin wurzelnden Einheitsprinzips (dazu Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, JGG § 31 Rn. 3), das auch den Ungehorsamsarrest erfasst (BGH, Beschl. v. 26.5.2009 – 3 StR 177/09, BeckRS 2009, 15992 Rn. 2) erscheint die Anrechnung des Ungehorsamsarrestes auf die Jugendstrafe in der Regel geboten. Erzieherische Gründe, die es analog § 52a S. 2 JGG ausnahmsweise rechtfertigen könnten, von der Anrechnung abzusehen, sind vorliegend nicht gegeben.“

JGG I: Verhängung einer (Einheits)Jugendstrafe, oder: Anforderungen an die Urteilsgründe

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Ich stelle heute dann drei Entscheidungen zum JGG, also Jugendstrafrecht, vor.

Den Opener macht der OLG Hamm, Beschl. v. 26.10.2021 – 4 RVs 109/21 –, der zu en Urteilsgründen in den Fällen der Verhängung einer Jugenstraf ausführt. Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Dagegen die Revision, die beim OLG Erfolg hatte:

„Die zulässige Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg und führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache (§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO). Im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet i.S.v. § 349 Abs. 2 StPO. …..

2. Der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils weist hingegen einen durchgreifenden Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten auf. Bei der Verhängung von Jugendstrafe ist eine besonders sorgfältige Sanktionsbegründung erforderlich, die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts zu überprüfen ist. Es muss das Vorliegen schädlicher Neigungen eingehend – und nicht nur formelhaft – begründet und angegeben werden, welcher Art diese sind. Zu früheren Straftaten, mit denen schädliche Neigungen begründet werden, müssen konkrete tatsächliche Feststellungen getroffen werden und der Richter muss sich damit auseinandersetzen, warum gerade die abgeurteilte Tat die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert (OLG Hamm NStZ-RR 1999, 377; OLG Köln, Beschl. v. 05.03.2010 – 1 RVs 26/10 – juris; Brunner/Dölling in: Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 13. Aufl. 2017, § 54 Rdn. 16).

Die Urteilsgründe sind hier insoweit lückenhaft, als sie nähere Angaben zu den beiden Verurteilungen wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz aus Juli 2020 und Januar 2021 vermissen lassen. Zwar stützt der Tatrichter seine Wertung, dass bei dem Angeklagten schädliche Neigungen vorliegen, nicht allein auf diese beiden Verurteilungen, sondern auf sämtliche Umstände, die er im Rahmen der Strafmessung benannt hat („sind aufgrund dessen“, UA S. 5). Der Tatrichter stützt jedoch seine Überzeugung, dass die schädlichen Neigungen gerade auch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch bestanden, auf diese beiden Verurteilungen. Selbst wenn diese Annahme angesichts der neuerlichen Verurteilung nicht fernliegt, kann der Senat aufgrund der lückenhaften Feststellungen zu den beiden genannten Verurteilungen letztlich nicht prüfen, ob die Wertung rechtsfehlerfrei ist. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass vor diesen Verurteilungen zunächst eine „Delinquenzpause“ bzw. „Verurteilungspause“ von knapp zwei Jahren (2018-2020) eingetreten war und die beiden Verstöße gegen das Waffengesetz auch auf völlig anderem Gebiet als die noch frühere Delinquenz liegen.

Nicht erkennbar hat der Tatrichter auch die im Rahmen der Bewährungsprognose genannten Umstände einer inzwischen aufgenommenen schulischen Ausbildung und deren Auswirkungen auf etwaige in der Vergangenheit vorliegende schädliche Neigungen gewertet.“

Verkehrsrecht III: Das Schieben eines Fahrrades, oder: Wer seine Fahrerlaubnis liebt, der schiebt ….

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Und als letzte Entscheidung des Tages dann hier noch das LG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 26.10.2021 – 11/21 10 Ns 530 Js 30832/20 – zur Frage: Ist das bloße Schieben eines Fahrrades  Führen i.S. des § 316 StGB – also eine Trunkenheitsfahrt?

