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StPO I: Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, oder: Zweifel an der Verhandlungsfäigkeit genügen

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Heute mache ich dann einen StPO-Tag.

Den Reigen eröffne ich mit dem BGH, Beschl. v. 06.12.2023 – 5 StR 453/23 – zur Frage der Auswirkungen von Zweifeln des Gerichts an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten.

Es geht um ein Verfahren, das beim LG Bremen anhängig war. Das LG hat den Angeklagten wegen Diebstahls verurteilt, ihn im Übrigen freigesprochen, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Dagegen die Revision, die mit der Verfahrensrüge Erfolg hatte..

Der BGH geht im Wesentlichen von folgendem Verfahrensgeschehen aus:

„a) Der Beanstandung liegt folgender Verfahrenssachverhalt zugrunde: Einen Tag vor Beginn der Hauptverhandlung am 20. Februar 2023 stellte der Verteidiger den Antrag, den ersten Hauptverhandlungstermin wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten aufzuheben und eine Stellungnahme der behandelnden Ärzte zur Verhandlungsfähigkeit, Aussagetüchtigkeit und Konzentrationsfähigkeit des Angeklagten sowie deren vermutlicher Dauer einzuholen. Begründet wurde dies damit, dass eine Terminsvorbereitung mit dem Angeklagten infolge psychischer Beeinträchtigung und Anzeichen von optischen und akustischen Halluzinationen nicht möglich gewesen sei. Ohne Erkundigungen des Gerichts zur Verhandlungsfähigkeit begann am nächsten Tag die Hauptverhandlung. Auf die Erklärung des Verteidigers, er halte den Angeklagten nicht für verhandlungsfähig, ordnete der Vorsitzende der Strafkammer an, dass die Hauptverhandlung nicht unterbrochen werden sollte, weil „ja insbesondere in der Hauptverhandlung geklärt werden [solle], ob die vorgeworfenen Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen wurden“; die einzelnen Termine sollten aber maximal drei Stunden dauern. Der Verteidiger beantragte daraufhin erneut, den Termin aufzuheben und ein Sachverständigengutachten zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten einzuholen.

In der folgenden Befragung zur Person gab der Angeklagte ein unzutreffendes Geburtsjahr an und konnte seinen Geburtsort nicht namentlich benennen; seine Antwort auf die Frage nach seiner Staatsangehörigkeit war unverständlich. Weitere Fragen wurden daraufhin nicht mehr gestellt. In der Folge beanstandete der Verteidiger die vom Vorsitzenden angeordnete Fortführung der Hauptverhandlung und beantragte eine Entscheidung des Gerichts, worauf die Strafkammer die Anordnung des Vorsitzenden ohne nähere Begründung bestätigte. Sodann wurden insbesondere die verfahrensgegenständlichen Anklageschriften und ein Strafbefehl sowie die zugehörigen Eröffnungs- und Verbindungsbeschlüsse verlesen, bevor die Hauptverhandlung für diesen Tag unterbrochen wurde.

Zwischen dem ersten und dem neun Tage später liegenden zweiten Hauptverhandlungstag ergriff das Landgericht keine Maßnahmen, um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten aufzuklären. Der Verteidiger erkundigte sich aber bei dem den Angeklagten behandelnden Oberarzt, der ihm mitteilte, dass der Angeklagte an einer floriden Psychose mit – eher unwahrscheinlich – nicht auszuschließenden optischen sowie wahrscheinlichen akustischen Halluzinationen leide, weshalb seine Konzentrationsfähigkeit stark eingeschränkt sei, krankheitsbedingte Verkennungen, Irrtümer und Verständnisprobleme zudem erwartbar seien. Zu Beginn des zweiten Hauptverhandlungstages am 1. März 2023 stellte der Verteidiger deshalb den Antrag, das Verfahren wegen vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten vorläufig einzustellen, hilfsweise die Hauptverhandlung auszusetzen, und beantragte erneut, ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten einzuholen.“

Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Das gefällt dem BGH aber nun gar nicht:

„b) Mit dieser Verfahrensweise hat das Landgericht jedenfalls an den ersten beiden Hauptverhandlungstagen im Sinne von § 338 Nr. 5 StPO in Abwesenheit des Angeklagten als einer Person verhandelt, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt. Nach § 230 Abs. 1 StPO findet eine Hauptverhandlung gegen einen ausgebliebenen Angeklagten nicht statt; seiner Abwesenheit steht grundsätzlich seine Verhandlungsunfähigkeit gleich. Daraus folgt, soweit nicht die Abwesenheitsverhandlung ausnahmsweise, etwa nach § 231a StPO gestattet ist, dass ein nach § 338 Nr. 5 StPO zu berücksichtigendes Verbot des Weiterverhandelns gemäß § 230 StPO schon dann vorliegt, wenn das Tatgericht Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten hat (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 1984 – 5 StR 449/84, NStZ 1984, 520).

