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Kostenentscheidung beim beschränkten Rechtsmittel, oder: Zeitpunkt der Beschränkung und Ziel des Rechtsmittels

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Die erste Entscheidung am Gebührentag ist mal wieder eine „kostenrechtliche“. Sie kommt mit dem OLG Celle, Beschl. v. 05.02.2020 – 2 Ws 35/20 – vom OLG Celle. Thematik: Kostenentscheidung beim beschränkten Rechtsmittel, also eine Problematik des § 473 Abs. 3 StPO.

Auszugehen war von folgendem Verfahrensgeschehen: Das AG hat den Angeklagten wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in 2 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt. Gegen das Urteil legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte unbeschränkt Berufung ein. Nach Zustellung des schriftlich begründeten Urteils hat der Verteidiger die Berufung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt. Die Berufungskammer des LG hat diese Beschränkung als unwirksam angesehen.

Nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Berufung in der Berufungshauptverhandlung mit Zustimmung des Angeklagten zurückgenommen hatte, änderte die Berufungskammer unter Verwerfung des Rechtsmittels im Übrigen den Rechtsfolgenausspruch des AG-Urteils dahingehend ab, dass der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zudem wurden dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen auferlegt, die Berufungsgebühr allerdings um 1/5 ermäßigt und angeordnet, dass die Landeskasse die notwendigen Auslagen des Angeklagten in der Berufungsinstanz in diesem Umfang trage. Zur Begründung der Kostenentscheidung führte das LG aus, angesichts der umfassenden Anfechtung des Urteils sei der Berufungserfolg lediglich mit 1/5 zu bemessen. Dagegen hat sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde gewandt. Die hatte überwiegend Erfolg.

Das OLG gibt seiner Entscheidung folgende Leitsätze mit auf den Weg:

1. Die Regelung des § 473 Abs. 3 StPO ist auch dann anzuwenden, wenn eine Beschränkung des Rechtsmittels auf einen bestimmten Beschwerdepunkt vom Berufungsgericht für rechtlich unwirksam erachtet wird, der Rechtsmittelführer aber von vornherein erklärt, dass er nur das beschränkte Ziel verfolgt und dieses im Ergebnis auch erreicht.

2. Gibt der Rechtsmittelführer die Erklärung über das beschränkte Ziel erst nachträglich ab, so hat er diejenigen gerichtlichen und außergerichtlichen Auslagen zu tragen, die bei einer alsbald nach Rechtsmitteleinlegung abgegebenen Erklärung hierüber vermeidbar gewesen wären.

Corona/Haft I: Haftprüfung beim OLG, oder: Haftfortdauer wegen Corona

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Zum Start in die 18 KW., die erste Woche mit Maskenpflicht, zwei Entscheidungen, die sich mal wieder mit Corona befassen, und zwar in Zusammenhang mit Haftfragen.

Und da weise ich dann zunächst hin auf den OLG Celle, Beschl. v. 06.04.2020 – 2 HEs 5/20, der sich (auch/noch einmal) mit der Frage der Haftfortdauer nach §§ 121 f. stPO befasst. Dazu haben sich ja auch schon einige andere OLG geäußert, worüber ich hier ja auch berichtet habe (ggf. einfach in der Suche „Corona“ eingeben, dann findet man die Entscheidungen).

Vom OLG Celle, Beschluss stelle ich hier nur die (amtlichen) Leitsätze vor, da die Entscheidung auf der Linie der anderen OLG-Entscheidungen zu dem Thema liegt. Die lauten:

1. Der in der Regelung von § 10 EGStPO-n.F. zum Ausdruck gekommene Rechtsgedanke, dass es unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung möglich sein muss, den Lauf der in § 229 Absatz 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen zu hemmen, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem COVID-19-Virus nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate, muss auch bei der Auslegung des § 121 StPO berücksichtigt werden.

2. Dem entscheidenden Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Senat nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu (Anschluss OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30.03.2020 – 2 HEs 1 Ws 84/20-). Dieser Ermessensspielraum verringert sich mit weiterer Fortdauer der Untersuchungshaft.

3. Die Aussetzung einer Hauptverhandlung in einer Haftsache zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus ist dann nicht gerechtfertigt, wenn sie ohne jegliche Begründung ergeht und der erneute Verhandlungsbeginn ungewiss ist (Anschluss OLG Braunschweig, B. v. 25.03.2020, 1 Ws 47/20).

