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Akteneinsicht a la AG Lüdenscheid: Holen wir die Keule „standardisiertes Messverfahren“ raus

 © lassedesignen Fotolia.com

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Der Kollege Gratz vom Verkehrsrechts Blog hatte ja gestern schon auf den AG Lüdenscheid, Beschl. v. 12.10.2015 – 86 OWi 78/15 (B) – hingewiesen (vgl.  AG Lüden­scheid ver­wei­gert Betrof­fe­nen ihre PoliScan Speed-Falldateien – macht der Behörde zuviel Arbeit). Er hat ihn mir gestern zugesandt, so dass ich den Beschluss hier dann auch online stellen kann. Besten Dank.

Der Kollege und ich sind uns darin einig, dass der Beschluss falsch ist. Der Kollege hat es treffend in seinem Blog formuliert: „Dabei über­sieht das AG offen­bar, dass der Betrof­fene und sein Ver­tei­di­ger u. U. erst durch das pri­vate Gut­ach­ten in die Lage ver­setzt wer­den, kon­krete Ein­wen­dun­gen gegen die Mes­sung zu erhe­ben – oder eben von Ein­wen­dun­gen abzu­se­hen. Wenig ver­ständ­lich ist es auch, wenn das AG aus einer Stel­lung­nahme der PTB fol­gert, der Her­aus­gabe der eige­nen Fall­da­tei (mit der Mes­sung des Betrof­fe­nen) stünde das Daten­schutz­recht ent­ge­gen.“

Wie gesagt – m.E. richtig. Hinzu kommt, dass das AG einem Zirkelschluss unterliegt: Es sagt: Bei einem standardisierten Messverfahren müssen, da es sich eben um ein standardisiertes Messverfahren handel, nur auf konkrete Einwände hin Überprüfungen stattfinden (was für das gerichtliche Verfahren richtig ist). Dasselbe soll, da es sich um ein standardisiertes Messverfahren handelt, für das Verwaltungsverfahren gelten, was m.E. nicht richtig ist. Denn so schlage ich mit der Keule „standardisiertes Messverfahren“ jede Überprüfungsmöglichkeit tot. Damit entziehe ich aber der Rechtsprechung des BGH zum standardisierten Messverfahren die Grundlage. Denn die setzt voraus, dass auch diese Messverfahren überprüft werden können. Dazu Cierniak in zfs 2012, 664 ff. Der Verteidiger muss in der Lage sein, bereits im Vorverfahren durch einen nicht behinderten Zugriff auf Messdaten und Messunterlagen – ggf. auch mit Hilfe eines privat hinzugezogenen und von ihm mit den notwendigen Anknüpfungstatsachen ausgestatteten Sachverständigen – die konkreten Anhaltspunkte erst einmal zu ermitteln, die er dann der Bußgeldstelle oder dem Gericht vortragen kann, um die Amtsaufklärungspflicht auszulösen.“ Den Beitrag sollte man ggf. dann doch mal lesen.

Ein wenig beruhigt mich – und auch den Kollegen Gratz -, dass das AG Lüdenscheid mit seinert Auffassung wohl weitgehend alleine steht. Da gibt es u.a. – mit jeweils weiteren Nachweisen:

und nicht zu vergessen:

Akteneinsicht a la Bergisch-Gladbach: Auch da gibt es die unverschlüsselten Rohmessdaten

© Sven Grundmann – Fotolia.com

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Der Kollege Geißler aus Wuppertal hat mir in der vergangenen Woche zwei Entscheidungen übersandt, mit denen ich die neue Woche eröffnen will. Zunächst ist es der AG Bergisch-Gladbach, Beschl. v. 02.10.2015 – 48 OWi 35/1 5 [b], den ich zur Abrundung einstelle. Er behandelt auch/noch einmal die Problematik der unverschlüsselten Rohmessdaten, die ja in der letzten Zeit hier schon häufiger Thema war (vgl. u.a. den  AG Weißenfels, Beschl. v. 03.09.2015 – 10 AR 1/15 und dazu: Akteneinsicht a la AG Weißenfels: Herausgabe der unverschlüsselten Rohmessdaten, oder: Anders würde ich auch nicht entscheiden…..).

Dem neuen Beschluss lässt sich der Leitsatz voranstellen:

Die Verwaltungsbehörde ist bei einer digital erfolgten Geschwindigkeitsmessung verpflichtet, dem Betroffenen die gesamte digitale Messdatei in im gerätespezifischen Format und in unverschlüsselter Form, das heißt einschließlich der unverschlüsselten Rohmessdaten sowie – falls dann noch erforderlich – den dazugehörigen öffentlichen Schlüssel/Token zu Händen seines Verteidigers zur Verfügung zu stellen. Dabei ist ein geeignetes Speichermedium vom Betroffenen oder seinem Verteidiger der Behörde zur Verfügung zu stellen. Das bespielte Speichermedium wiederum ist dem Verteidiger in seine Kanzleiräume zu übersenden.“

Datenschutzrechtliche Bedenken stehen dem nach Auffassung des AG nicht entgegen.

