Archiv für den Monat: Oktober 2020

OWi I: Anforderungen an die Urteilsgründe im Bußgeldverfahren, oder: Wie oft denn noch?

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Heute dann noch einmal ein Tag mit Entscheidungen aus dem Bußgeldverfahren. Nichts weltbewegend Neues, sondern Fortschreibung bisheriger Rechtsprechung.

Und da ist zunächst der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 22.09.2020 – Ss BS 2/2020 (14/20 OWi), den mir die Kollegin Zimmer-Gratz aus Bous geschickt hat. Das OLG nimmt noch einmal zu den Anforderungen an die Urteilsgründe in einer Bußgeldsache Stellung. Man hört die „Bartwickelmaschine“ im Keller, aber offenbar ist noch nicht überall angekommen, wie die OLG es denn nun gern hätten.

Das OLG Saarbrücken führt (noch einmal) aus:

„Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und begründete (SS 341 Abs. 1, 344, 345 StPO i. V. mit § 79 Abs. 3 Satz OWiG), mithin zulässige Rechtsbeschwerde hat mit der erhobenen Sachrüge (zumindest vorläufig) Erfolg, so dass es auf die Verfahrensrüge nicht ankommt. Das angefochtene Urteil hält materiell-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die den Tatsachenfeststellungen zugrunde liegende Beweiswürdigung lückenhaft ist.

1. Zwar sind an die Gründe eines tatrichterlichen Bußgeldurteils keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen. Gleichwohl gilt für sie gemäß § 46 Abs. 1 OWiG die Vorschrift des § 267 StPO sinngemäß und damit für ihren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren. Auch die Gründe eines Bußgeldurteils müssen so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 02.04.2015 — 2 Ss OWi 251/15, juris Rn. 13; Senatsbeschlüsse vom 5. November 2015 – Ss Bs 76/2015 (44/15 OWi) – ZfSch 2016, 352 ff. und juris, vom 24. Januar 2019 – Ss Bs 107/2018 (76/18 OWi) ZfSch 2019, 351 f. und juris, vom 9. April 2019 – Ss Bs 16/2019 (18/19 OWi) vom 12. Juni 2019 – Ss Bs 2/2019 (29/19 OWi) – und vom 18. September 2020 Ss Bs 56/2020 (23/20 OWi) OLG Karlsruhe, Beschl. v. 15.09.2016 – 2 (7) SsBs 507/16, juris Rn. 8; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 17. Aufl. § 71 Rn. 42; KK-OWiG/ Senge, 5, Aufl., § 71 Rn. 106). Das gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand versetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Lücken, Unklarheiten, Widersprüche sowie auf Verstöße gegen Denkgesetze und gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (vgl. vorgen. Senatsbeschlüsse; OLG Karlsruhe, a. a. O.; Göhler/Seitz/Bauer, a. a. O., § 71 Rn. 43; KK-OWiG/Senge, a. a. O., § 71 Rn. 107). Die den Tatsachenfeststellungen zugrunde liegende Beweiswürdigung muss daher im Regelfall erkennen lassen, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob und warum der Richter der Einlassung folgt oder ob und inwieweit er die Einlassung als widerlegt ansieht; schweigt der Betroffene oder bestreitet er die Tat, müssen die Urteilsgründe die tragenden Beweismittel wiedergeben und sich mit ihnen auseinandersetzen (vgl. vorgen. Senatsbeschlüsse; OLG Karlsruhe, a. a. O.; Göhler/Seitz/Bauer, a. a. O., § 71 Rn. 43; KK-OWiG/Senge, a. a. O., § 71 Rn. 107 m. w. N.). Das Fehlen einer zumindest gestrafften Darstellung der Einlassung des Betroffenen in den Urteilsgründen sowie gegebenenfalls einer Beweiswürdigung, die sich mit den tragenden Beweismitteln und deren Ergebnissen auseinandersetzt, begründet auch im Bußgeldverfahren in aller Regel einen sachlich-rechtlichen Mangel des Urteils (vgl. OLG Bamberg, a. a. O.; vorgen. Senatsbeschlüsse; KK-OWiG/Senge, a. a. O., § 71 Rn. 107 m. w. N.). Nur in sachlich und rechtlich einfach gelagerten Fällen von geringer Bedeutung kann auf die Wiedergabe der Einlassung und auf eine Auseinandersetzung mit ihr in den Urteilsgründen ohne Verstoß gegen die materiell-rechtliche Begründungspflicht verzichtet werden (vgl. BGH MDR 1975, 198; OLG Düsseldorf NStZ 1985, 323; OLG Koblenz, Beschl. v. 17.08.2010 – 1 SsBs 97/10 -v juris; Senatsbeschluss vom 12. Juni 2019 – Ss Bs 2/2019 (29/19 OWi) KK-OWiG/Senge, a. a. O., § 71 Rn. 107).

