Schlagwort-Archive: OLG Hamm

Neuwagen noch mit ca. 3.300 km Laufleistung?, oder: Der „Schmelz der Neuwertigkeit“

entnommen wikimedia.org
Urheber Morio

Heute im „Kessel Buntes“ dann zunächst mal ganz klassisch eine Entscheidung zum Verkehrszivilrecht, und zwar der OLG Hamm, Beschl. v. 10.04. 2918 – 9 U 5/18. Es handelt sich um einen nach § 522 ZPO ergangenen Beschluss, in dem das OLG der (Berufungs)Klägerin also mitteilt, dass es ihre Berufung gegen ein Urteil des LG Bielefeld für „aussichtslos“ hält.

Dort hatte die Klägerin (weitere) Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall geltend gemacht, der sich am 05.08.2016 auf der BAB 2 in der Nähe der Ausfahrt H. ereignet hat. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Beklagte für den durch einen ihrer Versicherungsnehmer mit dem PKW Fiat Punto xxx verursachten Schaden am PKW Porsche Macan der Klägerin zu hundert Prozent aufzukommen hat. Gestritten wird aber über die Höhe des Schadensersatzes. Der PKW Porsche der Klägerin war am 22.06.2016 erstzugelassen worden und hatte zum Zeitpunkt des Unfalls eine Laufleistung von 3.291 km. Die beklagte Versicherung regulierte auf Grundlage eines von der Klägerin in Auftrag gegebenen Schadensgutachtens die Differenz zwischen Netto-Wiederbeschaffungswert in Höhe von 80.252,10 € und Netto-Restwert in Höhe von 55.088,24 €, somit einen Betrag von 25.163,86 €. Die Klägerin hat den verunfallten PKW Porsche zu dem im Gutachten ermittelten Restwert verkauft und einen neuen PKW gleichen Typs zu einem Kaufpreis von 92.810,82 € angeschafft. Der Kaufpreis des beschädigten PKW Porsche betrug laut Rechnung vom 20.06.2016 92.401,92 € netto. Die Klägerin verlangt Erstattung der Differenz zwischen dem von der Beklagten zugrunde gelegten Wiederbeschaffungswert und dem zuletzt genannten Kaufpreis. Das hat das LG Bielefeld abgelehnt und die Klage abgewiesen. Und das OLG hält die Berufung nun für „aussichtslos“:

„1. Der Senat hält die Berufung der Klägerin einstimmig für aussichtslos. Das Landgericht ist zunächst in – ausweislich der Begründung seiner Entscheidung auch keineswegs schematisch, vielmehr sehr wohl unter Auseinandersetzung mit der klägerischen Auffassung erfolgter – Anwendung der von der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung hierzu aufgestellten Grundsätze (vgl. dazu auch die Darstellung bei Palandt/Grüneberg, BGB, 77. Aufl., § 249, Rn. 18 und 23 m. w. Nachw. sowie aus jüngerer Zeit etwa OLG Celle, NJW-RR 2012, 990) völlig zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin vorliegend den ihr unfallbedingt entstandenen Fahrzeugschaden nicht auf Neuwagenbasis abrechnen kann. Dabei kann letztlich offen bleiben, ob hier eine insoweit grundsätzlich hinreichend erhebliche Beschädigung des Fahrzeugs vorliegt. Nach einstimmiger Auffassung des Senats kann auch unter Berücksichtigung der weiteren technischen Entwicklung und nach heutiger wirtschaftlicher Verkehrsanschauung ein Fahrzeug, das zum Unfallzeitpunkt bereits knapp 3300 km gefahren wurde und bereits über 6 Wochen zugelassen war, jedenfalls nicht mehr als Neuwagen angesehen werden, bei dem ausnahmsweise im Falle einer erheblichen Beschädigung bei der Berechnung des ersatzfähigen Schadens auch der „Schmelz der Neuwertigkeit“ zugunsten des Geschädigten zu Buche schlagen kann. Ein Blick auf den Markt von sehr jungen Gebrauchtwagen bzw. Fahrzeugen mit Tageszulassung auch im hochpreisigen Fahrzeugsegment bestärkt den Senat in dieser Würdigung. Die Klägerin ist vorliegend bereits auf Wiederbeschaffungsaufwandsbasis entschädigt worden, hat also im Wege des Schadensersatzes die Mittel zur Beschaffung eines mit dem beschädigten Fahrzeug vergleichbaren unfallfreien Fahrzeugs erhalten. Der Senat vermag einstimmig keinen Grund zu erkennen, warum der Klägerin hier darüber hinaus ein Anspruch auf Ersatz der Kosten der Anschaffung eines höherwertigen Neufahrzeuges zustehen sollte, zumal es sich vorliegend um ein Firmenfahrzeug handelt. Ferner sieht der Senat – ebenfalls einstimmig – keinen Anlass, die aus Gründen der Rechtssicherheit von der Rechtsprechung sinnvollerweise entwickelten Faustregeln zur gebotenen engen Begrenzung der Ausnahmefälle, in denen der Schaden auf Neuwagenbasis abgerechnet werden kann, generell in Frage zu stellen und deshalb etwa die Revision zuzulassen.