Schon rein tatsächlich ist insoweit festzustellen, dass zwar ein Verteidiger und/oder ein privater Sachverständiger bei Einsicht in die gesamte Messreihe zwangsläufig auch andere Fahrzeuge sehen, welche eine Messung ausgelöst haben. Es ist aber schon äußerst unwahrscheinlich, dass dann hierbei ein Fahrzeug oder ein Fahrzeugführer betroffen sind, den dann der Verteidiger und/oder der private Sachverständiger kennen. Erstrecht ist nicht zu erkennen, welche (unzulässigen) Informationen/Schlussfolgerungen diese hieraus ziehen könnten. Dies gilt umso mehr, als der aufgezeichnete und feststellbare Lebenssachverhalt aus einer derartigen Maßnahme nur einen äußerst kurzen Zeitraum betrifft.

Wägt man dann das Interesse des Betroffenen an einer ordnungsgemäßen Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung mit dem Interesse anderer abgebildeter Verkehrsteilnehmer ab, hat das Interesse der anderen abgebildeten Verkehrsteilnehmer gegenüber dem Einsichtsrecht zurückzustehen. Hierbei ist insbesondere die Erwägung von Bedeutung, dass die anderen abgebildeten Personen sich durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und auch der Kontrolle ihres Verhaltens im Straßenverkehr durch die Polizei ausgesetzt haben. Dann kann es für diese Personen auch keinen überragenden Persönlichkeitseingriff darstellen, wenn sie im Zusammenhang mit einer polizeilichen oder ordnungsbehördlichen Maßnahme bzw. im Zusammenhang mit der Überprüfung derselben sich mit einer äußerst geringen, gegen null gehenden Wahrscheinlichkeit dem Risiko ausgesetzt sehen, zufällig erkannt zu werden.“

Akteneinsicht a la AG Kempten – kurz und zackig in die unverschlüsselten Rohmessdaten

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Manchmal ist es interessant. Da ist wochen-/Monatelang Ruhe in einer bestimmten Frage und dann nimmt sie auf einmal wieder Drive auf“. So die Frage der Akteneinsicht im Bußgeldverfahren. Innerhalb kurzer Zeit habe ich nämlich die zweite Entscheidung erhalten, die sich mit der Problematik beschäftigt (vgl. dazu schon den AG Weißenfels, Beschl. v. 03.09.2015 – 10 AR 1/15 – und dazu: Akteneinsicht a la AG Weißenfels: Herausgabe der unverschlüsselten Rohmessdaten, oder: Anders würde ich auch nicht entscheiden…..).

Na ja, „beschäftigt“ ist nicht der richtige Ausdruck, denn „beschäftigt“ hat sich das AG Kempten im AG Kempten, Beschl. v.10.09.2015 – 24 OWi 220 Js 15207/15 – mit der Frage – zumindest erkennbar – nicht. Für den Amtsrichter scheint es so selbstverständlich zu sein, dass der Verteidiger auch einen Anspruch auf die unverschlüsselten Rohmessdaten hat, dass ihm im Beschluss ein Satz zur Begründunggereicht hat:

„Beschluss

Die Bußgeldstelle des Bayrischen Polizeiverwaltungsamts wird angewiesen, im Rahmen der Akteneinsicht dem Verteidiger die komplette Messfilmreihe in unverschlüsselter Form, das digitale Messfoto und die Fotoliniendokumentation an die Kanzlei des Verteidigers zur Einsicht zu übersenden.

Gründe:

Nach § 147 StPO ist dem Verteidiger umfassend in alle Aktenbestandteile einschließlich Beweismittel Einsicht zu gewähren.“

Und das in Bayern 🙂 . Ist aber auch eindeutig…..

Akteneinsicht a la AG Weißenfels: Herausgabe der unverschlüsselten Rohmessdaten, oder: Anders würde ich auch nicht entscheiden…..

© AKS- Fotolia.com

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Länger hat es keine Entscheidungen zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren gegeben. An der „Front“ ist es verhältnismäßig ruhig. Aber: Das scheint nur so. Denn inzwischen gibt es in meinen Augen eine zweite „Frontlinie“, die man als Verteidiger im Auge behalten sollte. Nämlich die Frage nach der Herausgabe der sog. Rohmessdaten in unverschlüsselter Form. Die wird von den Verwaltungsbehörden häufig immer noch verweigert. So auch von einer Verwaltungsbehörde in Sachsen-Anhalt in einem Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Der Verteidiger hat gegen die Ablehnung dann einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) gestellt und hatte damit beim AG Weißenfels Erfolg. Dieses hat im AG Weißenfels, Beschl. v. 03.09.2015 – 10 AR 1/15 – die Verwaltungsbehörde angewiesen, die Rohmessdaten herauszugeben:

Aus den Grundsätzen des fairen Verfahrens und der Gewährung rechtlichen Gehörs folgt, dass dem Betroffenen auf dessen Antrag hin die sog. Rohmessdaten in unverschlüsselter Form zur Verfügung zu stellen sind.