2. Diesen Anforderungen genügen die Gründe des angefochtenen Urteils nicht. Ihnen lässt sich zwar entnehmen, dass der Betroffene „nach insofern geständiger Einlassung“ am Mittag des 05.02.2019 mit dem Pkw (amtliches Kennzeichen: pp.) die Sinzer Straße in Nennig, Fahrtrichtung Sinz, befuhr, er also seine Fahrereigenschaft zum Tatzeitpunkt eingeräumt hat. Ob und gegebenenfalls wie sich der Betroffene zum eigentlichen Tatvorwurf nämlich der ihm zur Last gelegten Überschreitung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit, eingelassen hat, ob und gegebenenfalls warum der Tatrichter dieser Einlassung gefolgt ist oder ob und inwieweit er sie als widerlegt angesehen hat, wird in den Gründen des angefochtenen Urteils hingegen nicht mitgeteilt. Im weiteren Verlauf der — die Feststellungen zur Tat, die Beweiswürdigung und rechtliche Wertungen vermengenden — Urteilsgründe heißt es insoweit lediglich, dass konkrete Messfehler oder Unregelmäßigkeiten seitens des Betroffenen nicht vorgebracht worden seien. Dies lässt sowohl die Deutung zu, dass sich der Betroffene zu dem Tatvorwurf überhaupt nicht eingelassen hat, als auch die Deutung, dass er diesen in Abrede gestellt hat. Dementsprechend fehlt auch jedwede Auseinandersetzung mit einer (möglichen) Einlassung des Betroffenen. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Betroffene bezüglich des ihm zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoßes substantiiert verteidigt hat und der Tatrichter die Bedeutung der Betroffeneneinlassung verkannt oder sie rechtlich unzutreffend gewürdigt hat (vgl. Senatsbeschlüsse vom 24. -Januar 2019 – Ss Bs 107/2018 (76/18 OWi) ZfSch 2019, 351 f. und juris, vom 9. April 2019 – Ss Bs 16/2019 (18/19 OWi) und vom 12. Juni 2019 – Ss Bs 2/2019 (29/19 OWi) OLG Karlsruhe, a. a. O., juris Rn. 9). Im Hinblick auf die festgesetzte, die Regelgeldbuße in Höhe von 160,— € nach Nr. 11.3.6 der Tabelle 1 des Anhangs zu Nr. 11 des Bußgeldkatalogs der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV um das Vierfache übersteigende Geldbuße von 640,— € ist auch kein Fall von geringer Bedeutung gegeben (vgl. OLG Koblenz, a. a. O.; Senatsbeschluss vom 12. Juni 2019 – Ss Bs 2/2019 (29/19 OWI) -), weshalb eine Wiedergabe und — gegebenenfalls — Auseinandersetzung mit der Einlassung des Betroffenen zum Tatvorwurf auch nicht gänzlich entbehrlich war.“

StPO III: Der gemeinschaftliche Nebenklägerbeistand, oder: Ermessen für das „Wann“ und das „Wen“

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Die dritte und letzte Entscheidung hat auch eine Frage in Zusammenhang mit der Nebenklage zum Inhalt, und zwar zum (neuen) § 379b StPO. Geregelt/vorgesehen ist in der Vorschrift der „gemeinschaftliche Nebenklägerbeistand“, den das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ (BGBl I, S. 2121) eingeführt hat (vgl. wegen der Einzelh. Burhoff ZAP F 22, S. 1009, 1025 ff. – Modernisierung des Strafverfahrens – Teil 2 Hauptverhandlung). Danach kann, wenn mehrere Nebenkläger gleichgelagerte Interessen verfolgen, ihnen das Gericht einen gemeinschaftlichen Rechtsanwalt als Beistand bestellen.