Das LG hat das verneint und den Angeklagten wird freigesprochen.

„Die Staatsanwaltschaft Freiburg legte dem Angeklagten mit dem am 12.10.2020 vom Amtsgericht pp. erlassenen Strafbefehl zur Last, am 09.08.2020 gegen 6.30 Uhr mit dem Fahrrad auf der Straße pp. in pp. gefahren zu sein, obwohl er aufgrund vorangegangenen Alkoholkonsums fahruntüchtig gewesen sei. Daher sei er auf die Fahrbahn gestürzt. Eine am selben Tag um 07.34 Uhr entnommene Blutprobe habe eine Blutalkoholkonzentration von 2,3 Promille im Mittelwert ergeben. Er habe sich hiermit der fahrlässigen Trunkenheit im Straßenverkehr gem. § 316 Abs. 1 und 2 StGB strafbar gemacht.

Das Amtsgericht verurteilte am 18.03.2021 den Angeklagten nach Beweisaufnahme entsprechend dieses Tatvorwurfs zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen à 35,- €. Die fristgerecht und mit dem Ziel eines Freispruchs eingelegte Berufung des Angeklagten wurde durch Beschluss der Berufungsstrafkammer vom 10.08.2021 angenommen. Die Berufung hatte Erfolg.

II.

Der Angeklagte besuchte am Abend des 08.08.2020 eine private Feier, die im Vereinshaus des Sportvereins pp. ausgerichtet wurde. Hierbei trank er alkoholische Getränke im Übermaß, was dazu führte, dass er noch am 09.08.2020 um 07.34 Uhr eine Blutalkoholkonzentration von 2,3 Promille aufwies. In den frühen Morgenstunden des 09.08.2020 wollte er mit dem Fahrrad nachhause fahren. Zu diesem Zweck zog er das Rad aus dem Fahrradständer und schloss es auf. Bereits hierbei fiel er mit dem Fahrrad zu Boden. Er bemerkte, dass er zu betrunken war, um auf das Fahrrad aufzusteigen, und wollte das Fahrrad daher die ca. 3 bis 4 km bis zu seinem Wohnort schieben. Hierbei stieß er wegen seiner alkoholbedingten Gleichgewichtsstörungen noch einmal an einer Brücke gegen das Brückengeländer. Einige hundert Meter weiter geriet er, das Fahrrad schiebend, nach links vom Weg ab. Dort fiel er mit seinem Fahrrad in die Böschung. Das Fahrrad ließ er dort liegen und ging dann noch wenige Meter weiter, bevor er alkoholbedingt stürzte bzw. sich zum Schlafen auf der Straße niederließ. Jedenfalls lag er gegen 6.28 Uhr bewusstlos auf der kleinen Straße, wo er von einem zufällig auf privatem Weg befindlichen Polizeibeamten aufgefunden wurde. Dieser verständigte über Notruf Polizei und Rettungsdienst. Nachdem diese gegen 6.40 Uhr eingetroffen waren, wachte der Angeklagte langsam auf. Auf die Frage des Zeugen POM …, was geschehen sei, antwortete der Angeklagte, er sei vom Fahrrad gefallen.

III.

Diese Feststellungen entsprechen im Wesentlichen der nicht widerlegten Einlassung des Angeklagten. Die Strafkammer konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Angeklagte auf dem Weg vom Vereinsheim bis zu der Stelle, an der er bewusstlos aufgefunden wurde, zu irgendeinem Zeitpunkt mit dem Fahrrad gefahren ist. (pp.)

IV.

