Schlagwort-Archive: Verfahrensverzögerung

Wie lange darf ein Strafverfahren dauern?

WaageAm 03.12.2011 ist das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ (vgl. BT-Drs. 17/3802) in Kraft getreten (vgl. dazu meinen Beitrag aus StRR 2012, 4 „Verfahrensverzögerung, überlange Gerichtsverfahren und Verzögerungsrüge – die Neuregelungen im GVG„. Jetzt liegt die erste BGH-Entscheidung vor, die sich mit der Frage der „unangemessenen Verfahrensdauer“ im Strafverfahren befasst. Der BGH stellt dazu im BGH, Urt. v.  14.11.2013 – III ZR 376/12 fest – hier die Leitsätze:

1. Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles.

2. Unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist die Verfahrensdauer dann, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.

3. Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts darf der verfassungsrechtliche Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht unberücksichtigt bleiben. Dem Gericht muss in jedem Fall eine angemessene Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen. Es benötigt einen Gestaltungsspielraum, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind.“

Aus der 23 Seiten langen Entscheidung lässt sich für andere Verfahren ableiten:

  • „Gerechnet“ wird ab Einleitung des Verfahrens gegen den Beschuldigten. Die Beschuldigteneigenschaft kann aber nur durch einen Willensakt der zuständigen Strafverfolgungsbehörde begründet werden, der regelmäßig in der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens liegt. Vermerke der StA u.a. reichen nicht aus.
  • Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Ein weiteres bedeutsames Kriterium zur Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer ist die Verfahrensführung durch das Gericht, die unter Berücksichtigung des den Gerichten zukommen­den Gestaltungsspielraums zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien in Bezug zu setzen ist.
  • Eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, ist nicht möglich.
  • Die Unangemessenheit ist im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung zu überprüfen, u.a. auch darauf, ob Verzögerungen innerhalb einer späteren Phase des Verfahrens kompensiert wurden, wobei sich die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förde­rung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, mit zunehmender Verfahrensdauer verdichte.
  • Es reicht nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung aus. Vielmehr muss die Verfahrensdauer eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Be­rücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt.
  • Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts darf der verfassungs­rechtliche Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht un­berücksichtigt bleiben. Da die zügige Erledigung eines Rechtsstreits kein Selbstzweck ist und das Rechtsstaatsprinzip die grundsätzlich umfassende tat­sächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands durch das dazu berufene Gericht verlangt, muss dem Gericht in jedem Fall eine angemessene Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen.

Über 6 Monate Verzögerung = 2 Monate Strafabschlag

© Gina Sanders – Fotolia.com

Wenn ich mal Zeit habe :-), dann erstelle ich eine Übersicht der Entscheidungen des BGH zur Verfahrensverzögerung, die Auskunft darüber gibt, welchen „Abschlag“ es bei welchen Verzögerungen gibt. Da würde sich dann auch der BGH, Beschl. v. 02.07.2013 – 2 StR 179/13 finden, der zu der Frage (Teil)Auskunft gibt, nämlich: Über sechs Monate Verzögerung haben zwei Monate Strafabschlag gebracht, und zwar:

„….das Urteil war lediglich um eine Kompensation für einen Konventionsverstoß zu ergänzen.

Nach Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main am 21. August 2012 ist es zu einer Verletzung des Gebots zügiger Verfahrenserledigung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) gekommen. Bis zur Rücknahme der von der Staatsanwaltschaft eingelegten Revision am 1. März 2013 und Weiterleitung an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main am 26. März 2013 ist das Verfahren ohne sachlichen Grund nicht gefördert worden. Durch dieses sowie davor liegende Versäumnisse ist eine der Justiz anzulastende, unangemessene Verfahrensverzögerung von über sechs Monaten eingetreten. Diesen Umstand hat der Senat von Amts wegen zu berücksichtigen. Der Erhebung einer Verfahrensrüge bedarf es im vorliegenden Fall nicht, da die Verfahrensverzögerung nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingetreten ist und der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 2011 – 2 StR 302/11, NStZ 2012, 320, 321 mwN). Über die Kompensation kann der Senat in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO selbst entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 2008 – 3 StR 376/07, NStZ-RR 2008, 208, 209). Auf der Grundlage der Vollstreckungslösung (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860) stellt der Senat fest, dass zwei Monate der verhängten Freiheitsstrafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gelten.2

Ein System kann ich übrigens in der Rechtsprechung des BGH nicht erkennen.