Zu dessen Auswahl hat das OLG Karlsruhe im Beschl. v. 08.05.2020 – 2 Ws 94/20 – Stellung genommen. Ich stelle hier aus dem doch rcht umfangreich begründeten Beschluss nur die Leitsätze vor, ggf. bitte im Volltext nachlesen:

1. Die Regelung des § 397b StPO ist als Kann-Vorschrift ausgestaltet und belässt dem Gericht sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen. Gleichgelagerte Interessen werden nach der ausdrücklichen gesetzlichen Vorgabe in § 397b Absatz 1 Satz 2 StPO in der Regel bei Nebenklägern anzunehmen sein, die nahe Angehörige desselben Getöteten sind (§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO).

2. Nicht jeder Interessenunterschied begründet schon einen Interessenwiderstreit. Gleichgelagerte Interessen im Sinne der Neuregelung setzen keine Interessengleichheit oder vollständige Einigkeit der Nebenkläger voraus. Unterschiedlich weit gehende Interessen verschiedener Nebenkläger stehen der Annahme gleichgelagerter Interessen nicht entgegen.

3. Bei der gemäß § 397b Abs. 1 StPO zu treffenden Auswahlentscheidung sind nach der Intention des Gesetzgebers weder eine „Waffengleichheit“ der einzelnen Nebenkläger noch ein „besonderes Vertrauen“ zum selbst gewählten Beistand bestimmende Gesichtspunkte. Im Gegensatz zur in § 142 StPO n.F. geregelten Auswahl des zu bestellenden Pflichtverteidigers, bei welcher der bezeichnete Verteidiger regelmäßig zu bestellen ist, kommt dem objektiven Vorliegen gleichgelagerter Interessen der verschiedenen Nebenkläger maßgebliche Bedeutung zu. Eine Bindung des Gerichts an die jeweilige Wahl der verschiedenen Nebenkläger würde der gesetzlichen Regelung, mehreren Nebenklägern einen vom Gericht zu bestimmenden gemeinschaftlichen Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen, ersichtlich zuwiderlaufen. Einen übereinstimmenden Antrag der betroffenen Nebenkläger hinsichtlich des auszuwählenden Nebenklägervertreters sieht das Gesetz gerade nicht vor.

StPO II: Der helfende/unterstützende Nebenkläger, oder. Fortbestand der Anschlussbefugnis

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehenen BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 3 StR 214/20. Der BGH entscheidet mit ihm eine Streitfrage, nämlich: Besteht die Anschlussbefugnis des Nebenklägers auch bei einem Freispruchantrag fort? Oder: Kann/darf der Nebenkläger den Angeklagten „unterstützen“?

Hier wurde dem Angeklagten zur Last gelegt, im Alter von 14 Jahren versucht zu haben, seine schlafenden Pflegeeltern zu erstechen, und sie dabei erheblich verletzt zu haben. Diese hatten bereits vor der Anklageerhebung erklärt, sich dem Verfahren als Nebenkläger anzuschließen. Daraufhin hat das LG sie im Eröffnungsbeschluss als anschlussberechtigt angesehen.

Nachdem die Nebenkläger in der Hauptverhandlung eine Vielzahl von Anträgen gestellt hatten, die neben den Eingangskriterien der §§ 20, 21 StGB insbesondere die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten nach § 3 JGG zum Gegenstand hatten, hat die Strafkammer den Beschluss über die Zulassung der Nebenklage aufgehoben und die Nebenkläger am folgenden Verfahren nicht mehr beteiligt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Nebenkläger erkennbar das Ziel verfolgten, einen Freispruch des Angeklagten zu erreichen, und es in einem solchen Fall auch für den in § 395 Abs. 1 bis 3 StPO genannten Personenkreis an einer Anschlussbefugnis fehle. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Nebenkläger, der das LG nicht abgeholfen hat, hat das OLG als prozessual überholt und eine eigene Entscheidung als nicht veranlasst angesehen.