4. Jedenfalls dann, wenn es im Ermittlungsverfahren keine Verzögerungen gegeben hat und der Beginn der verlegten Hauptverhandlung innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der Anklageschrift erfolgen soll, ist es zur Begründung der Verlegung nach Maßgabe der obigen Ausführungen zum Ermessensspielraum ausreichend, sich auf die geltende Erlasslage zur Eindämmung der Gefahren der COVID-19-Pandemie zu berufen. Bei längeren Verzögerungen sind hingegen Ausführungen zur Undurchführbarkeit auch bei Ergreifen geeigneter Schutzmaßnahme erforderlich.

Ist die Kostenforderung eine Insolvenzforderung?, oder: Aufschiebende Bedingung

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Celle, Beschl. v. 10.02.2020 – 2 Ws 43/20. Er behandelt die Frage, ob es sich eigentlich mit einer aus einem Strafverfahren resultierenden Kostenforderung um eine Insolvenzforderung handelt; eine Frage mit der man es vielleicht – hoffentlich nicht – demnächst vermehrt zu tun haben wird.

Das AG hatte den Verurteilten, über dessen Vermögen durch Beschluss des AG im Juli 2014 das Privatinsolvenzverfahren eröffnet worden ist, mit Urteil vom 26.01.2018 wegen fahrlässiger Insolvenzverschleppung verurteilt und ihm zugleich die Kosten des Verfahrens auferlegt. Die Entscheidung ist seit dem 03.02.2018 rechtskräftig.

Im Rahmen des gegen den Verurteilten geführten Ermittlungsverfahrens hatte die Staatsanwaltschaft bereits vor Eröffnung des Privatinsolvenzverfahrens Bankauskünfte und ein Sachverständigengutachten eingeholt; die insoweit von der Landeskasse beglichenen Forderungen wurden dem Verurteilten mit Kostenrechnung der Staatsanwaltschaft vom 10. 4. 2018 in Höhe von 17.493 EUR sowie 132,50 EUR in Rechnung gestellt. Die gegen diese Kostenrechnung gerichtete Erinnerung des Verurteilten hat das AG zurückgewiesen. Seine Beschwerde hiergegen hat das LG, nachdem der Einzelrichter das Verfahren gem. § 66 Abs. 6 Satz 2 GKG wegen dessen grundsätzlicher Bedeutung auf die Wirtschaftsstrafkammer als Beschwerdekammer übertragen hatte, verworfen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Verurteilte mit seiner weiteren Beschwerde, die das LG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage gem. § 66 Abs. 4 Satz 1 GKG zugelassen hat. Er macht geltend, bei den Kosten für das im Ermittlungsverfahren erstellte Gutachten sowie die eingeholten Bankauskünfte handele es sich um Insolvenzforderungen im Sinne von § 38 InsO, da die anspruchsbegründenden Tatbestände bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgeschlossen gewesen seien. Die Landeskasse habe bereits vor der Insolvenzeröffnung im Juli 2014 eine mit einer sog. „gesicherten Anwartschaft“ vergleichbare Rechtsposition erlangt.

Das Rechtsmittel hatte beim OLG keinen Erfolg:

„3.) Der Umstand, dass durch Beschluss des Amtsgerichts Syke vom 30. Juli 2014 (Az: 15 IN 148/14) über das Vermögen des Verurteilten das Privatinsolvenzverfahren eröffnet wurde, steht der Pflicht des Beschwerdeführers, die zur Vorbereitung der öffentlichen Klage im Ermittlungsverfahren entstandenen Kosten zu tragen, nicht entgegen.

Bei den unter den lfd. Ziffern Nr. 4 und 5 in der Kostenrechnung der Staatsanwaltschaft Verden vom 10. April 2018 aufgeführten Beträgen handelt es sich entgegen der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers nicht um Insolvenzforderungen i.S.v. § 38 InsO.

Insolvenzgläubiger ist nur derjenige, dessen Vermögensanspruch im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch begründet war (BeckOK InsO/Jilek, 16. Ed. 15.10.2019, InsO § 38 Rn. 20). Begründet i.S.d. § 38 InsO ist ein Vermögensanspruch dann, wenn der anspruchsbegründende Tatbestand vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits abgeschlossen war (BGH, Beschluss vom 07.04.2005 – Az.: IX ZB 129/03, BeckRS 2005, 05085).