Soweit das Landgericht der Klägerin auch die von dieser hilfsweise geltend gemachte fiktive Abrechnung auf Basis der (den Wiederbeschaffungsaufwand) übersteigenden Reparaturkosten zzgl. Wertminderung versagt hat, ist dies ebenfalls zutreffend und wird dies von der Berufung auch nicht angegriffen. Eine derartige fiktive Schadensabrechnung scheidet hier in der Tat deshalb aus, weil die Klägerin das verunfallte und nicht mehr fahrbereite Fahrzeug in keiner Weise repariert und dementsprechend auch nicht weitergenutzt, sondern unrepariert veräußert hat (vgl. dazu allgemein nur Palandt/Grüneberg, a.a.O., § 249, Rn. 24 m. w. Nachw.).“

OLG Hamm zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren, oder: Das haben wir immer schon so gemacht

© Alex White – Fotolia.com

Inzwischen gibt es einen Beschluss des OLG Hamm zum Einsichtsrecht in Messunterlagen, der zeitlich nach dem VerfG Saarland, Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18 (vgl. dazu Paukenschlag beim (Akten)Einsichtsrecht, oder: Der Rechtsstaat lebt…) ergangen ist. Es ist der OLG Hamm, Beschl. v. 20.06.2018 – 4 RBs 163/18. Wer allerdings meint, dass sich das OLG zu den vom Verfg Saarland angesprochenen Fragen äußert, der sieht sich getäuscht. Nichts. Kein Wort des OLG. Noch nicht einmal ein verdikt, wie wir es aus Bamberg lesen durften (OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18, vgl. dazu Antwort vom OLG Bamberg: Das VerfG Saarland hat keine Ahnung, oder: Von wegen der Rechtsstaat lebt).

Getreu dem Satz: „Das haben wir schon immer so gemacht“ heißt es im Beschluss:

„Zu ergänzen ist, dass der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör im Rahmen eines gerichtlichen Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahrens nicht dadurch verletzt wird, dass ihm die Rohmessdaten, die sich -wie hier- nicht in der Verfahrensakte, sondern bei der Verwaltungsbehörde befinden, nicht überlassen werden (vgl. OLG Bamberg, Beschlüsse vom 05.09.2016, Az. 3 Ss OWi 1050/16, und vom 04.04.2016, Az. 3 Ss OWi 1444/15; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15). Durch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs soll garantiert werden, dass einer Entscheidung nur Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene Stellung nehmen konnte; einen Anspruch auf Aktenerweiterung vermittelt der Anspruch auf rechtliches Gehör demgegenüber nicht. Da das Amtsgericht hier aber ausschließlich auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung ausgebreiteten und abgehandelten Tatsachenstoffs entschieden und der Betroffene insoweit hinreichende Gelegenheit hatte, sich zu diesem Tatsachenstoff umfassend zu äußern, ist durch die Nichtüberlassung der Rohmessdaten und sonstiger Unterlagen, die das Gericht zu seiner Überzeugungsbildung gerade nicht herangezogen hat, ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht gegeben.

