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Schuldfähigkeit, oder: Der Angeklagte aus der „Trinkerszene“

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Und zum Abschluss dann noch eine Entscheidung zur Schuldfähigkeit, nicht vom BGH, sondern vom OLG Hamm. Das hat im OLG Hamm, Beschl. v. 25.09.2018 –  1 RVs 78/17, den mir der Kollege E. Schnekle aus Bochum geschickt hat, zum erforderlichen Umfang der Feststellungen hinsichtlich der Schuldfähigkeit Stellung genommen.

Der Angeklagte ist wegen mehrere Diebstahlstaten verurteilt worden. Seien Revision hatte wegen des Strafausspruchs Erfolg:

Nach den vom Landgericht zutreffend als bindend angesehenen Feststellungen des Amtsgerichts Dortmund vom 17.01.2017 zu den im vorliegenden Verfahren erstmals abgeurteilten Taten hat der Angeklagte, dessen Leben in der Bochumer Trinkerszene – abgesehen von mehrmaligen Inhaftierungen und einer im Juni 2005 für erledigt erklärten Unterbringung gemäß § 64 StGB – nach den weiteren Feststellungen der Kammer seit Jahrzehnten vorwiegend von Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und übermäßigem Alkoholkonsum bestimmt ist, nach seiner am 23.06.2016 erfolgten letzten Entlassung aus dem Strafvollzug im Zeitraum vom 27.06.2016 bis zum 26.09.2016 bei acht Gelegenheiten in verschiedenen Geschäften Bierflaschen oder -dosen und in einem weiteren Fall Süßigkeiten entwendet, wobei der Wert der jeweiligen Tatbeute zwischen 0,87 € und 5,20 € lag.

Den nachträglich einbezogenen Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 23.03.2017 lag – wie sich dem Urteil des Landgerichts entnehmen lässt – zugrunde, dass der Angeklagte in der Zeit vom 10.08.2016 bis zum 27.09.2016 bei vier weiteren Gelegenheiten Lebensmittel und/oder Alkohol entwendete und bei einer dieser Taten Mitarbeitern der betroffenen Aldi-Filiale anschließend Schläge androhte, um diese dazu zu bewegen, ihn noch vor dem Eintreffen der Polizei gehen zu lassen. Dabei handelte der Angeklagte – so die im vorliegend angefochtenen Urteil zitierten Feststellungen des Amtsgerichts Bochum – „in allen Fällen aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit im Zustand der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit“.

Unter Berücksichtigung dieser Feststellung zu weitgehend gleichgelagerten und sämtlich innerhalb des vorliegend verfahrensgegenständlichen Tatzeitraums begangenen Taten des nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen seit Jahrzehnten übermäßig Alkohol konsumierenden Angeklagten lag die Möglichkeit einer bei ihm erheblich verminderten Schuldfähigkeit auch bei den vorliegend erstmals abgeurteilten Diebstahlstaten, die mit einer Ausnahme sämtlich auf die Beschaffung von Alkohol gerichtet waren, derart nahe, dass sich das Landgericht mit dieser Frage sowie mit einer daraus möglicherweise resultierenden Strafmilderung gemäß § 49 StGB näher hätte auseinander setzen müssen (allg. vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14.02.2017 — 111-4 RVs 7/17 -, juris; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 21 Rn. 27 m.w.N.). Die ohne nähere Ausführungen erfolgte Bewertung der Kammer, dass der Angeklagte nach ihrer Überzeugung zum Zeitpunkt der Begehung sämtlicher Taten in vollem Umfang strafrechtlich verantwortlich gewesen sei, erweist sich daher ohne konkrete Begründung als‘ nicht hinreichend tragfähig. Der Senat kann auch nicht ausschließen, dass die Kammer bei einer diesbezüglichen rechtsfehlerfreien Vorgehensweise zu geringeren Einzelstrafen gelangt wäre.

Und:

Trotz des Umstandes, dass der vielfach einschlägig vorbestrafte Angeklagte erst vier Tage vor Beginn der verfahrensgegenständlichen Tatserie aus einer wegen einschlägiger Straftaten verbüßten Strafhaft von einem Jahr und vier Monaten entlassen worden war, erscheint es dem Senat vorliegend auch für den Fall, dass sich das Landgericht nunmehr rechtsfehlerfrei von der vollen strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten überzeugt, sowohl unter dem Gesichtspunkt des Übermaßverbotes als auch bezüglich der „Binnendifferenzierung“ hinsichtlich der Einzelstrafen (insbesondere im Vergleich mit der für den Diebstahl vom 27.06.2016 von zwei Bierdosen mit einem Verkaufswert von 3,90 € verhängten einmonatigen Freiheitsstrafe) rechtlich bedenklich, den am 25.07.2016 begangenen Diebstahl von vier Bierdosen zum Verkaufspreis von 5,60 € mit einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten zu belegen.

