Archiv für den Monat: April 2015

Der Gebrauchtwagenkauf und die Nachlackierung – Mangel?

buch_paragraphenzeichen_BGB_01Im OLG Hamm, Beschl. v. 15.12.2014 – 2 U 97/14, einem sog. Hinweisbeschluss, nimmt das OLG zur Frage Stellung, ob eine  fachgerecht durchgeführte Nachlackierung einen Mangel eines gebraucht verkauften Pkw i.S. von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB darstellt. Der Käufer/Kläger hatte Rückabwicklung des PKW-Kaufvertrages begehrt und behauptet, die Beklagte/Verkäufering habe ihm einen – reparierten – Schaden arglistig verschwiegen. Die Beklagte habe um Nachlackierungen gewusst bzw. darum wissen müssen und nicht darauf hingewiesen. Aus dem Wissen der Beklagten um die Nachlackierungen habe sich deren Verpflichtung ergeben, nachzuprüfen, was für ein Schaden vorgelegen habe. Das sei nicht geschehen. Einen sich aus den Nachlackierungen ergebenden Verdacht eines Unfallschadens hätte die Beklagte mitteilen müssen. Dass sie das unterlassen habe, begründe Arglist.

Das LG hat die Klage abgewiesen und das OLG rät dem Kläger, seine Berufung zurückzunehmen:

„a) Eine Nachlackierung bedeutet, soweit sie fachgerecht durchgeführt worden ist, keinen Mangel im Sinne des § 434 I 2 Nr. 2 BGB, BGH VIII ZR 191/07. Für die Frage, ob eine Nachlackierung an sich einen Mangel bedeutet, macht es, anders als die Berufung möglicherweise meint, keinen Unterschied, ob dem Verkäufer die Nachlackierung bekannt war oder nicht. Dafür, dass die Nachlackierung nicht fachgerecht durchgeführt worden wäre, ist nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich.

b) Der Wagen ist auch kein Unfallwagen. Vielmehr ist es – anderes ist jedenfalls nicht feststellbar – zu einer Beschädigung durch einen Transport gekommen. Ob eine derartige – reparierte – Beschädigung ebenso, wie Unfallwageneigenschaft zur Annahme eines Mangels führt, mag dahin stehen. Ein Mangel ist – wie bei der Frage der Unfallwageneigenschaft, Reinking/Eggert, Autokauf, 12. Auflage, Rz. 3097, jedenfalls nur dann gegeben, wenn die – reparierte – Beschädigung als erheblich anzusehen ist. Davon kann bei den von der Zeugin N geschilderten, minimalen Dellen nicht die Rede sein.

c) Ein bloßer Mangelverdacht, der sich nach dem Vorbringen des Klägers im Hinblick auf einen relevanten Vorschaden aus der Nachlackierung ergeben soll, bedeutet im Grundsatz keinen Mangel, Reinking/Eggert, a.a.O. Rz. 3287. Ein Mangelverdacht vermag nur in besonderen Fällen einen Mangel begründen. Voraussetzung dafür ist jedenfalls, dass der Mangelverdacht nicht ausgeräumt werden kann. So liegt die Sache hier nicht. Der Verdacht eines relevanten Vorschadens war durch Untersuchung der Nachlackierungsbereiche auszuräumen. Entsprechend hat der Sachverständige im Beweissicherungsverfahren auch nichts gefunden, was auf einen relevanten Vorschaden hindeutet. Vielmehr hat er in seinem zweiten Ergänzungsgutachten vom 08.07.2013 im Beweissicherungsverfahren ausgeführt: Ersatz von Anbauteilen sei nicht erfolgt, Richtarbeiten seien nicht vorgenommen worden; Anhaltspunkte für den vorgetragenen Unfallschaden im Dachbereich seien den zur Verfügung stehenden Anknüpfungstatsachen nicht zu entnehmen; festzustellen sei lediglich, dass das Fahrzeug nachlackiert gewesen sei.“

Mehr als deutlich….

