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Die zweite Entscheidung des Tages kommt vom OLG Celle. Das hatte über eine Klage zu entscheiden, mit der die Klägerin von der minderjährigen Beklagten und ihren Eltern, Schadensatz, Schmerzensgeld und die Feststellung der Einstandspflicht für künftige Schäden aus einem Unfallgeschehen vom 04.10.2016 am Gardasee in Italien verlangt.
Das OLG geht im OLG Celle, Urt. v. 19.02.2020 – 14 U 69/19 – von folgendem Sachverhalt aus:
„Die Klägerin war am Unfalltag als Fußgängerin auf der Promenade des Gardasees in R./Italien mit ihrer Freundin, der Zeugin W., unterwegs. Die 2008 geborene, am Unfalltag achtjährige Beklagte zu 1) fuhr mit ihrem Fahrrad in entgegengesetzter Richtung auf der Promenade. Während der Vorwärtsfahrt drehte sich die Beklagte zu 1) eine Zeitlang zu ihren Eltern, den Beklagten zu 2) und 3) um, die einige Meter hinter ihr in Sicht- und Rufweite folgten und dabei ihre mitgeführten Fahrräder schoben. Dabei verlor sie unbemerkt ihre Fahrspur und näherte sich der an der Uferpromenade stehenden Klägerin und ihrer Freundin, der Zeugin W. Als die Eltern den Kursverlust ihrer Tochter bemerkten, versuchte die Beklagte zu 2) noch, ihre Tochter zu warnen, die eine Vollbremsung einleitete. Die Klägerin geriet indes ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht und stürzte von der Uferpromenade auf einen ca. einen Meter darunterliegenden Betonsteg und von dort aus ins Hafenbecken. Die Zeugin W., die unmittelbar vor dem Unfall etwas schräg versetzt vor der Klägerin stand, konnte noch seitlich ausweichen.
Die Klägerin erlitt bei ihrem Sturz eine Sprunggelenkfraktur links mit Syndesmosensprengung, eine Delta-Band-Ruptur, eine Kapselruptur und ausgeprägte Hämatombildung medial/lateral sowie einen Ausriss der Peronealsehnenscheide und Hautabschürfungen am Fußrücken. Mit einem Rettungswagen wurde die Klägerin zunächst in ein Krankenhaus in Italien gebracht, sie entschied sich jedoch zu einer Operation in M. Vom 5. bis 13. Oktober 2016 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung in der S. Klinik in M. Es folgten Nachsorgetermine bei ihrem Hausarzt, Krankengymnastik und eine weitere Operation in der S. Klinik in M., bei der die eingesetzten Schrauben entfernt wurden.
Die Klägerin hat erstinstanzlich behauptet, die Beklagte zu 1) sei mit ihrem Kinderrad zunächst „sehr zügig“ in der Mitte der Promenade gefahren. Plötzlich habe ihre Freundin, die Zeugin W., einen Sprung nach links gemacht, sie habe jedoch nicht mehr reagieren können und sei von der Beklagten zu 1) angefahren worden. Durch die Berührung mit dem Lenker der Beklagten zu 1) habe sie ihr Gleichgewicht verloren und sei gestürzt.“
Das LG hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es sei nicht erwiesen, dass der Sturz und die daraus resultierenden Verletzungen und Schäden auf einer Verletzungshandlung der Beklagten zu 1) beruhten. Eine Haftung der Beklagten zu 2) und 3) scheide bereits wegen fehlender Verletzung der Aufsichtspflicht aus. Denn die Beklagte zu 1) habe Fahrrad fahren gekonnt und in dem Bereich der Uferpromenade, in dem kein Autoverkehr geherrscht habe, auch ohne unmittelbare Eingreifmöglichkeit der Eltern fahren dürfen. Kinder müssten an die Teilnahme am öffentlichen Verkehr herangeführt werden, wofür sich die Promenade angeboten habe. Zudem fehle es an einer Ursächlichkeit zwischen der vermeintlichen Aufsichtspflichtverletzung und den behaupteten Schäden, da eine Kollision zwischen der Beklagten zu 1) und der Klägerin gerade nicht bewiesen sei.
Die dagegen eingelegte Berufung der Klägerin hatte teilweise Erfolg.
