OWi I: Das BayObLG antwortet dem BVerfG wegen der Rohmessdaten, oder: Ein bisschen „Mia san mia“

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Heute dann der erste OWi-Tag im neuen Jahr.

Und da gibt es dann gleich einen „Knaller“, nämlich die erste OLG-Entscheidung zur Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020 – 1 BvR 1616/18. Das BVerfG hatte ja gerade aich das BayObLG – im Nachgang zum OLG Bamberg gerüffelt. Dort reagiert man im BayObLG, Beschl. v. 04.01.2020- 2020 ObOWi 1532/20 – dann so:

„III.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde führt auf die Verfahrensrüge, soweit mit ihr den gesetzlichen Begründungsanforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 StPO genügend beanstandet wird, der Verteidigung seien entgegen ihrer mehrfach gestellten Anträge die digitale Messdatei der verfahrensgegenständlichen Messung des Betroffenen nicht zur Verfügung gestellt worden, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mitsamt seinen Feststellungen. Durch die Ablehnung der Anträge auf Überlassung der Messdatei, zuletzt durch den in der Hauptverhandlung verkündeten Beschluss des Amtsgerichts vom 04.08.2020, wurde gegen das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren verstoßen, womit die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt im Sinne von 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO durch einen Beschluss des Gerichts unzulässig beschränkt wurde. Auf die weiteren verfahrensrechtlichen Beanstandungen und auf die Sachrüge kommt es deshalb nicht mehr an.

1. Nach dem stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 (BVerfG [3. Kammer des 2. Senats], Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 bei juris), den das Amtsgericht im Urteilszeitpunkt nicht berücksichtigen konnte, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG mit Blick auf den aus dem Gedanken der „Waffengleichheit“ grundsätzlich ein „Anspruch“ des Betroffenen auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen und zum Zwecke der Ermittlungen entstandenen Informationen, hier der sog. Rohmessdaten einer Geschwindigkeitsmessung im Straßenverkehr. Voraussetzung des Anspruchs ist, dass der Betroffene rechtzeitig geltend macht, er wolle sich selbst und eigenständig Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus den dem Gericht nicht vorgelegten Inhalten keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben. Zudem müssen die begehrten Informationen zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (BVerfG a.a.O.).

2. Diese Prämissen sind hinsichtlich der Rohmessdaten der digitalen Messdatei erfüllt.

a) Die Verteidigung hatte schon im Vorverfahren und damit rechtzeitig, jedoch vergeblich gegenüber der Verwaltungsbehörde mit Schreiben vom 21.02.2020 beantragt, ihr bzw. dem von ihr zu beauftragenden Sachverständigen die Messdatei zur Verfügung zu stellen, weil andernfalls keine sachgemäße Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung im standardisierten Messverfahren möglich sei. Dieser Antrag wurde gegenüber dem Amtsgericht nach dortiger Anhängigkeit ab dem 04.03.2020 mit Schreiben vom 12.03.2020, 24.03.2020 und 21.07.2020 und schließlich in der Hauptverhandlung mit der Bezeichnung als „Beweisantrag“ wiederholt. Das Amtsgericht hat den „Beweisantrag“ gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG mit der – im Urteil näher ausgeführten – Begründung abgelehnt, dass die begehrte Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei, da der Messung ein standardisiertes Messverfahren zugrunde liege und der Antrag keine konkreten Anhaltspunkte für eine Fehlmessung aufzeige.

b) Der Umstand, dass der Verteidiger keinen Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung gestellt hat, steht dem Erfolg der erhobenen Verfahrensrüge nicht entgegen. Denn nach Ablehnung des in der Hauptverhandlung gestellten Antrags auf Beiziehung und Überlassung der Rohmessdaten zur Einsicht war für einen entsprechenden Aussetzungsantrag, der nur den Sinn haben konnte, die Rohmessdaten durch einen Sachverständigen auswerten zu lassen, schon kein Raum mehr.