Fristenkontrolle bei elektronischer Aktenführung, so muss man es machen II

laptop-2Im Spätsommer 2014 hatte ich über den BGH, Beschl. v. 09.07.2014 – XII ZB 709/13 berichtet (vgl. Fristenkontrolle bei elektronischer Aktenführung, so muss man es machen). Daran schließe ich heute mit einem Hinweis auf den BGH, Beschl. v. 27.01.2015 – II ZB 23/13 – an, der erneut die Fristenkontrolle bei einem elektronisch geführten Fristenkalender zum Gegenstand hat. Zu beurteilen hatte der BGH folgenden Sachverhalt:

Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin arbeiten mit dem Anwaltsprogramm WinMacs. Alle Akten der Kanzlei werden elektronisch innerhalb dieses Anwaltsprogramms geführt. Auch der Fristenkalender wird ausschließlich elektronisch in diesem Programm geführt. Das Programm ist zentral auf dem Terminalserver in den Kanzleiräumen in R. gespeichert. Erst wenn man sich über den Terminalserver bei WinMacs anmeldet, hat man Zugriff auf die Akten und den Fristenkalender. Der Server ließ sich am Morgen des 05.08.2013, an einem Montag, aufgrund eines am Wochenende eingetretenen Schadens nicht hochfahren. Der unverzüglich beauftragte Computertechniker hat den ganzen Tag versucht, das Problem zu beheben. Da es sich aber um ein größeres Problem gehandelt hat, ist es erst am 06.08.2013 gelungen, den Serverzugang soweit herzustellen, dass auf WinMacs wieder zugegriffen werden konnte. Wegen dieses Fehlers ist es zum Ablauf einer Berufungsbegründungsfrist gekommen, ohne dass die Berufung begründet worden ist.

Der Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin ist zurückgewiesen worden. Der BGH meint – in Übereinstimmung mit dem OLG: Ist der Zugriff auf einen ausschließlich elektronisch geführten Fristenkalender wegen eines technischen Defekts einen ganzen Arbeitstag lang nicht möglich, kann es die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts in Fristensachen verlangen, dass die dem Rechtsanwalt vorliegenden Handakten auf etwaige Fristabläufe hin kontrolliert werden:

b) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass der sachbearbeitenden Rechtsanwältin die Handakte des vorliegen-den Berufungsverfahrens aufgrund der auf den 29. Juli 2013 notierten Vorfrist an diesem Tag zur Bearbeitung vorgelegt wurde und es weder dargelegt noch glaubhaft gemacht ist, dass die Handakte von der sachbearbeitenden Rechtsanwältin nachfolgend wieder zur erneuten Wiedervorlage erst auf den 5. August 2013 wegverfügt wurde. Für die rechtliche Beurteilung im Rechtsbeschwerde-verfahren ist von diesen von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen Feststellungen auszugehen.

Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht der Prozess-bevollmächtigten der Klägerin nicht überspannt, wenn es von der sachbearbeitenden Rechtsanwältin erwartet, dass die ihr vorliegenden – nicht alle, wie die Rechtsbeschwerde unterstellt – Handakten händisch auf etwaige Fristabläufe hin kontrolliert werden. Treten Störungen in der Organisation des Büros auf, die dazu führen können, dass die Pflichten des Anwalts bei der Fristenkontrolle nicht erfüllt werden, erhöhen sich seine Sorgfaltspflichten. Er muss sicherstellen, dass seine Angestellten ihre Aufgaben auch dann zuverlässig erfüllen, wenn das zur Fristenkontrolle eingerichtete System aufgrund eines Computerdefekts vorübergehend nicht zuverlässig funktioniert (vgl. BGH, Beschluss vom 1. April 1965 – II ZB 11/64, VersR 1965, 596 f.; Beschluss vom 26. August 1999 – VII ZB 12/99, NJW 1999, 3783; Beschluss vom 15. September 2014 – II ZB 12/13, juris Rn. 13; BFH, Beschluss vom 23. Dezember 2005 – VI R 79/04, BFH/NV 2006, 787 Rn. 12; Beschluss vom 17. Juli 2006 – VII B 291/05, BFH/NV 2006, 1876 Rn. 7). Die Durchsicht der vorgelegten Handakten drängt sich insbesondere deshalb auf, weil die Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen ist (statt anderer Nachweise BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 – II ZB 3/11, NJW-RR 2012, 747 Rn. 9), so dass die Prozessbevollmächtigte der Klägerin damit rechnen musste, dass sich unter den ihr vorliegenden Handakten solche befinden, die ihr aufgrund der Vorfrist im Hinblick auf den bevorstehenden Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vorgelegt worden sind. Dies gilt vorliegend erst recht, weil nach dem Wiedereinsetzungsvorbringen der Klägerin mit solchen Fristabläufen konkret zu rechnen gewesen ist.“

Ganz ungefährlich ist die elektronische Aktenführung also nicht….