Der Angeklagte hat somit sein Fahrrad nicht geführt im Sinne des § 316 StGB. Zwar bedient der Schiebende sich dafür in aller Regel des Lenkers (s. BayObLG VRS 75 127, 128), so dass das Zweirad unter eigenverantwortlicher Handhabung einer seiner wesentlichen technischen Vorrichtungen durch den öffentlichen Verkehrsraum geleitet wird. Dennoch geht die herrschende Meinung, der die Strafkammer sich anschließt, davon aus, dass das Schieben eines Fahrrads nicht als Führen im Sinne des § 316 StGB angesehen werden kann (König in Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2021, § 315 c Rn. 14; zweifelnd Fischer, StGB, 68. Aufl., 2021, § 315c Rn. 3a). Die Gefahrenlage ist so viel geringer, dass es sachgerecht erscheint, einschlägige Verhaltensweisen im Wege der teleologischen Reduktion aus dem Tatbestand zu eliminieren. Dafür kann stützend die Wertung der StVO, so z. B. § 25 Abs. 2 StVO, herangezogen werden, wonach die genannten Phänomene wesentlichen Regelungen des Fußgängerverkehrs unterworfen sind (König, a.a.O.).

Sich betrunken zu Fuß im öffentlichen Verkehrsraum zu bewegen, ist somit auch dann nicht strafbar, wenn hierbei ein Fahrrad geschoben wird.

Der Angeklagte war daher aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen freizusprechen.

Verkehrsrecht II: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, oder: 260 m von Unfallstelle entfernt nicht „Unfallort“

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Author Harald Wolfgang Schmidt at de.wikipedia

Die zweite Entscheidung grieft noch einmal eine Problematik der „Unfallflucht“ auf, nämlich Die Frage: War das (noch) der „Unfallort“, von dem sich der Beschuldigte entfernt hat. Dazu der LG Lübeck, Beschl. v. 07.09.2021 – 4 Qs 164/21, den mir der Kollege T. Frings aus Itzehoe geschickt hat:

„Aus den bisherigen Ermittlungen ergibt sich, dass die Beschuldigte pp. am pp. 2021 ein Fahrzeuggespann, bestehend aus einem Audi Q7 und einem Anhänger, der Platz für zwei hintereinander stehende Pkw bot, führte. Sie befuhr die Kolberger Straße in Lübeck und wollte nach links in die Stargardstraße einbiegen. Sie musste warten, da dichter Verkehr herrschte. Der Fahrer eines ihr entgegenkommenden Taxis bremste ab, um ihr das Abbiegen zu ermöglichen. Bei dem Abbiegevorgang streifte ihr Anhänger einen gegenüber des Einmündungsbereiches der Stargardstraße geparkten Pkw Fiat Panda und verursachte daran auf einer Länge von 190 cm starke Schrammen, starke Dellen und Schmutzrückstände. Der Anhänger selbst wurde dabei nicht beschädigt. Die Beschuldigte setzte ihre Fahrt in die Stargardstraße fort. Der Taxifahrer sowie die Fahrerin des Fahrzeuges, das sich hinter der Beschuldigten auf der Kolberger Straße befand, hatten den Unfall wahrgenommen und sprachen darüber. Der Taxifahrer bog sodann ebenfalls in die Stargardstraße ein, wo er auf die Beschuldigte und ihren Beifahrer pp. traf und sie auf den Unfall ansprach. Zudem informierte er die Polizei.

Bei dem Taxifahrer handelt es sich um den Zeugen pp. Er hat bekundet, er sei durch das Geräusch und die weitere Zeugin auf den Unfall aufmerksam geworden. Die Beschuldigte sei etwa 100 Meter in die Stargardstraße hineingefahren. Er habe ihr und ihrem Begleiter gesagt, dass sie einen Unfall verursacht hätten. Diese hätten geantwortet, dass sie sich darum kümmern würden.

Mit Beschluss vom 14.06.2021 hat das Amtsgericht Lübeck der Beschuldigten pp. gemäß §§ 111a StPO, 69 StGB vorläufig die Fahrerlaubnis entzogen und ihren Führerschein beschlagnahmt. ….

