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Stillstand auf dem rechten Fahrstreifen der BAB, oder: Auffahren vom Einfädelungsstreifen

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Im „Kessel Buntes“ heute zwei Entscheidungen zu Unfallsachen.

Zunächst hier das OLG Celle, Urt. v. 23.06.2021 – 14 U 186/20 – zur Anwendbarkeit des § 18 Abs. 3 StVO bei Stau auf der bevorrechtigten Fahrspur der BAB

Folgender Sachverhalt:

Gestritten worden ist um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall auf einer BAB in Höhe des Rastparkplatzes. Der Kläger ist Eigentümer und Halter eines Fahrzeugs der Marke Ferrari 488 Spider. Der Beklagte zu 2 war der Fahrer eines Lkw mit einem Sattelauflieger

Die Bundesautobahn ist an der Unfallstelle zweispurig. Der Beklagte zu 2 befand sich mit seinem Fahrzeug auf der rechten Spur. Der Kläger beabsichtigte von einem Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrspur zu wechseln als es zu einem Zusammenstoß mit dem vom Beklagten zu 2 geführten LKW kam, der zu einem Schaden an dem Fahrzeug des Klägers führte.

Vorgerichtlich hatten die Beklagten 50 % auf den vom Kläger geltend gemachten Gesamtbetrag in Höhe von 30.425,74 EUR, einen Betrag in Höhe von 15.212,87 EUR sowie 958,19 EUR auf außergerichtlich angefallene Rechtsanwaltskosten, bezahlt. Der Kläger begehrt nach Klagerweiterung mit seiner Klage die Zahlung von weiteren 33.712,87 EUR (50 % des Schadens und 18.500,00 EUR Minderwert) sowie weitere Rechtsanwaltskosten in Höhe von 864,77 EUR.

Der Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig. Der Kläger hat behauptet, auf dem rechten Fahrstreifen der Bundesautobahn habe kompletter Stillstand geherrscht. Er sei mit seinem Fahrzeug vom Einfädelungsstreifen in eine größere Lücke vor den Lkw des Beklagten zu 2 gefahren. Er habe sich etwas quer vor den Lkw gestellt, weil er von der rechten Fahrspur sogleich auf die linke Fahrspur habe wechseln wollen, auf der noch Stop-and-go-Verkehr geherrscht habe. Sein klägerisches Fahrzeug habe gestanden, als sich das Beklagtenfahrzeug langsam in Bewegung gesetzt habe und auf sein klägerisches Fahrzeug aufgefahren sei.

Die Beklagten haben hingegen behauptet, der Kläger habe den Vorrang des Beklagtenfahrzeugs nicht beachtet, der Beklagte zu 2 habe den Zusammenstoß nicht verhindern können.

Das LG  hat – nach vorheriger Einholung eines Sachverständigengutachtens zum merkantilen Minderwert – der Klage in Höhe von 75 % stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Der Beklagte zu 2 habe den Unfall verschuldet, indem er aus Unachtsamkeit gegen das vor ihm befindliche klägerische Fahrzeug gefahren sei. Der Kläger habe zwar eine durchgezogene Linie beim Spurwechsel überfahren. Einen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO müsse sich der Kläger aber nicht zurechnen lassen. Diese Norm sei aufgrund des festgestellten Staus auf der rechten Fahrspur der Autobahn nicht anwendbar.

Gegen dieses Urteil wenden sich beide Parteien mit ihrer Berufung. Der Kläger wendet sich gegen das ihm auferlegte Mitverschulden in Höhe von 25 % und begehrt den Ersatz seines vollen Schadens. Sein Fahrzeug habe gestanden, als der Beklagte zu 2 auf dieses aufgefahren sei. Die Lücke, in die der Kläger hineingefahren sei, sei auch ausreichend groß gewesen. Das Überfahren der durchgezogenen Linie stelle keinen Verstoß des Klägers dar, weil diese dem Schutz des fließenden Verkehrs diene. Vorliegend habe aber Stillstand der Fahrzeuge geherrscht. Der merkantile Minderwert sei fehlerhaft ermittelt worden. Es bedürfe einer Neubegutachtung.

In der Sache hatte nur die Berufung der Beklagten Erfolg.

Hier nur die Leitsätze des OLG zur Anwendung des § 18 Abs. 3 StVO:

1. Die Norm des § 18 Abs. 3 StVO bezieht sich auf bauliche Gegebenheiten und setzt eine Einfädelspur und eine Fahrspur voraus. Ist dies der Fall, ist der Verkehr auf der Fahrspur gegenüber dem Verkehr auf der Einfädelspur bevorrechtigt. Dieses Vorrecht bleibt auch dann erhalten, wenn die Fahrzeuge auf der Fahrspur verkehrsbedingt zum Stehen kommen.

