Und als zweites Posting dann noch einmal zwei Entscheidungen zur nachträglichen Beiordnung, quasi als Contra-Punkt zum OLG Brandenburg, Beschl. v. 09.03.2020 – 1 Ws 19/20 – 1 Ws 20/20 – und zum OLG Bremen, Beschl. v. 23.09.2020 – 1 Ws 120/20 -, die ich gestern vorgestellt hatte (Pflichti I: Keine nachträgliche Bestellung, oder: Für mich “unfassbare” OLGe Brandenburg und Bremen). Es geht also doch :-).
In dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53/20 – war vom AG nach Einstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO die (nachträgliche) Beiordnung abgelehnt worden. Das sieht das LG anders:
„1. Die Beschwerde ist zulässig. Gegen gerichtliche Entscheidungen über die Pflichtverteidigerbestellung ist zwar gem. § 142 Abs. 7 StPO die sofortige Beschwerde das statthafte Rechtsmittel.
Das schlicht als „Beschwerde“ bezeichnete Rechtsmittel des Verteidigers, ist jedoch zwanglos als sofortige Beschwerde auszulegen.
Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen sind erfüllt. Insbesondere ist die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO jedenfalls nicht ausschließbar eingehalten. Zwar wurde dem Verteidiger der angefochtene Beschluss bereits. am 03.07.2020 zugestellt, wohingegen die sofortige Beschwerde erst am 27.08,2019 einging. Beschwerdeführer ist jedoch nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Angeklagte; ohnehin kommt dem Verteidiger kein eigenes Beschwerderecht zu. An den Angeklagten wurde der angefochtene Beschluss lediglich formlos herausbegeben (BI. 60); eine Zustellung samt konkretem Zustellungsdatum liegt nicht vor. Die Zustellung an den Verteidiger war für die Ingangsetzung der Wochenfrist vorliegend nicht ausreichend, da sich keine Vollmacht bei den Akten befindet § 145a StPO).
Ebenso ist die grundsätzlich durch die Ablehnung des Antrags auf Beiordnung des Verteidigers entstandene Beschwer des Angeklagten nicht nachträglich dadurch entfallen, dass das Verfahren zwischenzeitlich gem. § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt wurde. Zwar ist die Frage einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung auch nach der mit Wirkung zum 13.12.2019 erfolgten Gesetzesänderung zur Pflichtverteidigerbestellung durchaus umstritten. Die Kammer versteht die Intention des Gesetzgebers, insbesondere unter Berücksichtigung des Hintergrunds der Umsetzung der sog. „PKH-Richtlinie“, dahingehend, dass nunmehr für die Frage der Pflichtverteidigerbestellung nicht mehr allein die Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung im Vordergrund steht, sondern dass auch die Bedürfnisse mittelloser Beschuldigter in den Blick zu nehmen sind (so auch Meyer-Goßner/Schmitt. StPO, 63. Auflage 2020, § 142 Rz. 19 f.). Zu berücksichtigen ist, dass auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK das Recht des Beschuldigten genannt ist, bei Mittellosigkeit den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Ebenso ist bezogen auf den konkreten Fall zu beachten, dass es sich bei der erfolgten Verfahrenseinstellung um eine vorläufige handelt und daher eine Wiederaufnahme und ein Fortgang des Verfahrens nicht als völlig unwahrscheinlich erscheinen.
Aus den vorstehenden Gründen schließt sich die Kammer der Rechtsauffassung an, dass eine nachträgliche Bestellung jedenfalls dann möglich ist, wenn ein Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt wurde. Eine rechtzeitige Anbringung des Antrags liegt im gegenständlichen Verfahren vor, da die Sache bei Eingang des Antrags aufgrund des überschaubaren Umfangs entscheidungsreif war.
2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.
a) Gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn er dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.
b) Der Angeklagte, dem der Tatvorwurf im. Ermittlungsverfahren bereits eröffnet worden war, ist nicht völlig ohne Verteidiger, da sich RA pp. ursprünglich als Wahlverteidiger angezeigt und sein Mandat anwaltlich versichert hatte. Dem unverteidigten Beschuldigten steht jedoch insoweit der Beschuldigte mit Wahlverteidiger gleich, der für den Fall der Beiordnung, die Niederlegung seines Mandats ankündigt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 141 Rz. 4). Eine solche Ankündigung der Niederlegung, des Mandats ist zwar in keinem der in der Akte enthaltenen Schriftsätze des Verteidigers erfolgt; die Erklärung ist jedoch konkludent aus dem Begehren der Beiordnung zu entnehmen (vgl. Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, § 141 Rz. 1, Münchener Kommentar zur StPO, 1 Auflage 2014, § 141 Rz. 4 m.w.N.).
c) Vorliegend war ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs.,1 Nr. 5 StPO gegeben, da der Angeklagte sich in anderer Sache seit 11.03.2020 in Untersuchungshaft befand. Die vormalige zeitliche Beschränkung auf Fälle einer Unterbringungsdauer von mindestens drei Monaten ist Mit der bereits angeführten Gesetzesänderung entfallen.
d) Es lag seit 07.04.2020 ein ausdrücklicher Antrag des Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger vor. Zwar war in diesem Zeitpunkt bereits ausdrücklich in der Akte dokumentiert, dass sowohl von Seiten des Gerichts (Anregung an die Staatsanwaltschaft am 01.04.2020), als auch von ‚Seiten der Strafverfolgungsbehörden (Antrag der Staatsanwaltschaft vom 06.04.2020) eine umgehende Verfahrenserledigung nach § 154 Abs. 2 StPO beabsichtigt war. Tatsächlich wurde das Verfahren bereits mit Beschluss vom 09.04.2020 und damit gerade einmal 2 Tage nach Eingang des Pflichtverteidigerantrags eingestellt, ohne dass es vorher zu weiteren Maßnahmen gekommen wäre.
Gleichwohl dringt der Verteidiger mit dem Argument, dass die in § 141 Abs. 2 S. 3 StPO enthaltene Möglichkeit, nach der eine Bestellung als Pflichtverteidiger in den Fällen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, vorliegend nicht zur Anwendung kommen könne, durch. Denn aus dem ausdrücklichen Wortlaut, der auf §141 Abs. 2 S. 1 Nr: 2 und 3 StPO, nicht jedoch auf § 141 Abs. 1 StPO verweist, wie auch aus der systematischen Stellung innerhalb des Absatzes 2 der genannten Vorschrift, ergibt sich, dass das Absehen der Beiordnung nur für die Fälle der von Amts wegen, nicht jedoch auf die auf Antrag des Beschuldigten vorzunehmenden Pflichtverteidigerbestellung in Betracht kommt. Eine analoge Anwendung scheidet insofern aus. Die Ablehnung der Beiordnung könnte daher durch das Amtsgericht nicht unter Verweis darauf abgelehnt werden, dass die Einstellung des Verfahrens bereits unmittelbar bevorstand (vgl. auch LG Magdeburg, Beschluss vom 24.072020 – 5 Gs 1070/20; LG Frankenthal, Beschluss vom 16.06.2020 – 7 Qs 114/20; LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 27.08.2020 – 3 Qs 121/20)….“
Ebenso hat entschieden für den Fall der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO das AG Stuttgart im AG Stuttgart, Beschl. v. 16.10.2020 – 26 Gs 8477/20.
Ich frage mich angesichts der beiden schön und sorgfältig begründeten Beschlüsse: Warum geht bei LGe und AGe, was bei OLGe offenbar nicht geht? Will man nicht und klebt an den alten Textbausteinen? Oder kann man nicht? Dann bitte Nachhilfe bei den Instanzgerichten nehmen.