Inzwischen hat das LG den Angeklagten u.a. wegen versuchten Mordes in zwei tateinheitlich zusammentreffenden zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hiergegen wenden sich der Angeklagte und die Nebenkläger mit ihren Revisionen. Der BGH hat das Verfahren an das LG zurückgegeben. Eine Entscheidung des Senats über die Rechtsmittel sei derzeit nicht möglich, da den Nebenklägern das Urteil und die Revisionsschrift des Angeklagten bislang nicht zugestellt worden sei. Nach Auffassung des BGH ist das aber erforderlich, da die Anschlussberechtigung der Nebenkläger weiter fortbestehe:

„2. Die Anschlussberechtigung der Nebenkläger besteht weiter fort.

a) Der Senat hat die Anschlussberechtigung der Nebenkläger ohne Bindung an bisherige Entscheidungen als Verfahrensvoraussetzung für das Rechtsmittelverfahren zu prüfen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Oktober 1995 – 2 StR 470/95, BGHSt 41, 288, 289 mwN; vom 3. Dezember 2019 – 2 StR 155/19, NStZ-RR 2020, 91; BT-Drucks. 10/5305 S. 13).

b) Die Berechtigung zur Nebenklage ist nach den gegebenen Umständen gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 JGG eröffnet. Die Befugnis, sich der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anzuschließen, entfällt nicht dadurch, dass die Nebenkläger in der Hauptverhandlung die Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) und die strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) des Angeklagten in Zweifel ziehende Anträge stellen und letztlich dessen Freispruch erstreben.

aa) Der Gesetzeswortlaut sieht in § 80 Abs. 3 Satz 1 JGG ebenso wie in § 395 Abs. 1 StPO als Voraussetzung für die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger lediglich vor, durch eine dem jeweiligen Straftatenkatalog unterfallende rechtswidrige Tat – gegebenenfalls mit besonderer Opferbetroffenheit (§ 80 Abs. 3 Satz 1 JGG aE) – verletzt zu sein. Dass der Nebenkläger darüber hinaus ein bestimmtes Ziel erstreben muss oder eine zunächst berechtige Nebenklage je nach Verfahrensziel unzulässig wird, ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen.

bb) Der systematische Zusammenhang ergibt nichts anderes.

Nach § 397 StPO stehen Nebenklägern bestimmte Verfahrensrechte zu. Eine Begrenzung dieser Rechte mit Blick auf den verfolgten Zweck ist nicht normiert. Soweit die Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers nach § 400 StPO eingeschränkt ist (vgl. dazu BT-Drucks. 10/5305 S. 15), handelt es sich um konkret gefasste Sonderregelungen. Aus diesen einen Rückschluss auf die grundlegende Nebenklagebefugnis zu ziehen, ist nicht möglich. Vielmehr sind die Berechtigungen zum Anschluss und zur Einlegung von Rechtsmitteln getrennt zu betrachten, so dass etwa einerseits ein Nebenkläger zuzulassen, andererseits aber seine Revision als unzulässig zu verwerfen sein kann (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2020 – 4 StR 503/19, juris Rn. 2 f.). Im Übrigen ist selbst in einem Fall, in dem ein Nebenkläger einen Freispruch des Angeklagten hinnimmt, eine zulässige Rechtsmitteleinlegung möglich, wenn diese auf eine auch dem Schutz des Nebenklägers dienende Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB abzielt (s. BGH, Urteil vom 7. Juni 1995 – 2 StR 206/95, NStZ 1995, 609, 610).

