Heute mache ich einen StPO-Tag. Den eröffne ich mit einem Beschluss des BayObLG, den ich hier schon mal in anderem Zusammenhang vorgestellt habe (vgl. Berufung I: Der Angeklagte sitzt im Zuschauerraum, oder: Ist der Angeklagte erschienen?).
In dem diesem Posting zugrunde liegenden BayObLG, Beschl. v. 23.06.2024 – 203 StRR 234/25 – hat das BayObLG dannn auch noch – in einer Segelanweisung – zur Verhandlungsfähigkeit Stellung genommen, und zwar wie folgt:
„3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
Der neue Tatrichter wird mit Blick auf die Verhaltensauffälligkeiten des Angeklagten zu prüfen haben, ob in der Berufungshauptverhandlung Anhaltspunkte für eine Verhandlungsunfähigkeit bestehen.
a) Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne bedeutet nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass der Angeklagte in der Lage sein muss, seine Interessen in und außerhalb der Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Februar 1995 – 2 BvR 345/95 –, juris Rn. 29 m.w.N.; BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 – 5 StR 46/18 –, juris Rn. 9). Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten sind je nach Verfahrensart und Verfahrenslage unterschiedlich. Neben der Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstands und dem jeweiligen Verfahrensstand kommt es darauf an, wie und in welchem Ausmaß der Angeklagte darin beeinträchtigt ist, die ihm in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährenden Mitwirkungsmöglichkeiten wahrzunehmen (Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15; Schneider in KK-StPO a.a.O. § 205 Rn. 9). Bei Angeklagten, deren geistige, psychische oder körperliche Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte eingeschränkt ist, liegt Verhandlungsunfähigkeit nicht vor, wenn die Auswirkungen dieser Einschränkungen auf die tatsächliche Wahrnehmung der Verfahrensrechte durch Hilfen für den Angeklagten hinreichend ausgeglichen werden können. Die Grenze zur Verhandlungsunfähigkeit ist erst dann überschritten, wenn dem Angeklagten auch bei Inanspruchnahme solcher verfahrensrechtlicher Hilfen eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung und eine sachgerechte Wahrnehmung der von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte nicht mehr möglich ist (BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 – 5 StR 46/18 –, juris Rn. 9). Ist der Angeklagte nur bedingt verhandlungsfähig, muss das Gericht, wenn es die Hauptverhandlung durchführen will, diese so gestalten, dass der Angeklagte ihr folgen kann (Becker a.a.O. § 230 StPO Rn. 7).
b) Erscheint der Angeklagte zur Berufungshauptverhandlung in einem Zustand der Verhandlungsunfähigkeit und ist dieser Zustand nicht vom Angeklagten verschuldet, kann nicht nach § 329 Abs. 1 StPO verfahren werden (Gössel a.a.O. § 329 Rn. 7; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4). Nur die vorsätzliche und schuldhafte Herbeiführung einer Verhandlungsunfähigkeit kann die Folge des § 329 Abs. 1 StPO nach sich ziehen, weil nur der Fall des Erscheinens des Angeklagten in einem von ihm selbst verschuldeten Zustand der Verhandlungsunfähigkeit, besonders nach Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsum, der physischen Abwesenheit zu Beginn der Hauptverhandlung gleichzustellen ist (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 1970 – 5 StR 199/70 –, BGHSt 23, 331-336, juris; KG Berlin, Beschluss vom 12. September 2000 – (4) 1 Ss 107/00 (138/00), juris; BT Drucks. 18/3562 S. 69; Gössel a.a.O. § 329 Rn. 7; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4; Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 18; Frisch a.a.O. § 329 Rn. 9, 46e und 46f; Brunner a.a.O. § 329 Rn. 19; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15; a.A. Deiters a.a.O. § 230 Rn. 15 ff.; zur eigenverantwortlichen Herbeiführung eines psychopathologischen Zustandes BGH, Beschluss vom 22. Mai 1991 – 2 StR 453/90 –, juris und BayObLG, Beschluss vom 24. Februar 1999 – 5St RR 237/98 –, juris Rn. 11).
c) Voraussetzung der Verwerfung der Berufung wegen verschuldeter Verhandlungsunfähigkeit ist zwingend nach § 329 Absatz 1 Satz 3 StPO, dass das Berufungsgericht einen Arzt als Sachverständigen angehört hat (BT Drucks. 18/3562 S. 69; Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 18; Frisch a.a.O. § 329 Rn. 9 und 46h; Brunner a.a.O. § 329 Rn. 19; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15).
d) Das Verschulden muss vom Tatrichter im Urteil zweifelsfrei festgestellt werden. Bei insoweit verbleibenden Zweifeln hat der Berufungsrichter von einer sofortigen Verwerfung der Berufung abzusehen (KG Berlin, Beschluss vom 12. September 2000 – (4) 1 Ss 107/00 (138/00) –, juris Rn. 4).
e) Hat das Tatgericht Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, darf es nicht weiterverhandeln (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2023 – 5 StR 453/23 –, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 17. Juli 1984 – 5 StR 449/84 –, juris; Gmel/Peterson a.a.O. § 230 Rn. 3).“