Letztlich vermochte der Senat über die Sache zu entscheiden, ohne vorab die Sache – wie vom Verteidiger angeregt – dem Bundesgerichtshof gemäß § 121 GVG vorzulegen, da die Frage einer Gehörsverletzung bereits geklärt ist (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 05.09.2016, Az. 3 Ss OWi 1050/16).“

Man fragt sich: Warum das Schweigen? Kannte das OLG Hamm den Beschluss aus dem Saarland nicht, was ich mir kaum vorstellen kann. Und wenn es stimmt, wäre das erschreckend. Aber vielleicht ist es ja einfacher zu schweigen als sich mit dem VerfG Saarland auseinander zu setzen. Das hat das OLG Bamberg zumindest getan, wenn auch in meinen Augen mit dem falschen Ergebnis

Die Staatsanwaltschaft will ins Grundbuch, oder: Wie geht das denn?

Und die zweite Entscheidung im „Kessel Buntes“ ist heute dann der OLG Hamm, Beschl. v. 22.02.2018 – I 15 W 15/18. Es geht um die Befugnis der Staatsanwaltschaft, um eine Eintragung ins Grundbuch zu ersuchen. Ja, richtig gelesen: Ersuchen der Staatsanwaltschaft auf Eintragung ins Grundbuch.

Im entschiedenen Fall hatte das die beteiligte Staatsanwaltschaft beim Grundbuchamt unter Bezugnahme auf einen strafgerichtlichen Vermögensarrest getan, und zwar ging es um die Eintragung einer Sicherungshypothek. Das Grundbuchamt hat die Staatsanwaltschaft dann zunächst u.a. darauf hingewiesen, dass § 111k StPO n.F. keine (ausdrückliche) Befugnis der Staatsanwaltschaft, das Grundbuchamt um Eintragung zu ersuchen, mehr vorsehe und dann später eine Zwischenverfügung erlassen. In dieser hat es den Standpunkt vertreten, dass die Staatsanwaltschaft zu einem Ersuchen im Sinne des § 38 GBO nicht mehr befugt sei. Zwar könne das Ersuchen in einen Antrag umgedeutet werden, für dessen Vollzug sei jedoch nach § 29 GBO die Vorlage einer Ausfertigung des Arrestbeschlusses erforderlich. Dagegen die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die beim OLG Erfolg hatte.

„Nach § 38 GBO hat das Grundbuchamt eine Eintragung auch auf Ersuchen einer Behörde vorzunehmen, wenn diese aufgrund einer besonderen gesetzlichen Vorschrift befugt ist, um die Eintragung zu ersuchen. In Rechtsprechung und Literatur besteht dabei grundsätzlich Einigkeit, dass § 38 GBO als Ausnahmevorschrift eher eng auszulegen ist, insbesondere, dass die bloße Zuständigkeit einer Behörde für die Bewirkung bestimmter grundbuchverfahrensrechtlich relevanter Veränderungen nicht hinreicht, um von dem Vorliegen einer Ersuchensbefugnis auszugehen (Bauer/v.Oefele, GBO, 3.Aufl., § 38 Rdn.16; Demharter, GBO, 30.Aufl., § 38 Rdn.2). Andererseits sind aber auch Kompetenzvorschriften einer Auslegung zugänglich. Erforderlich ist danach keine ausdrückliche Regelung der Ersuchensbefugnis, sondern nur ein in diesem Sinne eindeutiges Auslegungsergebnis.

Die Grenzen der Auslegung sind dabei hier umso enger zu ziehen, als die Vollstreckung eines Arrestes im Sinne des § 111e StPO einen Eingriff in den Schutzbereich des Art.14 GG darstellt, mithin gemäß Art.20 Abs.2 und 3 GG der sog. Gesetzesvorbehalt greift. Danach obliegt es grundsätzlich dem Gesetzgeber selbst, die wesentlichen Entscheidungen hinsichtlich der Möglichkeit und der Ausgestaltung eines Eingriff zu treffen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass einzelne Eingriffsmodalitäten notwendig ausdrücklich oder bis ins Einzelne gehend geregelt werden müssten. Vielmehr finden auch unter Geltung des Gesetzesvorbehalts die allgemeinen Auslegungsgrundsätze Anwendung mit der Maßgabe, dass sich mit ihnen im Einzelfall eine zuverlässige Grundlage für Verständnis und Anwendung der Norm gewinnen lässt (für den Bereich des Art.104 Abs.1 S.1 vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.06.2012 -2 BvR 1048/11-, zitiert nach juris Rdn.118).