Ich habe da mal eine Frage: Werden Mehrkosten einer blinden Pflichtverteidigerin erstattet?

Fotolia © AllebaziB

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Aus Berlin hat mich Ende 2014 eine etwas ungewöhnliche Frage erreicht. Die anfragende Kollegin hat sie selbst als „sehr spezielle Frage“ bezeichnet. Und zwar ging es um „Auslagenersatz“ wie folgt:

„Sehr geehrter Herr Burhoff,

…… Wie ich bereits einmal schrieb, aber das dürfen Sie bei all den Anfragen auch getrost wieder vergessen haben, bin ich die erste von Geburt an blinde Strafverteidigerin in der Bundesrepublik. Allerdings können mir auch meine spät erblindeten männlichen Kollegen nicht helfen.

Ich muss nächstes Jahr für sechs Verhandlungstage nach Ulm. Ich bin als Pflichtverteidigerin beigeordnet. Ich muss mit meiner Angestellten reisen und aufgrund des Verfahrensbeginns um 08.30 Uhr und Ende gegen 18.00 Uhr auch übernachten. – Ach so, ich sollte vielleicht noch sagen, dass ich aus Berlin anreise.

Bezüglich meiner Angestellten entstehen Übernachtungsmehrkosten für deren Zimmer sowie anteilige Flugkosten, da zwar für Begleitung einer behinderten Person die Transportkosten nicht in Ansatz gebracht werden, allerdings die Verwaltungskosten und Steuern.

Es geht nun darum, ob aus der Staatskasse auch diese Mehrkosten einer behinderten Pflichtverteidigerin zu erstatten wären. Falls nicht, müsste das Integrationsamt einspringen, aber ich hätte durchaus auch Lust, das auszufechten. Wenn Sie eine Idee haben oder es eine mir unbekannte Entscheidung dazu gibt, würde ich mich freuen.“

Wirklich „speziell“. Hatte ich bis dahin auch noch nicht. Vielleicht hat ja jemand über Ostern eine zündende Idee. Die Lösung bzw. den Lösungsversuch gibt es dann wegen des Feiertages am Montag erst am kommenden Dienstag.

Pflichtverteidiger und „Negativprognose“ beim Besitzverschaffen kinderpornographischer Schriften

© reeel - Fotolia.com

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Ist zwar Feiertag heute, aber ein bisschen Jura geht ja vielleicht. Und deshalb weise ich auf den schon etwas älteren LG Cottbus, Beschl. v. 28.07.2014 – 24 Qs 33/13, hin, der in doppelter Hinsicht ganz interessant ist. Er behandelt nämlich die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Verfahren nach § 81 g StPO und verhält sich zur Negativprognose im Rahmen des § 81g StPO  in einem Verfahren wegen Besitzverschaffens kinderpornographischer Schriften nach § 184b StGB.

Zur Pflichtverteidigung heißt es:

a) Die Bestellung eines Pflichtverteidigers bei analoger Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist hier geboten, weil der Betroffene mit Blick auf die im Rahmen der nach § 81 g StPO vorzunehmende Prognosebetrachtung nicht in der Lage ist, sich selbst in angemessener Weise zu verteidigen. Insbesondere muss es ihm unbenommen sein, die zu seinen Gunsten sprechenden Umstände hervorzuheben. Wie der Verteidiger zutreffend hervorgehoben hat, kommt es bei der Prognosefrage auf eine Gesamtabwägung sämtlicher Umstände an. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Anlasstat, Vorstrafen, die Rückfallgeschwindigkeit, die Prägung in Richtung bestimmter Delikte, die Motivlage bei früheren Straftaten, das Verhalten des Betroffenen in der Bewährungszeit sowie frühere und derzeitige Lebensumstände. Nach den Feststellungen zur Person im Urteil des Amtsgerichts Strausberg vom 22.08.2012 verfügt der Beschwerdeführer über den Schulabschluss einer Förderschule. Zugunsten des Beschwerdeführers hatte die Kammer daher davon auszugehen, dass er nicht in der Lage ist, die Bedeutung der genannten Kriterien inhaltlich zu erfassen und selbst hierzu umfassend vorzutragen.