Ferner kommt den Formulierungen, dass sich der „Nebenkläger“ der öffentlichen Klage „anschließen“ kann, angesichts der diesem eigenständig gewährten Verfahrensrechte im hier zu beurteilenden Zusammenhang ebenfalls keine entscheidende Bedeutung zu. Eine Verpflichtung des Nebenklägers, die Anklage zu vertreten und daran etwa noch ungeachtet der Erkenntnisse der Hauptverhandlung festzuhalten, ergibt sich daraus nicht (vgl. etwa zu einem zulässigen Antrag auf Freispruch OLG Schleswig, Beschluss vom 2. August 1999 – 2 Ws 239/99 u.a., NStZ-RR 2000, 270, 272). Stattdessen bietet seine selbständige Stellung ihm die Möglichkeit, auf eine sachgerechte Ausübung der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Amtsaufklärungspflicht hinzuwirken (s. BT-Drucks. 10/5305 S. 14; zur Interessenwahrnehmung im Falle eines Freispruchs BGH, Urteil vom 7. Juni 1995 – 2 StR 206/95, NStZ 1995, 609, 610). Die Änderungen der Regelungen zur Nebenklage durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 (BGBl. I S. 2496) haben dazu geführt, dass die frühere Vorstellung von der im Nebenklageverfahren „doppelt besetzten Anklagerolle“ aufgegeben wurde und nicht mehr maßgeblich ist, dass die Nebenklage ihrem Wesen nach auf die Bestrafung des Täters abziele (s. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2001 – 1 StR 268/01, BGHSt 47, 202, 205; zur historischen Entwicklung auch Altenhain, JZ 2001, 791, 795 f.).

cc) Der Zweck der Nebenklage spricht gleichfalls nicht für deren Beschränkung. Der Nebenkläger soll eine umfassende, in erster Linie dem Verletztenschutz dienende Beteiligungsbefugnis im gesamten Verfahren mit der Möglichkeit erhalten, sich aktiv am Verfahren zu beteiligen, durch Erklärungen, Fragen, Anträge und gegebenenfalls Rechtsmittel auf das Verfahrensergebnis einzuwirken (BT-Drucks. 10/5305 S. 11), seine Sicht der Tat und der erlittenen Verletzungen einzubringen und seine Interessen aktiv zu vertreten (BT-Drucks. 16/3640 S. 54). In welcher Weise der (etwaig) Verletzte seine Belange am besten geschützt sieht, unterliegt infolge seiner Stellung als ein mit selbständigen Rechten ausgestatteter Prozessbeteiligter (BT-Drucks. 10/5305 S. 14) regelmäßig seiner eigenen Einschätzung.

dd) Die Gesetzesbegründung gibt ebenso keinen Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber über die gesetzlich normierten Merkmale des § 395 Abs. 1 StPO oder § 80 Abs. 3 JGG weitere ungeschriebene Anforderungen für die Begründung der Nebenklagebefugnis stellen wollte. Vielmehr gehen die Gesetzesmaterialien ausdrücklich davon aus, § 395 Abs. 1 StPO bezeichne „diejenigen Fälle, in denen ein Verletzter ohne zusätzliche Voraussetzungen zum Anschluß als Nebenkläger berechtigt ist“ (BT-Drucks. 10/5305 S. 12; zu § 80 JGG BT-Drucks. 16/3640 S. 54; zu den Voraussetzungen der Anschlussbefugnis allgemein BGH, Beschluss vom 25. Mai 2011 – 4 StR 126/11, juris Rn. 3 mwN).

ee) Insgesamt besteht die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger demnach unabhängig davon fort, ob die Nebenkläger einen Freispruch des Angeklagten wegen fehlender Reife oder Schuldfähigkeit zum Ziel haben (anders dagegen im Allgemeinen – zumeist ohne tiefergehende Erörterung – Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 395 Rn. 1; KK/Walther, StPO, 8. Aufl., § 396 Rn. 5; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., Vorbemerkungen Vor § 395 Rn. 2; MüKo-StPO/Valerius, § 395 Rn. 39; SSW-StPO/Schöch, 4. Aufl., § 396 Rn. 6; KMR/ Kulhanek, StPO, 88. EL, § 395 Rn. 16; demgegenüber SK-StPO/Velten, 4. Aufl., § 395 Rn. 17 f.; Altenhain, JZ 2001, 791 ff.; Daimagüler, Der Verletzte im Strafverfahren, 2016, Rn. 232; ohne Festlegung Eisenberg/Kölbel, JGG, 21. Aufl., § 80 Rn. 16c). Dieses Ergebnis steht mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Einklang, der beispielsweise in einem Fall, in dem die Nebenklägerin die Aufhebung eines Urteils zugunsten des aus ihrer Sicht zu Unrecht verurteilten Angeklagten beantragte, die Revision zwar als unzulässig ansah, ihr aber nicht zugleich die Anschlussbefugnis absprach (s. BGH, Beschluss vom 12. Juli 1990 – 4 StR 247/90, BGHSt 37, 136 f.).