Vorliegend ist es zwar zutreffend, dass sowohl die infolge der Einholung von Bankauskünften, als auch durch das in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten entstandenen finanziellen Verpflichtungen bereits vor der Eröffnung des Privatinsolvenzverfahrens über das Vermögen des Verurteilten begründet wurden; diese trafen indes allein das Land Niedersachsen, mit dem gem. § 1 ff. JVEG ein Auftragsverhältnis zustande gekommen war. Die Zahlungsverpflichtung des Beschwerdeführers selbst entstand erst durch die Kostengrundentscheidung der Verurteilung vom 26. Januar 2018 unter der aufschiebenden Bedingung ihrer Rechtskraft (KG Berlin, Beschluss vom 16. März 2015 – 1 Ws 8/15 –, juris).

Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, die Landeskasse könne nicht bessergestellt werden, als jeder andere Gläubiger, bei dem eine aus einem Lebenssachverhalt vor der Insolvenzeröffnung resultierende Forderung auch dann eine Insolvenzforderung bleibe, wenn diese erst nach der Insolvenzeröffnung gerichtlich festgestellt werde, greift der Einwand nicht durch.

Zwar wird in der Rechtsprechung in Fällen, in denen ein Gläubiger eine Rechtsposition erlangt hat, die – gleich einer gesicherten Anwartschaft – nicht mehr einseitig durch den Schuldner verhindert werden kann, in der Tat von einem begründeten Vermögensanspruch i.S.d. § 38 InsO ausgegangen (BeckOK InsO/Jilek, aaO, § 38 Rn. 20).

In Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft – wie hier – kostenpflichtige Ermittlungen in Auftrag gibt, erlangt das Land Niedersachsen allerdings gerade keinen gesicherten Anspruch auf Rückzahlung der gem. § 1 ff. JVEG durch die Landeskasse entrichteten Zahlungen zur Aufklärung der im Raume stehenden Straftat gegen den Beschuldigten. Das ergibt sich schon daraus, dass es zu diesem Zeitpunkt häufig nicht einmal einen namentlich bekannten Beschuldigten gibt, gegen den das Land einen Rückforderungsanspruch erlangen könnte, denn kostenpflichtige Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft werden häufig auch in Verfahren gegen Unbekannt in Auftrag gegeben; zu den Kosten der Vorbereitung der öffentlichen Klage, die der verurteilte Angeklagte nach § 465 Abs. 1 StPO zu tragen hat, gehören im Übrigen auch solche, die entstanden sind, während das Verfahren noch nicht gegen diesen Angeklagten, sondern gegen eine andere verdächtig gewesene Person gerichtet war (Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 464a, Rn. 13).

Selbst wenn – wie vorliegend – in dem Zeitpunkt, in dem die Staatsanwaltschaft kostenpflichtige Ermittlungen in Auftrag gibt, der Beschuldigte namentlich bekannt ist, hängt dessen spätere Zahlungsverpflichtung alleine vom Ausgang des Strafverfahrens ab; ergeben die Ermittlungen keinen hinreichenden Tatverdacht, so ist das Ermittlungsverfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen mit der Folge, dass das Land Niedersachsen die Kosten für die in Auftrag gegebenen Ermittlungen trägt. Die Annahme, dem Land Niedersachsen stünde bereits zu diesem Zeitpunkt eine gesicherte Rückzahlungsforderung gegen den Beschuldigten zu, würde im Übrigen der im Strafverfahren geltenden Unschuldsvermutung eklatant zuwiderlaufen. Selbst nach der im vorliegenden Verfahren am 13.03.2015 erfolgten Anklageerhebung und der am 15.10.2015 beschlossenen Eröffnung des Hauptverfahrens hing die Pflicht des Beschwerdeführers, die Kosten der Vorbereitung der öffentlichen Klage zu tragen, davon ab, dass sich das erkennende Gericht nach durchgeführter Beweisaufnahme ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit von der Schuld des Beschwerdeführers verschaffen und diesen schuldig sprechen würde.“

Wann/wie haftet ein 8-jähriges Kind für einen Fahrradunfall, oder: Aufsichtspflichtverletzung?

