Und als zweite Entscheidung dann das BGH-Urteil v. 28.08.2025 – 4 StR 476/24. Das LG hat den Angeklagten (nur) wegen fahrlässiger Tötung und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort verurteilt. Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, die die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts. Ich beschränke mich hier auf den zweiten festgestellten Tatkomplex.
Auszugehen ist insoweit von folgendem Sachverhalt: Bei einer vom Angeklagten verursachten Kollision mit dem Pkw des Geschädigten lösten in dem vom Angeklagten bewegten Pkw Opel Zafira die Kopf- und Seitenairbags auf der Beifahrerseite aus. Der Angeklagte brachte das Fahrzeug dann auf einem Ausfädelungsstreifen der nächsten Anschlussstelle etwa 200 Meter hinter der Durchbruchstelle zum Stillstand. Er ging auf dem Ausfädelungsstreifen circa 50 Meter in Richtung des Kollisionsortes zurück, von wo aus er eine eschädigte Außenleitplanke nicht sehen konnte. Er erkannte allerdings, dass es zu einem Anstoß gegen das andere Fahrzeug gekommen war und auch dieses erheblich beschädigt sein musste. Um 5.36 Uhr rief der Angeklagte seinen Chef an und teilte ihm mit, dass er einen Unfall gehabt habe. Der andere sei aber wohl weg- bzw. weitergefahren; ein kleiner Peugeot sei gegen seinen Pkw gefahren. Als der Vorgesetzte des Angeklagten gegen 6.30 Uhr an der Unfallstelle eintraf, hatte der Angeklagte – ohne Melde-, Hilfs- oder Rettungsmaßnahmen vorgenommen oder eingeleitet zu haben – seine Fahrt bereits fortgesetzt und war in seine Unterkunft gefahren. Um 6.59 Uhr schrieb er seinem Vorgesetzten per WhatsApp: „Das Problem, Boss, ist, dass er mir reingefahren ist, und ich hätte jetzt tot sein können.“
„2. Der Schuldspruch im Fall II. 2. der Urteilsgründe, der keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist (§ 301 StPO), hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat rechtsfehlerhaft zugunsten des Angeklagten gegen die ihm obliegende allseitige Kognitionspflicht (§ 264 StPO) verstoßen.
a) Das Landgericht hat den festgestellten Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft. Die gerichtliche Kognitionspflicht gebietet, dass der – durch die zugelassene Anklage abgegrenzte – Prozessstoff durch die vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 14. März 2024 – 4 StR 354/23 Rn. 26 mwN; Urteil vom 29. Oktober 2009 – 4 StR 239/09 Rn. 6). Der Unrechtsgehalt der Tat ist ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrundeliegende Bewertung auszuschöpfen (vgl. § 264 Abs. 2 StPO), soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen (vgl. BGH, Urteil vom 27. Juni 2013 – 3 StR 113/13 Rn. 4; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 264 Rn. 27 ff.).
Dies hat die Strafkammer unterlassen. Die getroffenen Feststellungen hätten ihr Anlass zur Prüfung geben müssen, ob der Angeklagte tateinheitlich zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort auch versuchter Tötungsdelikte zum Nachteil der Insassen des Pkw VW Phaeton schuldig ist.
b) Der Tatbestand eines versuchten Delikts verlangt in subjektiver Hinsicht das Vorliegen einer vorsatzgleichen Vorstellung, die sich auf alle Umstände des äußeren Tatbestands bezieht (Tatentschluss; vgl. BGH, Urteil vom 10. September 2015 ‒ 4 StR 151/15 Rn. 13). Bei einem durch Unterlassen verwirklichten Tötungsdelikt müssen daher neben der Garantenpflicht, der Untätigkeit, der physisch-realen Handlungsmöglichkeit und dem zumindest möglichen Eintritt des Todeserfolges auch diejenigen Umstände Gegenstand dieser Vorstellung sein, die die Annahme einer hypothetischen Kausalität möglicher Rettungshandlungen (und die objektive Zurechnung des Erfolges) begründen. Hinsichtlich der hypothetischen Kausalität genügt bedingter Vorsatz; er liegt vor, wenn der Täter mit der Möglichkeit rechnet, sein Eingreifen könne den tatbestandlichen Erfolg abwenden (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2022 – 4 StR 200/21 Rn. 10; Urteil vom 29. September 2021 ‒ 2 StR 491/20 Rn. 22; Urteil vom 4. August 2021 ‒ 2 StR 178/20 Rn. 21; Urteil vom 19. August 2020 ‒ 1 StR 474/19 Rn. 16; Urteil vom 29. Juni 2016 ‒ 2 StR 588/15 Rn. 23).
Nach diesen Maßgaben hätte die Strafkammer im zweiten Tatkomplex eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen versuchter Tötungsdelikte prüfen müssen. Die Strafkammer hat festgestellt, dass der Angeklagte den Anstoß gegen das Fahrzeug des Geschädigten bemerkte, das sich nicht mehr in seinem Sichtbereich befand. Dass das gegnerische Fahrzeug in der Vorstellung des Angeklagten die Ausfahrt genommen haben könnte, hat das Landgericht bei der Würdigung seiner Einlassung angesichts seines Sichtfeldes selbst verneint. Im nicht aufgelösten Widerspruch hierzu nimmt die Strafkammer nunmehr an, der Angeklagte sei nicht notwendig davon ausgegangen, der Unfallgegner müsse sich noch am Unfallort befinden. Angesichts der zuvor genannten Umstände hätte sich das Landgericht vielmehr gedrängt sehen müssen zu erörtern, welche Vorstellungen des Angeklagten im Hinblick auf etwaige eingetretene Verletzungsfolgen für den Fahrzeugführer und mögliche weitere Insassen mit dem „Verschwinden“ des gegnerischen Fahrzeugs von der Autobahn nach einer Kollision bei einer Geschwindigkeit von immerhin mindestens 110 km/h verbunden waren. Dies wird hier zudem dadurch nahegelegt, dass der Angeklagte 50 Meter in Richtung des Kollisionsortes zurückging und eine WhatsApp-Nachricht an seinen Vorgesetzten über den möglichen eigenen Tod verfasste.
Eine solche Erörterung war nicht deshalb entbehrlich, weil die Strafkammer den Tötungsvorsatz des Angeklagten bei dessen Fahrmanöver selbst rechtsfehlerfrei verneint hat. Denn nach der stattgehabten Kollision und seinem Anhalten bot sich ihm eine neue Situation, die Anlass für ein gewandeltes Vorstellungsbild gewesen sein könnte. Hätte der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt ein Versterben der Geschädigten sowie ihre Rettung bei einem von ihm abgesetzten Notruf mit seinem Mobiltelefon (ggf. unter Einschaltung seines der deutschen Sprache mächtigen Chefs) auch nur für möglich gehalten, kommt aufgrund des pflichtwidrigen Vorverhaltens und der damit verbundenen Garantenstellung aus Ingerenz die Verwirklichung (untauglicher) versuchter Tötungsdelikte in Betracht.“