Dem muss der Fall gleichstehen, in dem das Tatgericht bestehende Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit nur deshalb meint überwinden zu können, weil es einen rechtlich unzutreffenden Maßstab an die Verhandlungsfähigkeit anlegt. So verhält es sich hier:

Die Strafkammer hatte – wie sie es in dem Beschluss vom 8. März 2023, aber auch in dem angefochtenen Urteil ausgeführt hat – objektive Gründe, an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zu zweifeln, bei dem sie selbst „offensichtlich krankheitsbedingte Auffälligkeiten“ festgestellt hatte und den sie als „oftmals nur schwer erreichbar“ bezeichnete. Auch die durch den Verteidiger zwischen dem ersten und zweiten Hauptverhandlungstag von dem behandelnden Arzt eingeholten Informationen, nach denen der Angeklagte an einer floriden Psychose mit jedenfalls wahrscheinlichen akustischen Halluzinationen litt, boten nach den oben angegebenen Grundsätzen Anlass zur Abklärung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten unter Hinzuziehung fachkundiger Personen, zu der sich der Vorsitzende der Strafkammer aber erst in der Zeit nach dem zweiten Hauptverhandlungstag und vor Absetzung des Beschlusses der Strafkammer vom 8. März 2023 verstand. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Strafkammer aber bereits an zwei Hauptverhandlungstagen gegen das Verbot des Weiterverhandelns verstoßen.

Dem steht – anders als der Generalbundesanwalt meint – nicht entgegen, dass die Strafkammer Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten möglicherweise überwinden zu können glaubte, weil der Angeklagte die Geltendmachung seines Schweigerechts „im ganzen Satz“ zum Ausdruck bringen konnte und nicht zu bemerken gewesen sei, dass der Angeklagte „überhaupt nicht erkannt [habe], in welcher Situation er sich vor Gericht“ befunden habe. Unbeschadet des Umstands, dass damit der Begriff der Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 2. Februar 2022 – 5 StR 390/21 Rn. 12, BGHSt 67, 12) nicht zutreffend erfasst ist, haftet einer daraus erkennbaren eigenen Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit darüber hinaus der Makel an, dass die Strafkammer ihrer Prüfung einen falschen Maßstab zugrunde gelegt hat: Wird eine Hauptverhandlung im Sinne des sechsten Abschnitts des zweiten Buches der Strafprozessordnung (§§ 226 ff. StPO) gegen einen Angeklagten geführt, sieht § 230 Abs. 1 StPO – wie dargelegt – die Anwesenheit des Angeklagten verpflichtend vor. Das Verbot einer Hauptverhandlung gegen den ausgebliebenen Angeklagten ist zwingend, Ausnahmen davon sind nur dort und nur insoweit zulässig, als sie das Gesetz ausdrücklich bestimmt (LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 230 Rn. 3 mwN). Eine dieser Ausnahmen ist in § 415 StPO für das Sicherungsverfahren bestimmt. Liegt indes – wie hier – kein Sicherungsverfahren vor, greift auch die Ausnahmeregelung nicht. Die Regelungen für die Hauptverhandlung sind ausnahmslos anzuwenden. Das Landgericht durfte deshalb nicht unter Hinweis auf die im Sicherungsverfahren bestehenden Möglichkeiten die Anforderungen an die Anwesenheit und damit auch die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten absenken. Denn stellt sich heraus, dass gegen einen Angeklagten mangels Verhandlungsfähigkeit nicht nach den §§ 226 ff. StPO verhandelt werden kann, ist ein Übergang in ein Sicherungsverfahren ausgeschlossen, vielmehr muss das Verfahren eingestellt werden (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 2001 – 2 StR 498/00, BGHSt 46, 345, 346; Beschluss vom 21. Juni 2016 – 5 StR 266/16, NStZ 2016, 693). Die Staatsanwaltschaft hat sodann nach ihrem Ermessen zu entscheiden, ob nach § 413 StPO ein Sicherungsverfahren durchgeführt werden soll, das sie gemäß § 414 StPO durch einen entsprechenden Antrag einzuleiten hat (vgl. LR-StPO/Gaede, 27. Aufl., § 416 Rn. 17). Dieses Regelungsgefüge würde unterlaufen, wenn die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit in Fällen wie dem vorliegenden abgesenkt würden.