Bei dem hier angewandten Messverfahren unter Verwendung des Messgeräts ES 3.0 der Fa. ESO GmbH handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren (so etwa OLG Hamm, Beschl. v. 29. Jan. 2013 – 1 RBs 2/13 –; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19. Okt. 2012 – 1 Ss Bs 12/12 –, jew. zit. n. juris). Liegt ein standardisiertes Messverfahren dem Bußgeldbescheid zu Grunde, so obliegt es dem Betroffenen, konkrete und einer Beweiserhebung zugängliche Umstände zu einem Messfehler vorzutragen. Hierzu bedarf es zunächst neben dem Einsichtsrecht in das Messprotokoll und den Eichschein des Messgeräts auch der Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung sowie in die erforderlichen Fotos, beim Gerät ES 3.0 also das Messfoto und das sog. Fotolinienbild. Darüber hinaus muss dem Betroffenen auf sein Verlangen hin aber auch die bei der Messung erstellte Messdatei zugänglich gemacht werden, um ihm – unter Hinzuziehung eines privaten Sachverständigen – die Möglichkeit zu geben, eventuelle Messfehler zu entdecken und im Verfahren substantiiert behaupten zu können.

Würde man – wie hier die Verwaltungsbehörde – dem Betroffenen dieses Einsichtsrecht unter Hinweis darauf versagen, dass die Daten vom Gerätehersteller verschlüsselt werden und nur durch diesen in unverschlüsselter Form zur Verfügung gestellt werden können, würde der Betroffene in seinen Verfahrensrechten unzulässig eingeschränkt.

Ein zentrales Anliegen eines rechtsstaatlich geordneten Bußgeldverfahrens ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils. Ausgestaltungen des Verfahrens, welche die Ermittlung der Wahrheit zu Lasten des Betroffenen behindern, können daher seinen Anspruch auf ein faires Verfahren verletzen. Ferner sichert dieser Anspruch dem Betroffenen, der nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, den erforderlichen Bestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen, damit er zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen kann (so für das Strafverfahren: BVerfGE 46, 202, 210; 63, 45, 61). Hiergegen würde aber verstoßen, wenn dem Betroffenen die Möglichkeit versagt würde, gerade die Daten, auf denen der Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit beruht, nicht prüfen (lassen) zu können.

Der Betroffene kann diesbezüglich auch nicht auf die Möglichkeit des Einspruchs und das anschließende gerichtliche Verfahren verwiesen werden. Wie bereits vorstehend ausgeführt kommt eine Beweiserhebung regelmäßig nur in Betracht, wenn der Betroffene konkrete Umstände zu einem Messfehler vorträgt. Kennt er die Rohdaten nicht bzw. kann diese nicht unverschlüsselt auslesen, so wird ihm diese Möglichkeit zumindest teilweise genommen. Ein Beweisantrag des Betroffenen wäre dann durch das Gericht als „ins Blaue hinein gestellt“ möglicherweise abzulehnen.

Die Verwaltungsbehörde kann sich auch nicht darauf zurückziehen, dass die Daten durch den Hersteller verschlüsselt werden und derzeit lediglich dieser zur Entschlüsselung in der Lage ist. Wie durch das Urteil des OLG Naumburg vom 27. Aug. 2014 (OLG Naumburg, DAR 2015, 27 – 29) eindeutig festgestellt wurde, steht die Befugnis, über die Messdaten zu verfügen, der Behörde zu, die diese Daten erzeugt und abgespeichert hat. Es ist insoweit Sache der Verwaltungsbehörde, die Rohdaten in unverschlüsselter Form zu beschaffen und dem Betroffenen auf sein Verlangen hin zur Verfügung zu stellen. Genauso wenig kann der Betroffene darauf verwiesen werden, die unverschlüsselten Rohdaten unmittelbar bei der Fa ESO GmbH abzufordern, denn diese wäre zu einer Herausgabe an den Betroffenen gar nicht berechtigt, da sie keine Befugnis hat, über diese Daten zu verfügen (OLG Naumburg, a.a.O.).

Sieht sich die Verwaltungsbehörde auf das Verlangen des Betroffenen hin zu einer Überlassung der unverschlüsselten Rohdaten nicht in der Lage, so wird das Gericht bei Vorlage der Akten gegebenenfalls von der Möglichkeit des § 69 Abs. 5 OWiG Gebrauch zu machen haben.

Schöner Beschluss, der auf der Linie der Rechtsprechung zur dieser Frage liegt (vgl. das LG Halle, Urt. v. 05.12.2013 – 5 O 110/13 und dazu: ESO erleidet Schiffbruch beim LG Halle – Rohdatenauslesung zulässig – Instanzentscheidung zu der o.a. Entscheidung des OLG Naumburg und bereits auch AG Kassel, Beschl. v. 27.02.2015 – 381 OWi – 9673 Js 32833/14). Schön auch der Hinweis des AG auf den § 69 Abs. 5 OWiG, von dem viel zu wenig Gebrauch gemacht wird. Also nicht durchwinken, sondern ermitteln.

Ist also wieder Bewegung im Spiel. Und nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch an anderen Orten. Denn der amtsrichterliche Kollege, der mir die Entscheidung geschickt hat, hatte als „Betreff“ gewählt: Anders würde ich auch nicht entscheiden. Recht so 🙂 .