Hiergegen hat die Beschuldigte mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 1.8.06.2021 Beschwerde eingelegt. Sie hat sich dahingehend eingelassen, den Unfall nicht bemerkt zu haben. Sie sei die Stargardstraße bis zum Ende durchgefahren, habe gewendet und einige Meter vor dem Parkplatz in Höhe der Hausnummer 3 angehalten. Auf dem Parkplatz habe sie ein Fahrzeug gekauft und auf ihren Anhänger geladen. Etwa 20 Minuten nach dem Einbiegen in die Stargardstaße sei der Taxifahrer erschienen und habe sie über den Unfall informiert. Er habe gesagt, dass er bereits die Polizei informiert habe und sie sich um nichts weiter kümmern müsse. Mit ihrem Einverständnis habe er den Anhänger fotografiert. Sie und ihr Begleiter hätten in der Folgezeit den Einmündungsbereich Stargardstraße/Kolbergerstraße aufgesucht, wo sich jedoch keine Personen befunden hätten. Daraufhin hätten sie ihre Fahrt fortgesetzt.

Die Beschuldigte hat ein von pp. unterzeichnetes Schriftstück vorgelegt. Darin heißt es, die Beschuldigte habe das andere Fahrzeug unbemerkt gestreift. Das Ziel ihrer Fahrt habe sich etwa 500 Meter von der Unfallstelle befunden. Nach etwa 15 Minuten sei der Taxifahrer erschienen und habe sie über den Unfall informiert. Er habe Fotos von den Kennzeichen des Zugfahrzeuges und des Anhängers gemacht und gesagt, dass Zeugen den Unfall schon bei der Polizei gemeldet hätten. Einige Minuten später sei die Beschuldigte mit ihm zur Unfallstelle gefahren, wo weder der Halter des beschädigten Fahrzeuges noch Zeugen gewesen seien. Etwa zehn Minuten später seien sie nach Hause gefahren.

II.

Die Beschwerde der Beschuldigten ist zulässig und begründet.

Aus Sicht der Kammer besteht kein dringender Tatverdacht dahingehend, dass die Beschuldigte pp. den Unfall unmittelbar wahrnahm. Es erscheint nachvollziehbar, dass sie inmitten des starken Verkehrs und mit einem Beifahrer im Fahrzeug nicht bemerkt haben könnte, dass ihr sehr langer Anhänger ein geparktes Fahrzeug streifte. Auch wenn der Fahrer des ihr entgegenkommenden Taxis ein Geräusch wahrnahm, muss dies nicht auch auf die Beschuldigte zutreffen. So könnte der Taxifahrer mit offenem Fenster gefahren sein, die Beschuldigte aber nicht.

Soweit die Beschuldigte von dem Zeugen pp. auf den Unfall angesprochen wurde, kann dies geschehen sein, nachdem sie sich bereits vom Unfallort entfernt hatte. Das Entfernen nicht vom Unfallort selbst, sondern von einem anderen Ort, an welchem der Täter erstmals von dem Unfall erfuhr, erfüllt nicht den Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB (BGH NStZ 2011, 209). Wenn die Beschuldigte, ihrer Einlassung entsprechend, die Stargardstraße bis zum Ende fuhr, um dort zu wenden, entfernte sie sich laut „Google Maps“ rund 260 Meter von der Unfallstelle, wobei sie sich infolge einer Kurve auch nicht mehr in Sichtweite befand. Hier bestand kein unmittelbarer räumlicher Bezug zu dem Unfallgeschehen mehr. Für feststellungsbereite Personen wäre sie hier nicht als warte- und auskunftspflichtig zu erkennen gewesen. „

Verkehrsrecht I: Noch einmal Kraftfahrzeugrennen, oder: Zu schnelles Konvoifahren?

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Hier gab es lange keinen Verkehrssrechttag 🙂 mehr gemacht. Heute habe ich drei landgerichtliche Entscheidungen zu der Problematik. Nichts wesentlich Neues, aber Fortschreibung der Rechtsprechung…..