Auf dieser rechtlichen Grundlage meint der Senat, dass die Auslegung des § 111k Abs.1 StPO n.F. mit noch hinreichender Deutlichkeit ergibt, dass der Gesetzgeber der Staatsanwaltschaft die Befugnis verliehen hat, um die Eintragung im Sinne des § 38 GBO zu ersuchen (im Erg. ebenso OLG München, Beschluss vom 22. Dezember 2017 – 34 Wx 432/17 –, juris). Zunächst ist der Wortlaut des § 111k Abs.1 S.1 StPO insoweit mehrdeutig, als der Begriff des Vollzugs über eine bloße Zuständigkeitszuweisung hinausgeht. Gestützt wird ein solches Verständnis von § 111k Abs.1 S.2 StPO, wonach die Pfändung beweglicher Sachen durch verschiedene öffentliche Stellen „vollzogen“ werden kann. Hiermit korrespondiert, dass § 111k StPO n.F. nach seiner Überschrift nicht lediglich die Zuständigkeit, sondern das gesamte Verfahren regelt.

Wesentliche Bedeutung hat nach Auffassung des Senats die historische Auslegung. Im bis zum 01.07.2017 geltenden Recht der Vermögensabschöpfung sah § 111f  Abs.2 StPO a.F. ausdrücklich die Befugnis der Staatsanwaltschaft und des Gerichts vor, das Grundbuchamt um die Eintragung einer Zwangshypothek zu ersuchen. Die Gesetzesbegründung zum Entwurf des jetzigen § 111k StPO n.F. lautet – soweit hier von Interesse – wie folgt (vgl. BTDrs. 18/9525 S.82):

„Zu § 111k StPO-E

  • 111k StPO-E regelt das Verfahren bei der Vollziehung der Beschlagnahme- und Arrestanordnung. Die Vorschrift übernimmt weitgehend den Regelungsgehalt des bisherigen § 111f StPO. Im Vergleich zum geltenden Recht enthält sie drei Änderungen.

Zu Absatz 1

Nach Absatz 1 Satz 1 ist die Staatsanwaltschaft für die Vollziehung der Beschlagnahme- und Arrestanordnung künftig ausnahmslos zuständig. Bislang waren für die Ersuchen (Hervorhebung durch den Senat) und Anmeldungen auf Registereintragungen auch die Gerichte zuständig (vgl. § 111f Absatz 2 StPO).“

Diese Ausführungen lassen zweifelsfrei erkennen, dass der Gesetzgeber nicht die Absicht hatte, an der Befugnis der nunmehr allein zuständigen Staatsanwaltschaft etwas zu ändern. Vielmehr wird die Befugnis, (auch) das Grundbuchamt um Vollzug zu ersuchen, in der Gesetzesbegründung ausdrücklich erwähnt. Damit stellt sich aus Sicht des Senats die Frage, ob man bei der Auslegung der § 38 GBO, § 111k Abs.1 StPO angesichts des nicht eindeutigen Wortlauts, gerade mit Rücksicht auf den Gesetzesvorbehalt und das Bestimmtheitsgebot, von einem nicht hinreichenden Ausdruck des – für sich genommen eindeutigen – gesetzgeberischen Willens ausgehen muss. Diese Frage verneint der Senat….“

 

OWi II: Inaugenscheinnahme eines Lichtbildes, oder: Protokollierungspflicht?

entnommen wikimedia.org
Urheber Dede2

Als zweite OWi-Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 06.04.2018 – III -5 RBs 51/18 -betreffend eine Protokollierungsfrage. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, der wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden ist, hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 09.03.2018 u.a. Folgendes ausgeführt:

„Mit der erhobenen Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe sich bei der Urteilsfindung auf Lichtbilder gestützt, die nicht ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden seien, macht der Betroffene geltend, das Amtsgericht habe seine Überzeugung nicht allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft und rügt damit einen Verstoß gegen § 261 StPO i.V.m. §§ 249 ff. StPO, 77, 77a, 78 OWiG.

