Heute drei Entscheidungen aus dem U-Haft-Bereich.
Ich starte mit dem OLG Celle, Beschl. v. 07.09.2023 – 1 Ws 248/23 – zur Fluchtgefahr in einem BtM-Verfahren. Dem Angeschuldigten wird bandenmäßiger Handel unter Nutzung eines kryptierten Mobiltelefons der Firma EncroChat vorgeworfen. Konkret soll er an vier unterschiedlichen Tagen im April 2020 an einen gesondert Verfolgten Zeugen auf einem Parkplatz in I. S. zuvor vereinbarte Betäubungsmittelmengen gegen Bezahlung übergeben haben. Bei den Betäubungsmitteln soll es sich überwiegend um Marihuana im Bereich zwischen zwei und zehn Kilogramm zu einem Verkaufspreis von 4.800 EUR bis 5.400 EUR pro Kilo gehandelt haben. Des Weiteren sollen zwischen 200 g und 350 g Kokain zu 39 EUR pro Gramm und halluzinogene Pilze sowie LSD durch den Angeschuldigten übergeben worden sein. Insgesamt habe er dadurch einen Verkaufserlös von 115.510 EUR erlangt, wobei der weitere Verbleib des Geldes ungeklärt sei.
Deswegen ergeht gegen ihn ein auf Fluchtgefahr gestützter Haftbefehl, gegen den Haftbeschwerde eingelegt wird. Die hat beim OLG Erfolg:
„Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg……
2. Ungeachtet dessen liegt jedenfalls keine Fluchtgefahr (112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor.
a) Fluchtgefahr ist dann gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit (vgl. (Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe) – dem Strafverfahren entziehen.
Bei der Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Vielmehr können die zu erwartenden Rechtsfolgen allein eine Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen. Denn sie sind lediglich der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (vgl. MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl. 2023, StPO § 112 Rn. 52; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 112 Rn. 23 m.w.N.).
Mithin sind die auf eine Flucht hindeutenden Umstände gegen diejenigen Tatsachen abzuwägen, die einer Flucht entgegenstehen.
Dabei geht die Kammer grundsätzlich zutreffend davon aus, dass je höher die konkrete Straferwartung ist, umso gewichtiger die den Fluchtanreiz mindernden Gesichtspunkte sein müssen. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind unter anderem die Persönlichkeit, die persönlichen Verhältnisse und das Vorleben des Beschuldigten, die Art und Schwere der ihm vorgeworfenen Tat, das Verhalten des Beschuldigten im bisherigen Ermittlungsverfahren wie auch in früheren Strafverfahren, drohende negative finanzielle oder soziale Folgen der vorgeworfenen Tat, aber auch allgemeine kriminalistische Erfahrungen und die Natur des verfahrensgegenständlichen Tatvorwurfs, soweit diese Rückschlüsse auf das Verhalten des Beschuldigten nahe legt – etwa bei Taten mit regelmäßigen Auslandskontakten oder in Fällen organisierter Kriminalität – zu berücksichtigen (vgl. MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl. 2023, StPO § 112 Rn. 50 m.w.N.).
b) Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabs vermag der Senat vorliegend auch in Ansehung der von der Strafkammer hervorgehobenen und für eine Fluchtgefahr sprechenden Umstände – insbesondere die hohe Straferwartung aufgrund der Schwere der zur Last gelegten Taten – ein deutliches Überwiegen der für eine mögliche Flucht des Angeklagten sprechenden Gründe nicht zu erkennen.
So hatte der 32-jährige, bislang strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getretene Beschwerdeführer ausweislich der bisherigen Ermittlungsergebnisse ungeachtet seiner zwischenzeitlichen Einbindung in ein kriminelles Betäubungsmittelumfeld seinen Lebensmittelpunkt stets im Bereich K./S. und ist dort offenbar fest verwurzelt. Anhaltspunkte für soziale Bindungen außerhalb seines unmittelbaren Wohnumfeldes, insbesondere Auslandsbeziehungen sind nicht ersichtlich.