Auch für das bereits abgeschlossene Strafverfahren sah es das Amtsgericht Strausberg als geboten an, für den damaligen Angeklagten eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO vorzunehmen. Ein vernünftiger Grund, warum für das gesonderte Verfahren nach § 81 g StPO und das Beschwerdeverfahren ein anderer Maßstab anzulegen wäre, ist für die Kammer nicht ersichtlich.“

Und zur Negativprognose:

„Die Kammer folgt grundsätzlich der Auffassung des Amtsgerichts, dass es sich bei den Anlasstaten nicht um auf besondere Lebensumstände zurückzuführende Entgleisungen handelt, sondern dass diese vielmehr ihre Ursache in der Persönlichkeit des Betroffenen und insbesondere seiner sexuellen Neigung haben. Anhand des in Augenschein genommenen Datenmaterials ist zu schlussfolgern, dass der Betroffene eine pädophile Neigung hat. Die dargestellten Sexualpraktiken mit Jungen sprechen insoweit eine eindeutige Sprache. Die Neigung des Betroffenen ist aber nicht ausschließlich pädophil, sondern grundsätzlich gleichgeschlechtlich ausgerichtet. Denn nach dem in Augenschein genommenen Datenmaterial sind in einer Vielzahl der Dateien männliche Jugendliche im Alter von circa 18 Jahren nackt und mit erigiertem Geschlecht in aufreißerischer Art und Weise abgebildet. Zwar ist auch danach nicht grundsätzlich auszuschließen, dass beim Betroffenen bei regelmäßig sexuell motivierter Nutzung kinderpornographischer Darstellungen die Hemmschwelle für das tatsächliche Ausleben dieser Neigung, folglich der sexuelle Kindesmissbrauch, sinkt. In diesem Zusammenhang kommen aber den Umständen der Ersttätereigenschaft des Betroffenen, des Zeitablaufs und seines Bewährungsverhaltens besondere Bedeutung zu. Seit seiner zuletzt im September 2011 begangenen Tat nach § 184 b StGB, die auch Gegenstand der Verurteilung durch das Amtsgericht Strausberg ist, ist der Verurteilte nicht wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Weitere Vorverurteilungen existieren nicht, so dass sich hier auch keine Rückfallproblematik zur Prüfung stellt. Der aktuell eingeholte Auszug aus dem Bundeszentralregister weist lediglich die Verurteilung durch das Amtsgericht Strausberg vom 22.08.2012 aus.

Nachweislich des beigezogenen Bewährungsheftes vom Amtsgericht Strausberg verläuft die Bewährungszeit seit August 2012 beanstandungsfrei. Der Verurteilte hat sowohl die Zahlungsauflage mit Zahlung von 800,- Euro an die Landeskasse als auch die Weisung, sich einem Beratungsgespräch mit einem Sexualtherapeuten zu unterziehen, erfüllt. Insoweit liegt ein Bestätigungsschreiben des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks — Kind im Zentrum — vom 23.10.2012 vor.

Seit dem letzten Tatgeschehen sind circa zwei Jahre und neun Monate vergangen, ohne dass es Anhaltspunkte insbesondere für solche Tathandlungen gibt, die Gegenstand der Erstverurteilung des Betroffenen sind. Für die Kammer sind danach keine wesentlichen Umstände ersichtlich, die dem besonderen Begründungserfordernis im oben genannten Sinne entsprechen würden.“

Nichts Weltbewegendes, aber wohl abgewogen, wenn auch bei der Pflichtverteidigung eine Einzelfallentscheidung.

Sieben oder acht Punkte – das war die Frage, oder: Wie gilt die Bonusregelung?

© wwwebmeister - Fotolia.com

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Die Verkehrsrechtler sind in der letzten Zeit ein wenig kurz gekommen. Das liegt vor allem daran, dass es zwar ganz interessante Entscheidungen gibt/gegeben hat, die liegen aber leider noch nicht im Volltext vor. Und über PM berichte ich ja nicht so gern, jedenfalls „in der Regel“. Aber es gibt den Volltext zum OVG Münster, Beschl. v. 02.03.2015 · – 16 B 104/15 – mit einer „8-Punkte-Problematik“. Der Beschluss ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ergangen. Dem Antragsteller war im Oktober 2014 wegen Erreichung der 8-Punkte-Grenze die Fahrerlaubnis mit sofortiger Wirkung entzogen worden. Die Verwaltungsbehörde hatte das auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Der Antragsteller hat dann geltend gemacht, das die Punkteberechnung falsch ist. Eine vor der Zustellung der Verwarnung begangene Zuwiderhandlung aus Juni 2014 (Benutzung eines Mobiltelefons, geahndet mit 1 Punkt) hätte außer Betracht bleiben müssen, sodass er nur 7 Punkte habe. Das OVG hat die aufschiebende Wirkung der Klage wieder hergestellt.