Die in einer der Vorschrift des § 344 Abs. 2 StPO genügenden Form erhobene Rüge ist auch begründet.

Die entsprechenden Rügetatsachen (Nichtinaugenscheinnahme der Lichtbilder) sind durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen. Bei der Inaugenscheinnahme eines Lichtbildes handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung (zu vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 23.02.2015 – 2 OLG 6 Ss 5/15 0, so dass der Nachweis hierüber – bzw. über ihr Fehlen – durch das Hauptverhandlungsprotokoll geführt werden kann, Schweigt das Hauptverhandlungsprotokoll über die Inaugenscheinnahme – wie vorliegend – so gilt diese als nicht erfolgt. Zwar entfällt die Beweiskraft, wenn eine Urkundsperson oder beide den Inhalt des Protokolls nachträglich für unrichtig erklären, so dass es von ihrer Unterschrift nicht mehr gedeckt ist. Lediglich die einseitige Erklärung einer der Urkundspersonen beseitigt die Beweiskraft des Protokolls aber nicht, wenn damit die tatsächliche Grundlage für eine Verfahrensrüge des Betroffenen entfällt (zu vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 274 Rn. 16). So verhält es sich vorliegend. Zwar hat die Vorsitzende in einer dienstlichen Stellungnahme vom 25.09.2017 angegeben, entgegen dem Vorbringen des Betroffenen seien sowohl das Messbild als auch die Vergleichsbilder im Hauptverhandlungstermin in Augenschein genommen worden. Allerdings konnte dies durch die Protokollführerin, die angegeben hat, sich hieran konkret nicht mehr erinnern zu können, nicht bestätigt werden.

Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Urteil auch. Denn das Amtsgericht hatte das Messfoto und die Vergleichsbilder zum Beweis der Fahrereigenschaft des Betroffenen zum Tatzeitpunkt erhoben. Das Amtsgericht hat sich seine Überzeugung daher nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gebildet, so dass das angefochtene Urteil der Aufhebung unterliegt.“

Aufffahren auf die Autobahn, oder Vorfahrt gilt auch bei Stop-and-Go

© digitalstock – Fotolia.com

Und als dritte OWi-Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 03.05.2018 – 4 RBs 117/18 –  betreffend die Vorfahrtsregel des § 18 Abs. 3 StVO, nach der der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt vor Fahrzeugen hat, die auf die Fahrbahn auffahren wollen. Die – so das OLG – gilt auch bei sog. „Stop-and-Go-Verkehr“. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in der Weise zum Stehen gekommen ist, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen ist, findet diese Vorfahrtsregelung keine Anwendung mehr. Fahrzeugführer, die in dieser Situation auf die Fahrbahn einer Autobahn auffahren, haben aber das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO zu beachten:

Ausgangspunkt der Entscheidung sind folgende Feststellungen:

„Am pp. .2017 gegen 17:10 Uhr bestand auf der zweispurigen Bundesautobahn App. in Fahrtrichtung A Stau. Der Zeuge X befuhr mit einer Sattelzugmaschine den rechten Fahrstreifen. Der Betroffene wollte bei km pp. vom Beschleunigungsstreifen auf den rechten Fahrstreifen der App. mit dem PKW, Marke BMW 3C mit dem amtlichen Kennzeichen pp. auffahren. Der Betroffene war Führer des PKWs und wollte dieses zum Halter überführen. Unmittelbar vor ihm fuhr der Zeuge C, der vollständig auf den rechten Fahrstreifen gewechselt hat und aufgrund eines vor ihm stehenden Sattelzugs stehen bleiben musste. Aufgrund der Verkehrslage konnte der Betroffene nicht vollständig die Fahrspur wechseln und blieb schräg zwischen dem Beschleunigungsstreifen und der rechten Fahrspur stehen. Dabei stand das Fahrzeug auf dem Markierungsstreifen mit dem vorderen rechten und dem hinteren linken Rad.