3. Soweit daneben die Ablehnung des Antrags auf Einsichtnahme und Überlassung der Messbilder der gesamten Messreihe bzw. aller digitalen Falldatensätze vom Tattag zur sachgemäßen Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung beanstandet wird, genügt das Rügevorbringen nicht den Begründungsanforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 StPO. Die Verfahrensrüge ist insoweit bereits unzulässig, weil schon ein sachlicher Zusammenhang mit dem Tatvorwurf nicht hinreichend dargetan ist. Hinzu kommt, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin keine für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Messung relevanten Erkenntnisse gezogen werden können (vgl. hierzu zuletzt OLG Zweibrücken, Beschl. v. 05.05.2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19 = ZfSch 2020, 413 und 27.10.2020 – 1 OWi 2 SsBs 103/20 bei juris [jeweils unter Hinweis mit Verlinkung auf die unter dem Titel „Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung“ verfasste Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt mit Stand vom 30.03.2020]). Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt hat in dieser Stellungnahme überzeugend dargelegt, dass es für den Messwert einer konkreten Einzelmessung keinen Zusammenhang mit den Messergebnissen für Fahrzeuge gibt, die in den Stunden davor und danach erfasst wurden. Die gesamte Messreihe bringt selbst dann keine verwertbare Aussage, wenn eine Einzelmessung deutlich außerhalb des Bereiches von Geschwindigkeiten fällt, die üblicherweise am jeweiligen Messort gefahren werden.

4. Soweit neben einer Verletzung des fairen Verfahrens die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend gemacht wird, ist ein solcher Verstoß nicht gegeben. Der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht berührt, wenn es um die Frage geht, ob das Gericht sich und den Prozessbeteiligten Kenntnis von Sachverhalten, die es selbst nicht kennt, erst zu verschaffen hat, weil es nicht Sinn und Zweck der Gewährleistung rechtlichen Gehörs sei, dem Beschuldigten Zugang zu dem Gericht nicht bekannten Tatsachen zu erzwingen (BVerfGE 63, 45/60). Das Verfahrensgrundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verlangt vielmehr, dass einer gerichtlichen Entscheidung gemäß § 261 StPO auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung ausgebreiteten und abgehandelten Tatsachenstoffs – wie hier geschehen – ausschließlich solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene und seine Verteidigung hinreichend Stellung nehmen konnten; einen Anspruch auf Erweiterung der Gerichtsakten vermittelt Art. 103 Abs. 1 GG hingegen nicht, zumal auch für eine Willkürentscheidung nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich ist (st.Rspr.; vgl. neben BVerfGE 18, 399/405 f.; 34, 1/7; 36, 92/97; 57, 250/273 f. und 63, 45/60 f. u.a. BayObLG, Beschl. v. 09.12.2019 – 202 ObOWi 1955/19 = DAR 2020, 145 = BeckRS 2019, 31165; 06.04.2020 – 201 ObOWi 291/20 bei juris und KG, Beschl. v. 02.04.2019 – 122 Ss 43/19 bei juris; vgl. auch schon OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 = NZV 2018, 425 und 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15 = DAR 2016, 337 = OLGSt StPO § 147 Nr 10, jeweils m.w.N.).“

Na ja, teilweise schließt man sich an. Aber teilweise weiß man es schon wieder besser. Denn die Ausführungen oben bei 3) dürften nicht mit dem in Einklang stehen, was das BVerfG ausgeführt hat. Ich meine mich zu erinnern 🙂 , dass das BVerfG hat klar und deutlich ausgeführt hat, dass es Sache der Verteidigung und eines ggf. beauftragten Sachverständigen ist, zu beurteilen, welche Daten man zur Überprüfung braucht. Mit der entsprechenden Passage des Beschlusses des BVerfG hat man sich nicht auseinandergesetzt. Wenn, dann hätte man ja auch etwas zu der vom BVerfG in Bezug genommenen Spurenaktenentscheidung in BVerfGE 63, 45 ff. sagen müssen. Denn da wird dem Beschuldigten ja auch das Recht eingeräumt, dass „er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind.“

Mia san eben mia, zumindest ein bisschen

Ein Gedanke zu „OWi I: Das BayObLG antwortet dem BVerfG wegen der Rohmessdaten, oder: Ein bisschen „Mia san mia“

  1. RichterimOLGBezirkMuenchen

    Ich leite gerade zahlreiche Akten an Verwaltungsbehörden zurück, um – wo im konkreten Fall vom Verteidiger beantragt – die angeforderten Unterlagen und Daten zur Akte zu geben… Unter Bezugnahme auf das BVerfG…

    Bin auf die Rückläufer in ein paar Wochen gespannt.

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