Ich beginne mit dem LG Berlin, Beschl. v. 21.12.2020 – 502 Qs 102/20. Das „Weihnachtsgeschenk 2020“ für einen Beschuldigten, dem die Fahrerlaubnis wegen verbotener Kraftfahrzeugrennen vorläufig entzogen worden war. Das LG hat aufgehoben.

Folgender Sachverhalt:

„Dem Beschuldigten wird von der Amtsanwaltschaft Berlin vorgeworfen, mit dem von ihm geführten Fahrzeug Fahrzeug Audi A3 Sportback, pp., am 01. September 2020 gegen 21:50 Uhr vom Bereich der Kreuzung Rhinstr./Landsberger Allee in 12681 Berlin über den KreuzungsbereichRhinstraße/Pyramidenring bis hin zum     Kreuzungsbereich Rheinstraße/Rheinstraße gefahren zu sein. Dabei soll er vorausgefahren und der Mitbeschuldigte soll ihm mit dessen Fahrzeug VW Tiguan, pp.,  gefolgt sein. Im Bereich der Kreuzung Rhinstraße/Pyramidenring sei es zu einem Fahrstreifenwechsel beider Fahrzeuge gekommen, wobei ein vorausfahrendes Fahrzeug rechts ohne vorheriges Setzen von Fahrtrichtungsanzeigern überholt worden und eine derart hohe Geschwindigkeit erreicht worden sei, dass das verfolgende Polizeifahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 110 km/h den Abstand nur gering habe verringern können. Die gefahrene Gesamt-strecke habe ca. 770-800 m betragen. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dem befahrenen Abschnitt der Rhinstraße beträgt 60 km/h (https://daten.berlin.de/datensaetze/tempolimits-wms-2). Die Beschuldigten hätten schließlich im Bereich der Kreuzung Rhinstraße/Rhinstraße aufgrund der rot abstrahlenden Lichtzeichenanlage scharf bremsen müssen und seien zum Stillstand gekommen.

Dazu das LG:

„1. Ein dringender Verdacht für eine Straftat nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB kommt nach Ansicht der Kammer bei vorläufiger Bewertung der Aktenlage nicht in Betracht, da das Verhalten des Beschuldigten nicht als Teilnahme an einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen zu qualifizieren ist. Denn als Rennen im Sinne der Norm sind Wettbewerbe zur Erzielung von Höchstgeschwindigkeiten oder höchsten Durchschnittsgeschwindigkeiten mit mindestens zwei teilnehmenden Kraftfahrzeugen zu verstehen (vgl. m.w.Nw. BeckOK StGB/Kulhanek, 48. Ed. 01 November 2020, § 315d, Rn. 11, MüKoStGB/Peget, 3. Aufl. 2019, § 315d, Rn. 7). Das Fahren im Konvoi muss dem Renncharakter zwar nicht widersprechen (BT-Drs.18/12964, S. 5), jedoch fehlt es hier an objektiven Indizien zur Feststellung eines wettbewerbsmäßigen Verhaltens des Beschuldigten. Zwar kann auch ein konkludentes Übereinkommen zur Durchführung eines wettbewerbsmäßigen Rennens ausreichen. Hierfür finden sich jedoch nach gegenwärtigem Ermittlungsstand keine objektiven Indizien (etwa das Ver-wenden von renntypischen Begrifflichkeiten, der Festlegung gemeinsamer Start-, Etappen- und Zielorte, das Nehmen der Zeit oder die Vorgabe konkreter Fahrtstrecken). Hier stellt sich der Sachverhalt lediglich als übereinstimmendes – für den Innenstadtbereich mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 km/h deutlich zu schnelles – Hintereinanderfahren unter Missachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung und der Regeln zum Überholen dar, ohne dass es äußere Anhaltspunkte für einen zwischen den Fahrzeugen ausgetragenen Wettbewerb gibt.