Das OLG bejaht im OLG Celle, Urt. v. 19.02.2020 – 14 U 69/19 – eine Haftung der minderjährigen Beklagten aus. §§ 823 Abs. 1, 828 Abs. 3, 253 Abs. 2 BGB. Der Leitsatz der Entscheidung lautet:
„Einem altersgerecht entwickeltem achtjährigem Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr im Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss bewusst sein, dass eine länger andauernde Vorwärtsfahrt mit dem Fahrrad, während der Kopf rückwärtsgewandt und damit das Blickfeld vom Fahrweg abgewandt ist, gefahrenträchtig ist.“
Und: Das OLG verneint aber eine Haftung der beklagten Eltern:
2) Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagten zu 2) und 3) gem. § 832 BGB. Danach ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit (…) der Beaufsichtigung bedarf und einem Dritten widerrechtlich Schaden zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt (…). Diese Voraussetzung liegt vor.
Die Beklagte zu 2) und 3) haben ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt, die ihnen über die Beklagten zu 1) obliegt. Grundsätzlich richtet sich das Maß der gebotenen Aufsicht über Minderjährige zum einen nach deren Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung danach bestimmt, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Zum anderen kommt es auf die Gefährlichkeit des jeweiligen Verhaltens und die Schadensgeneigtheit des jeweiligen Umfeldes an, also auf das Ausmaß der vorhersehbaren Gefahren, die von der konkreten Situation für Dritte ausgehen. Kinder müssen dabei über die Gefahren des Straßenverkehrs frühzeitig belehrt werden. Sie müssen, insbesondere was das Radfahren betrifft, behutsam in den Straßenverkehr hineingeführt werden. Eltern müssen ihre Kinder langsam daran gewöhnen, sich auf die vielfältigen Gefahren einzustellen und ihr Verhalten danach zu steuern. Das betrifft sowohl die Verkehrsregeln als auch die Fahrtechnik. Beides muss eingeübt werden. Die sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbstständigen, verantwortungsbewussten und umsichtigen Verhalten im Verkehr ist allerdings nur möglich, wenn ein Kind andererseits auch altersgerecht angepasste Gelegenheiten bekommt, sich ohne ständige Beobachtung, Kontrolle und Anleitung selbst im Verkehr zu bewähren (vgl. Wellenhofer, in: BeckOGK, Stand: 1.11.2019, BGB, § 832 Rn. 63 m.w.N.; vgl. BGH, Urteil vom 07. Juli 1987 – VI ZR 176/86 -, Rn. 12; OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Januar 2009 – 12 U 1299/08 -, Rn. 1, beide zitiert nach juris). Denn die Erziehung der Kinder zu verantwortungsbewussten Verkehrsteilnehmern liegt auch im Gemeinschaftsinteresse, und sie ist insoweit nicht in dem Sinn der Alleinverantwortung der Eltern unterworfen, dass diese stets „für ihre Kinder“ haften müssen (OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Januar 2009 – 12 U 1299/08 -, Rn. 3, juris).
Nach diesen Maßstäben ist es aus Sicht des Senats nicht zu beanstanden, dass die Beklagten zu 2) und 3) die Beklagte zu 1) in der Situation vor dem Unfall auf der Hafenpromenade mit dem Fahrrad fahren ließen, während sie selbst – ihre Fahrräder schiebend – in einigem Abstand folgten. Die Beklagte zu 1) war mit den Verkehrsregeln vertraut und bewegte sich bereits nach eigenen Aussagen seit ihrem fünften Lebensjahr mit dem Fahrrad im Straßenverkehr. Die Beklagten zu 2) und 3) hielten Sicht- und Rufkontakt zur Beklagten zu 1), der befahrene Weg war ausreichend breit, motorisierter Verkehr war nicht zu erwarten. Es handelte sich um eine sehr übersichtliche Gesamtsituation, die von wenigen Fußgängern geprägt war. Unter diesen Umständen war die Entscheidung der Beklagten zu 2) und 3), die Beklagte zu 1) mit dem Fahrrad vorfahren zu lassen, nicht zu beanstanden. Denn ein altersgerecht entwickeltes Kind braucht gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen, die sich aus den Erziehungszielen der §§ 1631 Abs. 1 und 1626 Abs. 2 BGB ergeben (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 16. September 1999 – 6 U 92/99 -, Rn. 16, juris).“