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt vom OLG Celle. Das hatte über eine Klage zu entscheiden, mit der die Klägerin von der minderjährigen Beklagten und ihren Eltern, Schadensatz, Schmerzensgeld und die Feststellung der Einstandspflicht für künftige Schäden aus einem Unfallgeschehen vom 04.10.2016 am Gardasee in Italien verlangt.

Das OLG geht im OLG Celle, Urt. v. 19.02.2020 – 14 U 69/19 – von folgendem Sachverhalt aus:

„Die Klägerin war am Unfalltag als Fußgängerin auf der Promenade des Gardasees in R./Italien mit ihrer Freundin, der Zeugin W., unterwegs. Die 2008 geborene, am Unfalltag achtjährige Beklagte zu 1) fuhr mit ihrem Fahrrad in entgegengesetzter Richtung auf der Promenade. Während der Vorwärtsfahrt drehte sich die Beklagte zu 1) eine Zeitlang zu ihren Eltern, den Beklagten zu 2) und 3) um, die einige Meter hinter ihr in Sicht- und Rufweite folgten und dabei ihre mitgeführten Fahrräder schoben. Dabei verlor sie unbemerkt ihre Fahrspur und näherte sich der an der Uferpromenade stehenden Klägerin und ihrer Freundin, der Zeugin W. Als die Eltern den Kursverlust ihrer Tochter bemerkten, versuchte die Beklagte zu 2) noch, ihre Tochter zu warnen, die eine Vollbremsung einleitete. Die Klägerin geriet indes ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht und stürzte von der Uferpromenade auf einen ca. einen Meter darunterliegenden Betonsteg und von dort aus ins Hafenbecken. Die Zeugin W., die unmittelbar vor dem Unfall etwas schräg versetzt vor der Klägerin stand, konnte noch seitlich ausweichen.

Die Klägerin erlitt bei ihrem Sturz eine Sprunggelenkfraktur links mit Syndesmosensprengung, eine Delta-Band-Ruptur, eine Kapselruptur und ausgeprägte Hämatombildung medial/lateral sowie einen Ausriss der Peronealsehnenscheide und Hautabschürfungen am Fußrücken. Mit einem Rettungswagen wurde die Klägerin zunächst in ein Krankenhaus in Italien gebracht, sie entschied sich jedoch zu einer Operation in M. Vom 5. bis 13. Oktober 2016 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung in der S. Klinik in M. Es folgten Nachsorgetermine bei ihrem Hausarzt, Krankengymnastik und eine weitere Operation in der S. Klinik in M., bei der die eingesetzten Schrauben entfernt wurden.

Die Klägerin hat erstinstanzlich behauptet, die Beklagte zu 1) sei mit ihrem Kinderrad zunächst „sehr zügig“ in der Mitte der Promenade gefahren. Plötzlich habe ihre Freundin, die Zeugin W., einen Sprung nach links gemacht, sie habe jedoch nicht mehr reagieren können und sei von der Beklagten zu 1) angefahren worden. Durch die Berührung mit dem Lenker der Beklagten zu 1) habe sie ihr Gleichgewicht verloren und sei gestürzt.“

Das LG hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es sei nicht erwiesen, dass der Sturz und die daraus resultierenden Verletzungen und Schäden auf einer Verletzungshandlung der Beklagten zu 1) beruhten. Eine Haftung der Beklagten zu 2) und 3) scheide bereits wegen fehlender Verletzung der Aufsichtspflicht aus. Denn die Beklagte zu 1) habe Fahrrad fahren gekonnt und in dem Bereich der Uferpromenade, in dem kein Autoverkehr geherrscht habe, auch ohne unmittelbare Eingreifmöglichkeit der Eltern fahren dürfen. Kinder müssten an die Teilnahme am öffentlichen Verkehr herangeführt werden, wofür sich die Promenade angeboten habe. Zudem fehle es an einer Ursächlichkeit zwischen der vermeintlichen Aufsichtspflichtverletzung und den behaupteten Schäden, da eine Kollision zwischen der Beklagten zu 1) und der Klägerin gerade nicht bewiesen sei.

Die dagegen eingelegte Berufung der Klägerin hatte teilweise Erfolg.