Es trifft entgegen der Auffassung des Landgerichts deshalb nicht zu, dass – solange gegen einen Angeklagten kein Sicherungsverfahren geführt wird – die Frage der Verhandlungsfähigkeit in Fällen, in denen „eine krankheitsbedingte Schuldunfähigkeit und eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB zu prüfen ist“, anders zu beurteilen wäre, als in jedem anderen subjektiven Strafverfahren. Vielmehr führt eine in einem solchen Verfahren festgestellte Schuldunfähigkeit zum Freispruch und gegebenenfalls zu einer Maßregel, etwa nach § 63 StGB (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 2001 – 2 StR 498/00, BGHSt 46, 345, 347); die Frage der Verhandlungsfähigkeit – deren Fehlen stellt im Übrigen eine gesonderte Voraussetzung eines Sicherungsverfahrens dar (§ 413 StPO; vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 2. Fe-bruar 2022 – 5 StR 390/21 Rn. 5, BGHSt 67, 12) – bleibt davon unberührt.

OWi III: Frist bei Rechtsbeschwerdeeinlegung gewahrt?, oder: Wie geht man mit Zweifeln um?

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Und zum Tagessschluss dann noch eine Entscheidung zum Rechtsbeschwerdeverfahren. Es geht um die Frage: Was gilt eigentlich bei Zweifeln an der Fristwahrung für die Rechtsbeschwerdeeinlegung?

Dazu meint das BayObLG im BayObLG, Beschl. v. 23.07.2020 – 201 ObOWi 881/20, der folgende Leitsätze hat:

1. Ist nicht mehr aufklärbar, ob eine vom Verteidiger ausweislich eines von ihm vorgelegten Sendeberichts per Telefax übermittelte Rechtsbeschwerdeeinlegungsschrift tatsächlich innerhalb der Wochenfrist bei Gericht eingegangen ist, ist das Rechtsmittel zugunsten des Beschwerdeführers als rechtzeitig eingegangen anzusehen und zu behandeln, wenn sein tatsächlicher Eingang bei Gericht feststeht (u.a. Anschluss an BGH, Beschl. v. 02.05.1995 – 1 StR 123/95 = StV 1995, 454 = BGHR StPO § 341 Frist 1 und 11.10.2017- 5 StR 377/17 bei juris sowie BayObLG, Urt. v. 09.12.1965 – 4b St 79/1965 = BayObLGSt 1965, 142).

2. Der Beschluss des Amtsgerichts, durch den der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 346 Abs. 1 StPO i.V.m. § 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG als unzulässig verworfen wurde, ist in einem solchen Fall bei Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts aufzuheben. Durfte der Tatrichter in einer derartigen Konstellation gemäß § 77b OWiG zunächst von der Fertigung von Entscheidungsgründen absehen, ist ihm analog § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Gelegenheit zur nachträglichen Fertigung der Urteilsgründe zu geben (Anschluss an BGH, Beschl. v. 04.10.2017 – 3 StR 397/17 bei juris).

Beweiswürdigung ist schwer…

Ja, Beweiswürdigung ist schwer. Das beweist mal wieder der BGH, Beschl. v. 11.08.2011 – 4 StR 191/11, in dem der BGH ein landgerichtliches Freispruchsurteil aufgehoben hat, mit dem das LG den Angeklagten vom Vorwurf des schweren Raubes frei gesprochen hatte.

Allgemein führt der BGH zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Beweiswürdigung und ihre Darstellung im Urteil aus:

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Denn die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 1998 – 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16 m.w.N.). Insbesondere sind die Beweise auch erschöpfend zu würdigen (BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 – 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGH, Urteil vom 14. August 1996 – 3 StR 183/96, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 11). Aus den Urteilsgründen muss sich auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (BGH, Urteil vom 23. Juli 2008 – 2 StR 150/08, NJW 2008, 2792, 2793 m.w.N.). Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung auch dann, wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt sind (BGH, Urteil vom 6. November 1998 – 2 StR 636/97 a.a.O.; BGH, Urteil vom 26. Juni 2003 – 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35, 36). Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (BGH, Urteile vom 26. Juni 2003 – 1 StR 269/02 aaO und vom 18. August 2009 – 1 StR 107/09, NStZ-RR 2010, 85, 86).“

Und das wendet er dann auf den Fall an und schreibt dem LG ins „Stammbuch“, was alles nicht richtig war. Das freut sich dann die jetzt zuständige Kammer, die nun weiß, „wie der BGH es gerne hätte“.