Auch wird die neu entscheidende Strafkammer bei der Gesamtstrafenbildung, die sich ungeachtet der seit dem heutigen Tag vollständigen Verbüßung der am 23.03.2017 gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe auch auf die damals verhängten Einzelstrafen zu erstrecken hat (vgl. Fischer, a.a.O., § 55 Rn. 6a m.w.N.), besonders zu beachten haben, dass das Gesamtstrafübel den Schuldgehalt der zu berücksichtigenden Taten insgesamt nicht übersteigt, die sich soweit vorliegend erstmals abgeurteilt auf Bier und Süßigkeiten mit einem Gesamtverkaufswert von 25,74 € beziehen und im Übrigen – soweit nämlich bereits am 23.03.2017 abgeurteilt – Waren im Wert von 9,98 €, 26,41 € und zweimal 30,00 € betrafen.“

Besitz von kinder- und jugendpornographischen Schriften, oder: Wann braucht man einen Sachverständigen?

Der OLG Celle, Beschl. v. 13.12.2016 – 2 Ss 136/16 – befasst sich mit der Frage, wann bei einer Verurteilung wegen Verbreitung, Erwerb und/oder Besitz kinderpornographischer Schriften die Hinzuziehung eines Sachverständigen zu den Fragen der §§ 20, 21 StGB erforderlich ist. Verurteilt worden ist wegen Besitzes kinder- und jugendpornographischer Schriften ein 60 Jahre alter, alleinstehender und kinderloser Angeklagter. Der war ist zweifach einschlägig vorbestraft. Bei dem waren im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung aus seinem Mobiltelefon mindestens 100 Fotodateien kinderpornographischen Inhalts und weitere mindestens 40 Fotodateien jugendpornographischen Inhalts gefunden worden. Die Fotos zeigen überwiegend unbekleidete oder nahezu unbekleidete Mädchen im vorpubertären Alter, die ihre Geschlechtsteile mit gespreizten Beinen präsentieren. Zum Teil manipulieren die Mädchen ihre Geschlechtsteile selbst oder wechselseitig. Teilweise sind auf den Fotos auch massive Missbrauchshandlungen erwachsener Männer an vorpubertären Mädchen abgebildet. Die Fotodateien jugendpornographischen Inhalts zeigen überwiegend Aufnahmen von Mädchen im Alter von wahrscheinlich über 14, aber sicher unter 18 Jahren, die ihre unbekleideten Genitalien präsentieren, wobei teilweise auch konkrete sexuelle Handlungen Jugendlicher untereinander oder von Jugendlichen mit Erwachsenen abgebildet waren.

Das LG ist vom Strafrahmen des § 184b Abs. 3 StGB ausgegangen. Es hat sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen war. Das beanstandet das OLG:

„Zwar ist nicht jedes abweichende Sexualverhalten, selbst nicht eine Devianz in Form einer Pädophilie, die zwangsläufig nur unter Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter verwirklicht werden kann, ohne Weiteres gleichzusetzen mit einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Vielmehr kann auch nur eine gestörte sexuelle Entwicklung vorliegen, die als allgemeine Störung der Persönlichkeit, des Sexualverhaltens oder der Anpassung nicht den Schweregrad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 21 StGB erreicht. Allerdings kann die Steuerungsfähigkeit etwa dann beeinträchtigt sein, wenn abweichende Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau des Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnen (vgl. BGH, Beschluss vom 03. September 2015 – 1 StR 255/15, juris; BGH, Beschluss vom 06. Juli 2010, 4 StR 283/10 – juris; BGH vom 17. Juli 2007, 4 StR 242/07, NStZ-RR 2007, 337; Nedopil, Forensische Psychiatrie 3. Aufl. S. 204 f.).

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und der durch das Landgericht gleich mehrfach betonten, verfestigten sexuellen Neigung des Angeklagten hätte es im vorliegenden Fall der Erörterung der Frage bedurft, ob bei dem Angeklagten im Tatzeitpunkt eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB gegeben war.

Ausweislich der Feststellungen des Urteils hat der Angeklagte das Bildmaterial „zur Befriedigung einer drängenden sexuellen Neigung“ in seinem Besitz gehabt (vgl. S. 7 UA). Der über die Taten hinweg stetig steigende Umfang des besessenen Bildmaterials lasse besorgen, dass das „mit hoher Wahrscheinlichkeit einer verfestigten sexuellen Neigung“ folgende Streben des Angeklagten nach kinder- und jugendpornographischen Bilddarstellungen von drohenden Strafvollstreckungen unbeeinflusst auch weiterhin noch ungebremst vorhanden sei (vgl. Seite 8 UA). Angesichts dieser Ausführungen sowie der Tatsache, dass der Angeklagte bereits zweifach einschlägig vorbelastet ist, erscheint es im vorliegenden Fall zumindest möglich, dass die bei dem Angeklagten vorhandene, von der Norm abweichende sexuelle Präferenz ihn im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert hat, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufgebracht und somit nur eingeschränkt steuerungsfähig war. 

Der Senat vermag den Ausführungen im angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, dass das Landgericht dies erkannt und bedacht hat. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Beachtung der Milderungsmöglichkeit der §§ 21, 49 Abs. 1 StGB eine Strafrahmenverschiebung vorgenommen und auf eine mildere Strafe erkannt hätte. ………“

Also: Noch einmal. Und:

„Das Landgericht wird unter Hinzuziehung eines Sachverständigen zu klären haben, ob bei dem Angeklagten eine gestörte sexuelle Entwicklung vorliegt, die als allgemeine Störung der Persönlichkeit, des Sexualverhaltens oder der Anpassung den Schweregrad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 21 StGB erreicht.“