Das OLG bejaht im OLG Celle, Urt. v. 19.02.2020 – 14 U 69/19  – eine Haftung der minderjährigen Beklagten aus. §§ 823 Abs. 1, 828 Abs. 3, 253 Abs. 2 BGB. Der Leitsatz der Entscheidung lautet:

„Einem altersgerecht entwickeltem achtjährigem Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr im Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss bewusst sein, dass eine länger andauernde Vorwärtsfahrt mit dem Fahrrad, während der Kopf rückwärtsgewandt und damit das Blickfeld vom Fahrweg abgewandt ist, gefahrenträchtig ist.“

Und: Das OLG verneint aber eine Haftung der beklagten Eltern:

2) Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagten zu 2) und 3) gem. § 832 BGB. Danach ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit (…) der Beaufsichtigung bedarf und einem Dritten widerrechtlich Schaden zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt (…). Diese Voraussetzung liegt vor.

Die Beklagte zu 2) und 3) haben ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt, die ihnen über die Beklagten zu 1) obliegt. Grundsätzlich richtet sich das Maß der gebotenen Aufsicht über Minderjährige zum einen nach deren Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung danach bestimmt, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Zum anderen kommt es auf die Gefährlichkeit des jeweiligen Verhaltens und die Schadensgeneigtheit des jeweiligen Umfeldes an, also auf das Ausmaß der vorhersehbaren Gefahren, die von der konkreten Situation für Dritte ausgehen. Kinder müssen dabei über die Gefahren des Straßenverkehrs frühzeitig belehrt werden. Sie müssen, insbesondere was das Radfahren betrifft, behutsam in den Straßenverkehr hineingeführt werden. Eltern müssen ihre Kinder langsam daran gewöhnen, sich auf die vielfältigen Gefahren einzustellen und ihr Verhalten danach zu steuern. Das betrifft sowohl die Verkehrsregeln als auch die Fahrtechnik. Beides muss eingeübt werden. Die sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbstständigen, verantwortungsbewussten und umsichtigen Verhalten im Verkehr ist allerdings nur möglich, wenn ein Kind andererseits auch altersgerecht angepasste Gelegenheiten bekommt, sich ohne ständige Beobachtung, Kontrolle und Anleitung selbst im Verkehr zu bewähren (vgl. Wellenhofer, in: BeckOGK, Stand: 1.11.2019, BGB, § 832 Rn. 63 m.w.N.; vgl. BGH, Urteil vom 07. Juli 1987 – VI ZR 176/86 -, Rn. 12; OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Januar 2009 – 12 U 1299/08 -, Rn. 1, beide zitiert nach juris). Denn die Erziehung der Kinder zu verantwortungsbewussten Verkehrsteilnehmern liegt auch im Gemeinschaftsinteresse, und sie ist insoweit nicht in dem Sinn der Alleinverantwortung der Eltern unterworfen, dass diese stets „für ihre Kinder“ haften müssen (OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Januar 2009 – 12 U 1299/08 -, Rn. 3, juris).

Nach diesen Maßstäben ist es aus Sicht des Senats nicht zu beanstanden, dass die Beklagten zu 2) und 3) die Beklagte zu 1) in der Situation vor dem Unfall auf der Hafenpromenade mit dem Fahrrad fahren ließen, während sie selbst – ihre Fahrräder schiebend – in einigem Abstand folgten. Die Beklagte zu 1) war mit den Verkehrsregeln vertraut und bewegte sich bereits nach eigenen Aussagen seit ihrem fünften Lebensjahr mit dem Fahrrad im Straßenverkehr. Die Beklagten zu 2) und 3) hielten Sicht- und Rufkontakt zur Beklagten zu 1), der befahrene Weg war ausreichend breit, motorisierter Verkehr war nicht zu erwarten. Es handelte sich um eine sehr übersichtliche Gesamtsituation, die von wenigen Fußgängern geprägt war. Unter diesen Umständen war die Entscheidung der Beklagten zu 2) und 3), die Beklagte zu 1) mit dem Fahrrad vorfahren zu lassen, nicht zu beanstanden. Denn ein altersgerecht entwickeltes Kind braucht gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen, die sich aus den Erziehungszielen der §§ 1631 Abs. 1 und 1626 Abs. 2 BGB ergeben (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 16. September 1999 – 6 U 92/99 -, Rn. 16, juris).“