Ausweislich des bereits erwähnten Abschlussberichts sprechen die verfahrensgegenständlichen verdeckt geführten Maßnahmen dafür, dass der Beschwerdeführer nach Begehung der angeklagten Taten nicht weiter in den Betäubungsmittelhandel involviert war und sich aus unbekannten Gründen aus diesem zurückgezogen hatte.
Hinzu kommt, dass die vorgeworfenen Taten bereits geraume Zeit zurückliegen und „nur“ einen Zeitraum von einem knappen Monat umfassten. Auch die Nähe des Übergabeortes zum Wohnort des Beschwerdeführers spricht für eine eher lokale Einbindung und gegen weitreichende Kontakte zu einem überörtlichen Betäubungsmittelumfeld.
Die Bekundung des Zeugen H., wonach dem Beschwerdeführer eine hervorgehobene Rolle zugekommen sein soll, beruht allein auf dem Umstand, dass der Beschwerdeführer in den überwiegenden Fällen der vom Zeugen durchgeführten Betäubungsmittelankäufe zugegen gewesen sein soll.
Gegen eine Fluchtgefahr spricht aus Sicht des Senats ferner das bisherige Verhalten im Ermittlungsverfahren. So sind dem Verteidiger des Beschwerdeführers Ende des Jahres 2022 die Ermittlungsakten des zugrundeliegenden Verfahrens als auch des Parallelverfahrens 131 Js 18075/21 übermittelt worden. Trotz der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Akte niedergelegten umfangreichen Ermittlungsergebnisse, insbesondere der Angaben des Zeugen H. im Rahmen seiner Vernehmung vom 24. August 2022, hat der Beschwerdeführer sich weiter an seiner Wohnanschrift aufgehalten, ohne dass Anhaltspunkte für die Vorbereitung einer Flucht zutage getreten sind.
Darüber hinaus war zu beachten, dass der Angeschuldigte über stabile familiäre Bindungen verfügt. Der Angeschuldigte lebt eigenen Angaben zufolge, die mit den diesbezüglichen Ermittlungsergebnissen übereinstimmen, seit dem 4. September 2020 in ehelicher Lebensgemeinschaft, aus welcher eine inzwischen jetzt zwei Monate alte Tochter hervorgegangen ist. Im Rahmen der Durchsuchung ist zudem bestätigt worden, dass der Beschwerdeführer über einen Handwerksbetrieb als Bautischler bzw. –schlosser verfügt.
Soweit die Kammer als Beleg für eine Fluchtgefahr erhebliche Mittel aus den Betäubungsmittelgeschäften und seines Handwerksbetriebs anführt, fehlt es an entsprechenden belastbaren Nachweisen.
Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer im Rahmen der ihm vorgeworfenen Taten Verkaufserlöse entgegengenommen haben soll, lässt noch nicht darauf schließen, dass und in welcher Höhe ihm auch ein Gewinn zugeflossen und noch vorhanden ist, zumal die Taten auch schon geraume Zeit zurückliegen. Die Ergebnisse der bei ihm durchgeführten Durchsuchung seiner Wohn- und Betriebsanschrift sprechen eher dafür, dass der Beschwerdeführer aktuell gerade nicht (mehr) über ein erhebliches Vermögen zu verfügen scheint, welches er für die Durchführung einer Flucht einsetzen könnte. Ausweislich des Abschlussberichts verfügt der Beschwerdeführer in Niedersachsen über kein Grundeigentum. Auch die Größe seines Betriebs spricht eher gegen eine erhebliche Einnahmequelle und daraus resultierendes Vermögen.
Bei dieser Sachlage fehlt es nach Auffassung des Senats an zureichenden Anhaltspunkten für die Annahme von Fluchtgefahr. Die Straferwartung allein rechtfertigt eine solche Annahme nicht. Da auch kein anderer Haftgrund ersichtlich ist, war der Haftbefehl des Landgerichts Stade vom 2. August 2023 aufzuheben.“