2. Der Wortlaut des § 18 Abs. 3 StVO „Vorfahrt“ leitet sich nicht aus einer Bewegung („fahren“) ab, sondern aus einem „Vorrecht“, das der Gesetzgeber für die sich auf der Fahrspur befindlichen Fahrzeuge gegenüber dem Verkehr auf der Einfädelungsspur normiert hat (gegen OLG Hamm, Bußgeldsenat, Urteil vom 3. Mai 2018 – III 4 RBs 117/18).

BtM III: Zurückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG, oder: Ggf. auch bei Substitutionsbehandlung

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Und zum Schluss des Tages dann noch eine weitere Entscheidung zur Zurückstellung nach § 35 BtMG. Ich stelle aber vom dem umfangreich begründeten OLG Celle, Beschl. v.05.07.2021 – 2 VAs 8/21 – hier nur den Leitsatz ein. Den Rest bitte selbst lesen:

Die Durchführung einer ambulanten diamorphingestützten Substitutionsbehandlung rechtfertigt eine Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG, wenn die Behandlung auch eine intensive psychosoziale Begleitung umfasst und als Fernziel eine vollständige Abstinenz angestrebt wird.

Corona II: Anzeige der Versammlung zu Coronazeiten, oder: Kunstfreiheit und faktischer Versammlungsleiter

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Das zweite Posting des Tages stellt den OLG Celle, Beschl. v. 28.08.2021 – 3 Ss (OWi) 156/21 – vor. Er behandelt zwar nicht unmittelbar eine „Corona-Frage“, es geht aber um eine Versammlung, bei der die Pandemiefrage zumindest wohl auch eine Rolle gespielt hat.

Das AG hat den Betroffenen wegen „Nichtanzeigens einer Versammlung unter freiem Himmel als Versammlungsleiter bei der zuständigen Behörde“ zu einer Geldbuße von 100 EUR verurteilt und dazu folgende Feststellungen getroffen:.

„Nach den Feststellungen trafen sich der Betroffene, die Zeuginnen W. und T. sowie sechs weitere Personen am 9. Januar 2021 gegen 10:00 Uhr auf dem Parkplatz am …platz in G., um – wie einige Tage zuvor während eines Treffens der Bürgerinitiative „Aufklärung und Menschlichkeit“ geplant – durch eine Aktion auf die von ihnen als negativ empfundenen Auswirkungen der Pandemiepolitik aufmerksam zu machen. Sie zogen weiße Malerkittel an, setzten Theatermasken auf und bewegten sich – angeführt von dem Betroffenen und der Zeugin W. – in einer zweireihigen Formation im Gleichschritt und mit marionettenartigen Bewegungen über den …weg, wo gerade der Wochenmarkt stattfand, in Richtung …straße. Dabei spielten sie über eine Lautsprecheranlage auf einem von ihnen mitgeführten Handwagen eine Computerstimme ab, die mitteilte: „Impfen ist Nächstenliebe“, „Schützt die Ungeborenen, verzichtet auf ihre Zeugung“, „Verratet eure Nachbarschaft“. Ferner wurden aufgezeichnete Redebeiträge dritter Personen abgespielt. Nach etwa 50 m stoppte die Formation auf ein Handzeichen des Betroffenen und formierte sich zu einem Kreis. Der Betroffene, die Zeugin W. und eine weitere Person erhielten von den anderen Teilnehmern Plakate überreicht, auf denen zu lesen war: „Wie viele traumatisierte Kinder sind für euch akzeptabel?“, „Wie viel bedeutet dir deine Freiheit?“, „Wer bestimmt dein Leben?“, „Wenn nicht du, wer dann?“, „Jetzt ist die Zeit gekommen uns zu erheben“, „Wie viele Tote durch Maßnahmen sind für dich akzeptabel?“. Nach dem Zeigen der Plakate nahmen die Teilnehmer unter Führung des Betroffenen und der Zeugin W. wieder ihre zweireihige Formation ein, zogen einige Meter weiter, hielten auf Handzeichen des Betroffenen erneut an, bildeten einen Kreis und zeigten die Plakate. Anschließend nahmen sie wieder die ursprüngliche Formation ein und bewegten sich weiter. Nach ca. 30 Minuten trafen sie auf Polizeibeamte. Der Betroffene erklärte diesen den Grund und Zielrichtung der Aktion. Ferner teilte er ihnen mit, dass die Aktion an dieser Stelle beendet sei. Eine vorherige Anzeige der Aktion bei der Stadt G. war nicht erfolgt.

Gegen das Urteil hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt. Das OLG hat die als unbegründet verwofen. Dazu gibt es folgende Leitsätze:

  1. Die Anzeigepflicht nach § 5 Abs. 1 NVersG gilt auch für Versammlungen, die zugleich in den Schutzbereich der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fallen. Eine einschränkende Auslegung ist insoweit bereits deshalb nicht geboten, weil die bloße Anzeigepflicht die künstlerische Ausgestaltung der Versammlung nicht einschränkt.