2. Auch liegen nicht genügend tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB vor. Danach macht sich strafbar, wer sich im Straßenverkehr als Kraftfahrzeugführer mit nicht an-gepasster Geschwindigkeit grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Tatvariante soll nach dem gesetzgeberischen Willen primär Einzel-raser erfassen (BT-Drs.18/12964, S. 5), die für sich oder ein virtuelles Publikum ein Rennen nachstellen. Die Norm ist über die Erfassung des Einzelrasers hinaus von ihrem Wortlaut auch geeignet, als Auffangtatbestand für Fälle herzuhalten, in denen eine Subsumtion unter den Rennbegriff mangels Nachweises der wechselseitigen Übereinkunft nicht gelingt (s. BeckOK StGB/Kulhanek, 48. Ed. 01. November 2020, § 315d, Rn. 32), die jedoch aufgrund ihrer abstrakten Gefährlichkeit strafwürdig erscheinen. Diese Tatvariante ist auch nicht aufgrund mangelnder. Bestimmtheit oder aufgrund der Verschleifung mit den anderen Tatbestandsvarianten verfassungswidrig, muss jedoch restriktiv ausgelegt werden (vgl. KG Be-schluss vom 20. Dezember 2019 – (3) 161 Ss 134/19 (75/19), BeckRS 2019, 35362; sich anschließend OLG Köln, Beschluss vom 5. Mai 2020 -111-1 RVs 45/20, NStZ-RR 2020, 224 ff.).

a) In objektiver Hinsicht hat der Beschuldigte sein Kraftfahrzeug in nicht angepasster Geschwindigkeit im Straßenverkehr fortbewegt, da er den Audi A3 Sportback im öffentlichen Straßenland mit einer teils deutlich überhöhten Maximalgeschwindigkeit – die zeitweise zumindest nicht deutlich unter 110 km/h lag, wo-bei der Beschuldigte einräumte, jedenfalls zu schnell gefahren zu sein – geführt hat. Diese erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung im innerstädtischen Bereich stellt eine nicht an die konkrete Verkehrssituation angepasste Geschwindigkeit dar, da sie deutlich über der im befahrenen Straßenabschnitt zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h liegt, die Fahrt bei nächtlichen Lichtverhältnissen erfolgte und ein vorschriftswidriger Überholvorgang eines unbeteiligten Fahrzeugs in einem Kreuzungsbereich statt-fand, so dass davon auszugehen ist, dass vom Beschuldigten sein Fahrzeug in der konkreten Situation (Überholmanöver im Kreuzungsbereich) nicht mehr sicher beherrscht werden konnte.

b) Der Bewertung des Verhaltens des Beschuldigten als grob verkehrswidrig begegnen keine Zweifel. Anhand der Beschreibung des Geschehens durch den Zeugen PM pp. ist hinreichend sicher anzunehmend, dass es im Kreuzungsbereich Rhinstraße/Pyramidenring zu dem Überholvorgang von rechts ohne Verwendung des Fahrtrichtungsanzeigers gekommen ist und dass nur kurz nach dem Kreuzungs-bereich der Einsatzwagen der Polizeikräfte ca. 110 km/h schnell fahren musste, wodurch der Abstand zu dem Fahrzeug des Beschuldigten nur gering reduziert wurde. Es ist demnach gegenwärtig davon auszugehen, dass der Beschuldigte mit einer deutlich überhöhten Geschwindigkeit, die jedenfalls nicht deutlich unter 110 km/h gelegen hat, das Überholmanöver ausgeführt und den Kreuzungsbereich passiert hat. Dies lässt die Wertung zu, dass der Beschuldigte einen erheblichen Geschwindigkeitsverstoß in einem Kreuzungsbereich begangen hat, der — was die Einordnung eines solchen Verstoßes in § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB indiziert — einen besonders schweren und typischerweise besonders gefährlichen Verstoß gegen eine Verkehrsvorschrift darstellt. Das falsche Überholen unter Verstoß gegen § 5 Abs. 1 StVO stellt zudem einen Verstoß des Katalogs des § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB dar, was ebenso ein gewichtiges Indiz für die Bestimmung eines schwerwiegenden Verkehrsverstoßes darstellt (vgl. BeckOK StGB/Kulhanek, 48. Ed. 01. November 2020, § 315d, Rn. 36).