Gut Ding will Weile haben, aber muss es so klüngelig gehen?

Der ein oder andere, der den OLG Hamm, Beschl. v. 11.04.2013, 1 RVs 18/13 – liest, wird sich fragen: Sicherlich will gut Ding Weile haben, aber muss es so langsam gehen mit einem Strafverfahren? Das OLG beschreibt nämlich im Beschluss die zögerliche Erledigung eines Strafverfahrens, das bei der StA Dortmund und beim AG und LG Dortmund anhängig war.

Das OLG kommt – ich verweise wegen der Einzelheiten auf den Beschluss – zu einer Verfahrensverzögerung von einem Monat bei der StA bis zur Anklageerhebung. So weit so gut, oder auch nicht, wenn man den Verfahrensablauf liest.

Bei der Berufungskammer dauert es dann vom Eingang der Akten dort am 26.05.2011 bis zum 16.07.2012, um endlich die Hauptverhandlung anzuberaumen. Das ist dem OLG zu lang. Zu Recht moniert es das und meint, die Terminierung häte schon sechs bis sieben Monate früher vorgenommen worden können.

Ein wenig erstaunt hat mich eine weitere Verzögerung, in der das OLG eine der Justiz vorwerfbare Verzögerung nicht gesehen hat:

(Noch) keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung sieht der Senat hingegen in dem Umstand, dass in dem Verfahren vor dem Amtsgericht der zunächst auf den 25.11.2010 anberaumte Hauptverhandlungstermin wegen Verhinderung von drei Zeugen auf Anfang April 2011 verlegt worden ist. Ein Zeuge hatte berufliche Probleme als Hinderungsgrund geltend gemacht, zwei andere Zeugen finanzielle Probleme, da sie aus K hätten anreisen müssen. Auch wenn grundsätzlich die Zeugenpflicht beruflichen Pflichten vorgeht (vgl. OLG Jena NStZ 1997, 333), wenn dem Zeugen nicht unzumutbare Nachteile drohen (vgl. OLG Düsseldorf, StraFo 2011, 133 für die ähnlich gelagerte Problematik bei Unzumutbarkeit wegen privater Belange), welche hier aber nicht dargetan waren, so hält der Senat die Verlegung nicht für unvertretbar. Nach der Rechtsprechung des BVerfG hat ein Zeuge Anspruch auf eine angemessen Behandlung seines Anliegens und darf nicht zum Verfahrensobjekt gemacht werden (BVerfG NStZ-RR 2002, 11). Insoweit ist dem Gericht ein gewisser Beurteilungsspielraum einzuräumen. Vor diesem Hintergrund hält der Senat es noch für hinnehmbar, wenn der Tatrichter das Nichterscheinen eines Zeugen akzeptiert und den Termin um einen Zeitraum von etwa vier bis fünf Monaten verlegt, auch wenn der Umstand, dass (unter Berücksichtigung der Anreise) ein „ganzer Arbeitstag drauf gehen würde“ und der Zeuge in einem kleinen Betrieb arbeitete, in dem der Lehrling Schule hatte, an sich für eine Entschuldigung i.S.v. § 51 StPO nicht ausreichend gewesen wäre. Da die Terminsverlegung auch im Hinblick auf diesen Zeugen erfolgte, kann dahinstehen, ob eine Terminsverlegung nur wegen der fehlenden Mittel zur Anreise der beiden weiteren Zeugen aus K angemessen gewesen wäre. Dem hätte man durch Gewährung entsprechender Reisekostenvorschüsse an die (anreisewilligen) Zeugen begegnen können.

Verlegung um vier bis fünf Monate in einem Verfahren, dass so oder so schon klüngelig geführt worden ist? M.E. sehr großzügig.

Und: Der Angeklagte muss sich mit der Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zufrieden geben. Einen Strafabschlag gibt es nicht. Hätte man auch anders sehen/entscheiden können, ist aber sicherlich angesichts des Umstandes, dass der Angeklagte nun selbst auch nicht besonders schnell auf Anfragen geantwortet hat, vertretbar.