U-Haft III: Beschränkungen in der U-Haft, oder: Das geht nur „einzelfallbezogen“

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In der letzten Entscheidung des Tages, dem OLG Celle, Beschl. v.  10.01.2020 – 3 Ws 372/19 (UVollz), geht es um die Frage der Zulässigkeit von Beschränkungen während der U-Haft,  Stichwort: „Haftstatut“

Das OLG geht in dem Verfahren mit dem Vorwurf des BtM-Handels von folgendem Sachverhalt aus:

„Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 16. Februar 2019 in Untersuchungshaft. Grundlage der Untersuchungshaft war zunächst ein Haftbefehl des Amtsgerichts Celle. Darin wurde dem Angeklagten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt. Der Haftbefehl war auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt.

Auf der Basis einer Verständigung wurde der Angeklagte am 11. November 2019 wegen Bandenhandels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Mit Beschluss vom selben Tag hat die Strafkammer die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Bereits unter dem 24. Oktober 2019 hatte der Angeklagte durch seinen Verteidiger, Rechtsanwalt pp., beantragt, „den Haftstatut des Mandanten aufzuheben, da dieser sich umfassend geständig eingelassen“ habe.

Mit Beschluss vom 28. November 2019 hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung des „Haftstatuts“ zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Gefahr bestehe, dass der Angeklagte sein Geständnis widerrufe, sodass dieser Umstand, anders als die Verteidigung meine, nicht zu einer Aufhebung des „Haftstatuts“ führen könne. Im Übrigen seien auch die Urteile gegen die Mitangeklagten nicht rechtskräftig, sodass durch das Führen unüberwachter Besuche und Telefonate die Gefahr von Absprachen der Angeklagten untereinander bestehe. Dies gelte umso mehr, als bei Telefonaten die Identität des jeweiligen Gesprächspartners nicht geprüft werden könne.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde vom 9. Dezember 2019. Er macht geltend, dass die Voraussetzungen für die Anordnung des „Haftstatuts“ von Anfang an nicht vorgelegen hätten und auch die von der Strafkammer zur Begründung der Aufrechterhaltung des „Haftstatuts“ vorgebrachte theoretische Gefahr von Absprachen die Gesetzesanforderungen nicht erfülle. Die Anordnung, dass die Telekommunikation und der Empfang von Besuchen der Erlaubnis bedürfen und Besuche, Telekommunikation sowie Schrift- und Paketverkehr zu überwachen seien, sei nur zulässig, wenn im Einzelfall aufgrund konkreter Anhaltspunkte durch den unkontrollierten Kontakt des Untersuchungsgefangenen mit der Außenwelt eine reale Gefahr für die Haftzwecke bestehe, während die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbrauchen könnte, nicht genüge. Eine solche reale Gefahr werde durch den Aspekt, dass trotz bereits abgelegten Geständnisses jedenfalls denktheoretisch die Möglichkeit dessen Widerrufs und die Gefahr von Absprachen bestehe, nicht belegt.

Das Landgericht hat mit Beschluss vom 10. Dezember 2019 entschieden, dass es der Beschwerde nicht abhelfe. Der Angeklagte sei der Kopf der Bande gewesen und habe weitere Täter, insbesondere seinen Drogenlieferanten nicht benannt. Damit lägen aus Sicht der Kammer hinreichend konkrete Anhaltspunkte vor, die einen Eingriff die Freiheitsrechte des Angeklagten rechtfertigten.“

Das OLG hat auf die Beschwerde ( vgl. dazu §§ 119 Abs. 5 Satz 1, 304 Abs.1 StPO)  den LG-Beschluss aufgehoben und die Sache an das LG zurückzuverwiesen. Es moniert, dass keine einzelfallbezogene Anordnung der Beschränkungen vorliegt.

Der amtliche Leitsatz der Entscheidung:

Sollen einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a StPO) auferlegt werden, ist eine den Anforderungen nach § 119 StPO genügende, einzelfallbezogene Anordnung (sog. Haftstatut) notwendig, die dem Beschuldigten zur Kenntnis zu geben ist. Den sich aus §§ 133 ff. NJVollzG ergebenden Beschränkungen sind in Niedersachsen inhaftierte Beschuldigte nur zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt unterworfen. Daher können ohne ein Haftstatut nach § 119 StPO nur Gründe der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt Entscheidungen zur Ausgestaltung der Untersuchungshaft tragen.“