Letztlich bedarf keiner abschließenden Erörterung, ob vor dem aufgezeigten Hintergrund die Ansicht zutrifft, die Anschlussbefugnis fehle in solchen Fällen, in denen sich Nebenkläger bereits zum Zeitpunkt der Anschlusserklärung nicht durch den Angeklagten verletzt glauben (so OLG Schleswig, Beschluss vom 2. August 1999 – 2 Ws 239/99 u.a., NStZ-RR 2000, 270 ff.; vgl. auch OLG Rostock, Beschluss vom 26. März 2012 – I Ws 77/12, NStZ 2013, 126 f.; kritisch jeweils Altenhain, JZ 2001, 791, 797 ff.; Bock, JR 2013, 428 f.; Noack, ZIS 2014, 189 ff.); denn eine solche Verfahrenskonstellation liegt ersichtlich nicht vor.“

StPO I: Fehlen eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses?, oder: Ggf. Verfahrenshindernis?

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Der Tag heute ist drei StPO-Entscheidungen gewidmet. Den Auftakt mache ich mit dem BGH, Beschl. v. 05.08.2020 – 3 StR 194/20. Problematik: Ist/war die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen oder ist das „versäumt“ worden und besteht deshalb ggf. ein Verfahrenshindernis. Die Frage beschäftigt die Revisionsgerichte ja immer wieder, vor allem in den Fällen der Übernahme von Verfahren und/oder der Verbindung. So auch hier.

Der BGH bejaht aber das Vorliegen eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses:

„Die Verfahrensvoraussetzung eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses liegt hinsichtlich aller fünf vom Landgericht unter II. festgestellten Fälle vor, obwohl die Strafkammer die den Fällen 1 bis 3 jeweils zugrundeliegenden Anklagen nicht ausdrücklich zur Hauptverhandlung zugelassen hat.

Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde:

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Angeklagten eine Vielzahl von Anklagen beim Amtsgericht erhoben. Dieses hat einen Großteil der einzelnen Verfahren zu einem führenden Verfahren verbunden, darunter die hiesigen Fälle 1 bis 3. Das führende Verfahren hat es nebst den verbundenen Sachen und weiteren einzelnen, noch nicht hinzuverbundenen Verfahren, darunter die die hiesigen Fälle 4 und 5 betreffenden, dem Landgericht zur Übernahme übersandt.

Die Strafkammer hat unter dem 5. Dezember 2019 das führende Verfahren übernommen und eröffnet, wobei es nur die diesem zugrundeliegende, einen weiteren Tatvorwurf betreffende Anklage gemäß § 207 Abs. 1 StPO ausdrücklich bezeichnet hat. Die Anklagen der hinzuverbundenen Verfahren, darunter die die Fälle 1 bis 3 betreffenden, finden in dem Beschluss keine Erwähnung. Daneben hat es die weiteren, bis dahin separaten Verfahren, darunter die die hiesigen Fälle 4 und 5 betreffenden, übernommen, zum führenden Verfahren verbunden und die zugrundeliegenden Anklagen jeweils zur Hauptverhandlung zugelassen.

Zum ersten Hauptverhandlungstag ist der Angeklagte nicht erschienen. Die mit drei Richtern besetzte Strafkammer hat daraufhin gemäß § 230 Abs. 2 StPO einen Haftbefehl erlassen, in welchem die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten im Einzelnen aufgeführt sind. Darunter finden sich alle später als Fälle 1 bis 5 festgestellten Tatvorwürfe.