Warum dauert es 8 Monate von Dortmund nach Karlsruhe?

© Stefan Rajewski – Fotolia.com

Warum dauert es 8 Monate von Dortmund nach Karlsruhe, fragt man sich, oder auch: Warum kommen die Verfahrensakten nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist erst nach acht Monaten beim GBA/BGH an? Jedenfalls hat es lt. BGH, Beschl. v. 19.06-2012 – 4 StR 83/12 nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist am 01.07. 2011 bis zum 02.03.2012 gedauert, bis die Verfahrensakten beim GBA eingegangen sind.

Dem verurteilten Angeklagten bringt es 2 Monate Kompensation auf die Freiheitsstrafe:

„Zur Kompensation einer während des Revisionsverfahrens eingetretenen, der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung ist ein angemessener Teil der gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt zu erklären (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124). Nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist am 1. Juli 2011 ist seitens der Justizbehörden das Gebot zügiger Verfahrenserledigung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) verletzt worden, weil die Verfahrensakten erst am 2. März 2012 beim Generalbundesanwalt eingegangen sind. Durch diese Sachbehandlung ist – wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausführt – im Vergleich zum üblichen Verfahrensgang eine unangemessene Verfahrensverzögerung von ca. sechsein-halb Monaten eingetreten. Um diese auszugleichen, stellt der Senat entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts fest, dass zwei Monate der er-kannten Freiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Eine höhere Kompensation ist auch unter Berücksichtigung des Vorbringens in der Gegenerklärung des Verteidigers nicht angezeigt.“

Strafzumessung: Verfahrensverzögerungen – ein paar Anhaltspunkte

© Thomas Becker – Fotolia.com

Nach der vom BGH in inzwischen ständiger Rechtsprechung vertretenen Vollstreckungslösung sind der Justiz anzulastende  Verfahrensverzögerungen bei der Strafzumessung zu kompensieren. Da ist es ganz gut, wenn man als Verteidiger weiß, was der BGH denn nun als zu lang/als verzögert ansieht. Ein paar Anhaltspunkte dazu gibt der BGH, Beschl. v. 24.05.2012 – 5 StR 145/12:

„2. Darüber hinaus macht die Revision zu Recht Verstöße gegen den Grundsatz zügiger Verfahrensförderung gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK geltend. Zwischen Anklageerhebung und Erlass des Eröffnungsbeschlusses ist eine erhebliche, der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung (von mindestens neun Monaten) eingetreten, die bereits im angefochtenen Urteil zu der Anordnung hätte führen müssen, dass ein bezifferter Teil der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt gilt. Zu einer weiteren erheblichen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (von mindestens elf Monaten) ist es zwischen dem Erlass des erstinstanzlichen Urteils und seiner Zustellung gekommen, die erst nach mehr als einem Jahr im Dezember 2011 erfolgte. Das neue Tatgericht wird die wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gebotene Kompensation der eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Wege des Vollstreckungsmodells (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124) nachzuholen und festzulegen haben, welcher bezifferte Teil der neu zu bemessenden Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Angesichts des von der Revision dargelegten Ausmaßes der Verzögerungen erscheint dabei ein Abschlag von nur einem Monat Freiheitsstrafe, wie vom Generalbundesanwalt beantragt, als deutlich zu gering.“

Man müsste mal eine Zusammenstellung der BGH-Rechtsprechung zu der Problematik machen. Ist aber nicht so einfach, da vieles vom Einzelfall abhängt. Denn was heißt z.B. „deutlich zu gering“.

Der BGH gibt der Strafkammer übrigens noch ein Weiteres mit auf den Weg weg:

Der Senat sieht Anlass zu dem Hinweis, dass Verzögerungen des tat-gerichtlichen Verfahrens in dem von der Revision aufgezeigten Umfang im Hinblick auf die damit nicht nur für den Angeklagten, sondern gerade im Bereich der Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auch für die Geschädigten einhergehenden Belastungen sowie regelmäßig damit verbundenen Verschlechterung der Beweislage unvertretbar erscheinen.