„Vorliegend ist § 4 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 anwendbaren Fassung vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3313) anwendbar, da auf den Zeitpunkt des Ergehens der Entziehungsverfügung vom 20. Oktober 2014 abzustellen ist. Die letzte Änderungsfassung des § 4 StVG vom 28. November 2014 (BGBl. I S. 1802) ist nicht anwendbar. Die gerichtliche Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist nämlich auf die Sach? und Rechtslage im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde auszurichten. BVerwG, Urteil vom 27. September 1995 ? 11 C 34.94 ?, BVerwGE 99, 249 = juris, Rn. 9, und Beschluss vom 22. Januar 2001 ? 3 B 144.00 ?, juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschlüsse vom 24. Mai 2006 ? 16 B 1093/05 ?, VRS 111 (2006), 230 = juris, Rn. 5 f., und vom 23. April 2012 ? 16 E 22/12 ?.

In Ermangelung eines Widerspruchsverfahrens ist dies der Zeitpunkt des Erlasses der streitbefangenen Ordnungsverfügung.

Für die Beantwortung der Frage, wann sich acht Punkte im Sinne von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG ergeben, kommt es auf den Tag der Begehung der letzten zum Erreichen dieser Punkteschwelle führenden Tat an. Dies ist Ausdruck des nunmehr gesetzlich fixierten Tattagprinzips. Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Zur Rechtslage nach dem StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung etwa OVG NRW, Beschluss vom 17. Juni 2013 – 16 B 547/13 -, juris, Rn. 2 ff., m.w.N. auf die Rechtsprechung des BVerwG und des erkennenden Senats.

Einem Fahrerlaubnisinhaber, zu dessen Lasten sich im Verkehrszentralregister acht (oder mehr) Punkte ergeben haben, ist die Fahrerlaubnis daher unabhängig von später – vor oder nach Erlass der Entziehungsverfügung – eintretenden Punktetilgungen zu entziehen (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG).

Das Tattagprinzip ist auch bei Anwendung der Bonusregelung des § 4 Abs. 6 StVG zugrundezulegen. Das dort und in Absatz 5 verankerte Maßnahmensystem der Ermahnung bei Erreichen von vier oder fünf Punkten, der Verwarnung bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten und der Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen von acht oder mehr Punkten (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG) sieht vor, dass die Maßnahmen zwei und drei erst dann ergriffen werden dürfen, wenn die jeweils davor liegende Maßnahme bereits zuvor ergriffen worden ist (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Falls die Fahrerlaubnisbehörde sich nicht an diese Schrittfolge hält, verringert sich, wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis sechs oder acht Punkte erreicht oder überschreitet, der Punktestand auf fünf Punkte (Satz 2); wenn der Betroffene acht Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Maßnahme der Verwarnung ergriffen worden ist, verringert sich der Punktestand auf sieben Punkte (Satz 3). Entsprechend dem Gedanken des Tattagprinzips kommt es bei Anwendung der Regelungen über die Reduzierung von Punkten darauf an, ob die Zuwiderhandlungen zeitlich vor der Ermahnung oder Verwarnung liegen und ob die begangene Straftat oder Ordnungswidrigkeit rechtskräftig geahndet worden ist. Anderenfalls wäre die Anwendung der „Bonusregelung“ davon abhängig, ob die Fahrerlaubnisbehörde von den Verstößen bereits Kenntnis erlangt hat oder den bereits bekannten Verstoß in die Punkteaufstellung eingestellt hat. Die Auswirkung von solchen Zufällen widerspräche möglicherweise einer berechenbaren Anwendung des Gesetzes und damit den rechtsstaatlichen Vorgaben des Art. 20 Abs. 3 GG zur Rechtssicherheit. Denn die hier in Rede stehende Verlässlichkeit ist ein wesentliches Element der Rechtsordnung. Dahinter verbirgt sich die rechtsstaatliche Forderung, dass staatliche Hoheitsakte einerseits so klar und bestimmt und andererseits so beständig sein sollen, dass sich der Bürger auf sie hinreichend verlassen kann. Ohne ein Mindestmaß an solcher Verlässlichkeit bleibt das Handeln des Staates für den Bürger unvorhersehbar und damit sowohl unberechenbar als auch unverständlich.“