Der Zeuge X fuhr an und übersah den Betroffenen. Es kam zu einer Kollision beider Fahrzeuge, wobei die Sattelzugmaschine des Zeugen X vorne rechts und das Fahrzeug des Betroffenen zwischen den Rädern an der linken Seite eingedrückt wurde. Es gab keinen Personenschaden.“

Dazu das OLG:

„Die bisherigen Feststellungen ergeben keinen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO. Zutreffend geht das Amtsgericht zwar davon aus, dass der auf eine Autobahn Auffahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs zu beachten hat (OLG Hamm VersR 1994, 952), und zwar auch dann, wenn zähfließender Verkehr und staubedingt „Stop-and-Go-Verkehr“ herrscht (LG Essen, Beschl. v. 08.04.2013 – 1 5 S 48/13 – juris). Wie schon die Formulierung im Gesetz „Vorfahrt“ zeigt, muss aller-dings ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn geherrscht haben, da ansonsten nicht von „Fahrt“ gesprochen werden kann. Steht der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hingegen, so gibt es keine „Vorfahrt“, die Vorrang haben könnte. Bei stehendem Verkehr auf der durch-gehenden Fahrbahn würde es auch keinen Sinn machen, den Auffahrenden dazu zwingen zu wollen, eine bestehende – hinreichend große – Lücke zwischen zwei stehenden Fahrzeugen nicht zu nutzen.

Das bedeutet allerdings nicht, dass schon bei jeglichem verkehrsbedingten Halt auf der durchgehenden Fahrbahn – und sei er auch zeitlich noch so kurz – bereits die Vorfahrtsregelung des § 18 Abs. 3 StVO keine Geltung mehr beanspruchen könnte. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen gekommen ist, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen ist, ist das der Fall. Ansonsten würde die Regelung ausgehebelt. Der Senat bestätigt daher ausdrücklich die Rechtsprechung, dass § 18 Abs. 3 StVO auch bei sog. „Stop-and-Go-Verkehr“ gilt.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts stand hier aber der LKW des Zeugen X. Konkrete Feststellungen zur Dauer dieser Standzeit enthält das Urteil nicht. Aus der Beweiswürdigung in der angefochtenen Entscheidung ergibt sich allerdings, dass der Zeuge X bekundet hatte, dass er etwa drei bis vier Minuten gestanden habe. Sollte tatsächlich eine solch lange Standzeit geherrscht haben, so konnte der Betroffene dessen Vorfahrt unter Zugrundelegung der o.g. Grundsätze nicht missachten. Vielmehr musste der Zeuge X beim Anfahren den vor ihm liegenden Fahrweg auf etwaige Hindernisse kontrollieren. Dabei macht es für § 18 Abs. 3 StVO keinen Unterschied, ob der Betroffene bereits ganz oder nur teilweise auf der Fahrbahn eingefädelt war.

Der neue Tatrichter wird aufzuklären haben, inwieweit sich das Fahrzeug des Zeugen X in einer Fahrbewegung befand, als der Betroffene mit seinem Fahrzeug von der Beschleunigungsspur auf die rechte durchgehende Fahrbahn wechselte. Die Angabe des Zeugen X, sein Abstandsmessgerät habe – als er stand – eine Entfernung von acht Metern zum vor ihm befindlichen LKW angezeigt, dürfte darauf hindeuten, dass der Betroffene sich in einer Fahrbewegung beider Fahrzeug in diese Lücke hat einfädeln wollen. Hätten beide Fahrzeuge zunächst gestanden, so wäre womöglich eine kürzere Abstandsmessung, nämlich vom Fahrzeug des Zeugen X zu dem des Betroffenen zu erwarten gewesen.

Der neuen Hauptverhandlung vorbehalten bleibt auch die Klärung, ob der Betroffene jedenfalls gegen § 1 Abs. 2 OWiG dadurch verstoßen hat, dass er so dicht vor dem (stehenden) Fahrzeug des Zeugen X auf den rechten Fahrstreifen auffuhr, dass dieser ihn wegen des sog. „toten Winkels“ eines LKW-Fahrers nicht ohne Weiteres wahrnehmen konnte.“