  2. Da nach § 21 Abs. 1 Nr. 4 NVersG nicht die unterbliebene Anzeige, sondern die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel ohne vorherige Anzeige geahndet wird und aufgrund der fehlenden Anzeige ein Versammlungsleiter nicht bestimmt worden ist, wird der „faktische Versammlungsleiter“ von dem Bußgeldtatbestand erfasst.

  3. „Faktischer Versammlungsleiter“ ist, wer – persönlich bei der Veranstaltung anwesend – die Ordnung der Versammlung handhabt und den äußeren Gang der Veranstaltung bestimmt, insbesondere die Versammlung eröffnet, unterbricht und schließt. Auf der Seite des Leiters ist dabei weiterhin erforderlich, dass er diese Funktionen übernommen hat, auf Seiten der Teilnehmer hingegen, dass sie mit deren Ausübung durch ihn einverstanden sind.

 

Nachtrag II: EncroChat – OLG Brandenburg u. OLG Celle, oder: Wir machen es wie alle anderen OLG

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Im zweiten „Nachtragsposting“ geht es dann noch einmal um die EncroChat-Problematik. Auch darüber habe ich ja schon mehrfach berichtet und Beschlüsse dazu vorgestellt.

Wenn man Bilanz ziehen will, muss man sagen: Die OLG sehen die Ergebnisse unisono als verwertbar an – und – zumindest so mein Informationsstand – auch die LG, mit Ausnahme des LG Berlin im LG Berlin, Beschl. v. 01.07.2021 – (525 KLs) 254 Js 592/20 (10/21), zu dem aber die KG-Entscheidung noch aussteht. Man darf gespannt sein, obwohl: Viel Hoffnung habe ich nicht.

Zu der Problematik EncroChat trage ich dann hier jetzt zwei OLG-Beschlüsse nach, und zwar:

Die Verwertung der durch die französischen Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit der Überwachung des Dienstleistungsanbieters für sogenannte Krypto-Handys (EncroChat) durch Entschlüsselung von Chat-Nachrichten gewonnenen, sichergestellten und ausgewerteten Chat-Daten unterliegt keinem Verbot.

Die von französischen Behörden erhobenen Daten von Encrochat-Mobiltelefonen sind gemäß § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO auch in deutschen Strafverfahren verwertbar.

Mich überraschen die Entscheidungen nicht.

OWi I: Leivtex XV 3 ist doch noch standardisiert, oder: Die Bayern der Nordens/das OLG Schleswig meldet sich

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Heute dann mal wieder ein wenig OWi.

Zunächst noch einmal Messverfahren Leivtec XV3. Dieses Messverfahren und seine Verwertbarkeit sind ja seit einiger Zeit in der Diskussion. Inzwischen haben ja zwei OLG sich dahin geäußert, dass das Verfahren der nicht als standardisiert anzusehen sind, und zwar auch nach Abschluss der Untersuchungen durch die PTB (vgl. OLG Oldenburg, Beschl. v. 19.07.2021 – 2 Ss (OWi) 170/21 und OLG Celle, Beschl. v. 18.06.2021 – 2 Ss (OWi) 69/21). Das hat das OLG Celle dann im OLG Celle, Beschl. v. 05.07.2021 – 2 Ss (Owi) 153/21 – noch einmal bestätigt, wobei allerdings die Kostenentscheidung des Beschlusses m.E. falsch ist.

Soweit, so gut. Oder auch nicht. Denn wer gedacht hatte, dass die OLG das einheitlich sehen, der hat sich geirrt. Jetzt haben sich nämlich die „Bayern des Nordens“ 🙂 – das OLG Schleswig zu Wort gemeldet. Und die machen es – wie m.E. so häufig – im OLG Schleswig, Beschl. v. 17.08.2021– II OLG 26/21 – anders. Hier nur die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Die Tatsache, dass bei einem bisher als „standardisiertes Messverfahren“ der Geschwindigkeit anerkanntem Messverfahren ein besonderer Messaufbau unzutreffende Messergebnisse liefert, spricht nicht gegen die Annahme eines sogenannten standardisierten Messverfahrens, wenn bei gleichem Versuchsaufbau stets gleiche Messergebnisse erzielt werden.
  2. Bei dem Messverfahren mit dem Gerät Leivtec XV3 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren auch unter Berücksichtigung des Abschlussberichts der Überprüfungen durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt vom 9. Juni 2021.

M.E. falsch. Aber natürlich – den Mut hat man nicht:

„Der Senat sieht sich nicht gehalten, die Sache dem Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 GVG vorzulegen, da der Senat nicht von der zitierten einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Definition eines standardisierten Messverfahrens und zu den Anforderungen an die Feststellungen des Tatrichters abweicht.“

Das ist die Lieblingsbegründung, vornehmlich des OLG Bamberg, um eine Vorlage an den BGH zum umgehen. Ich sage doch: „Bayern des Nordens.