Damit hat das Landgericht insgesamt hinreichend dokumentiert, dass es die Eröffnungsvoraussetzungen auch für die den Fällen 1 bis 3 zugrundeliegenden Anklagen geprüft und angenommen hat. Zwar ist aus Gründen der Rechtsklarheit bei verbundenen Strafsachen grundsätzlich ausdrücklich schriftlich über die Eröffnung hinsichtlich jeder einzelnen Anklage zu entscheiden; der Verbindungsbeschluss allein bewirkt die Eröffnung in der Regel auch dann nicht, wenn das führende Verfahren bereits eröffnet ist oder – wie hier – später eröffnet wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. August 2017 – 2 StR 199/17, NStZ 2018, 155; vom 4. August 2016 – 4 StR 230/16, NStZ 2016, 747; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 4. April 2019 – 2 Rev 7/19, juris Rn. 16 f.). Zur Eröffnung des Hauptverfahrens genügt jedoch die schlüssige und eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage nach Prüfung und Bejahung der Eröffnungsvoraussetzungen zur Hauptverhandlung zuzulassen. In Fällen, in denen das den Eröffnungsbeschluss enthaltende Schriftstück diesen Willen nicht sicher erkennen lässt, kann aus anderen Urkunden oder Aktenbestandteilen eindeutig hervorgehen, dass die zuständigen Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens tatsächlich beschlossen haben (st. Rspr.; s. BGH, Beschluss vom 17. September 2019 – 3 StR 229/19, NStZ 236 f. mwN). Zu solchen Urkunden zählt gegebenenfalls ein Haftbefehl (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 1998 – 4 StR 606/97, NStZ-RR 1999, 14, 15).

Die letztgenannten Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Denn die Strafkammer hat schon durch ihre Beschlüsse vom 5. Dezember 2019 zu erkennen gegeben, dass sie sich des Erfordernisses der Eröffnung jeder einzelnen Anklage bewusst gewesen ist. Dies zeigt sich daran, dass sie hinsichtlich der separaten, noch nicht hinzuverbundenen Sachen eigenständige Eröffnungsentscheidungen getroffen hat. Daneben hat der Vorsitzende bei der Terminierung der Hauptverhandlung Zeugen auch für die bereits durch das Amtsgericht zum führenden Verfahren hinzuverbundenen Strafsachen geladen. Maßgebend kommt hinzu, dass das Landgericht in voller Kammerbesetzung gemäß § 230 Abs. 2 StPO einen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen hat. In diesem hat es im Einzelnen angeführt, welcher Taten der Angeklagte „hinreichend verdächtig und angeklagt“ ist. Darunter befinden sich auch die später als Fälle 1 bis 3 festgestellten Tatvorwürfe.“

Die Frage muss man als Verteidiger im Blick haben. Sie muss man zwar nicht rügen, da sie von Amts wegen  zu prüfen ist, es empfiehlt sich aber immer, das Revisionsgericht ggf. darauf hinzuweisen.

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Ist die Vernehmungsterminsgebühr entstanden?

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Am vergangenen Freitag lautete die Frage: Ich habe da mal eine Frage: Ist die Vernehmungsterminsgebühr entstanden?

Und das war meine Antwort:

„Sorry, verstehe die Frage nicht.

Das ist m.E. doch letztlich völlig egal.

Nach Anm. S. 2 zur Nr. 4102 VV RVG werden doch drei „Hafttermine“ eh zu einer Vernehmungsterminsgebühr zusammengefasst. Mehr als eine Vernehmungsterminsgebühr können Sie für die Termine Nr. 1, 3 und 6 also doch eh nicht bekommen, mal vorausgesetzt alle drei Termine waren Termine i.S. von Nr. 4102 Nr. 3 VV RVG.

Erst ab dem nächsten Hafttermine würde es wieder interessant.“

Kollege meinte darauf, dass es sich manchmal lohnt, eine Vorschrift ganz zu lesen 🙂 🙂 .