c) Der Beschuldigte handelte zudem rücksichtslos. Rücksichtslos handelt, wer sich im Bewusstsein seiner Verkehrspflichten aus eigensüchtigen Gründen über diese hinwegsetzt oder sich aus Gleichgültigkeit nicht auf seine Pflichten als Fahrzeugführer besinnt und unbekümmert um die Folgen seines Ver-haltens fährt. Das Verhalten des Beschuldigten ist unter diesen Prämissen als rücksichtslos zu bewerten, da er gegenüber den Polizeibeamten PM pp., POK pp. und PK pp. angegeben haben soll, dass er zu schnell gefahren ist. Sein zur Schau gestellter Eigennutz, der im schnelleren Vorankommen unter Missachtung der Gefährlichkeit des zu schnellen Fahrens und der Regeln des Überholens zu sehen ist, sprechen dafür, dass der Beschuldigte rücksichtslos handelte und nicht nur aus Gedankenlosigkeit oder Nachlässigkeit die Verkehrsregeln missachtete (vgl. zu diesem Maßstab KG Beschluss vom 20. Dezember 2019 (3) 161 Ss 134/19 (75/19), BeckRS 2019, 35362 Rn. 22).

d) Es liegen jedoch keine dringlichen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschuldigte in der Absicht handelte, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Mit dieser hohen subjektiven Anforderung, der nur ein dolus directus ersten Grades genügt, soll der Renncharakter des Verhaltens auch bei § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB tatbestandlich verankert werden, womit auch an die mit einem solchen Verhalten verbundene erhöhte abstrakte Gefährlichkeit angeknüpft wird. Das subjektive Merkmal der Absicht des Er-reichens einer höchstmöglichen Geschwindigkeit dient der Abgrenzung von bußgeldbewehrten Geschwindigkeitsverstößen einerseits und dem Nachstellen eines Rennens andererseits (vgl. BT-Drs. 18/12964, S. 6; KG Beschl. v. 20.12.2019 — (3) 161 Ss 134/19 (75/19), BeckRS 2019, 35362 Rn. 9, beck-online). Das erstrebte Erzielen der höchstmöglichen Geschwindigkeit umfasst die fahrzeugspezifische Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit, das subjektive Geschwindigkeitsempfinden, die Verkehrslage und die Witterungsbedingungen (BT-Drs. 18/12964, S. 5).

Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist über das subjektive Vorstellungsbild des Beschuldigten nur bekannt, dass er wusste, dass er zu schnell gefahren ist. Dass er die maximale fahrzeugspezifische Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit erreichen wollte, ist damit nicht belegt und ist angesichts der technischen Möglichkeiten eines Audi A3 Sportback auch durch die tatsächlich erzielte Geschwindigkeit von unter 110 km/h nicht indiziert. Dass der Beschuldigte durch die Verkehrslage, die Witterungsbedingungen oder andere Umstände an dem Erzielen einer Höchstgeschwindigkeit an der äußeren Manifestation einer solchen Absicht gehindert worden wäre, ist bisher nicht ermittelt worden und angesichts der Fahrtstrecke von 770-800 m — in der auch eine Beschleunigung auf eine deutliche höhere Geschwindigkeit bei entsprechender Absicht möglich erscheint — nicht wahrscheinlich. Auch die sonstigen objektiven Umstände lassen keinen ausreichend sicheren Schluss auf eine solche Absicht zu.“