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Muss man als Verteidiger 76 Bände Akten am Bildschirm lesen?

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„Muss man als Verteidiger 76 Bände Akten am Bildschrim lesen?“ das ist die Frage, die dem LG Duisburg, Beschl. v. 29.04.2014 – 34 KLs-143 Js 193/10-15/13 – zugrunde liegt und die das LG – m.E. zutreffend – mit nein beantwortet hat. Und das gilt nach Auffassung des LG auch dann, wenn Akteneinsicht durch Übersenden der Akte auf einem Datenträger gewährt worden ist. Der Verteidiger hatte trotzdem die Akte ausgedruckt und machte nun gegen die Staatskasse nach Freispruch des Mandanten u.a. 2.307,25 € Kopiekosten geltend. Der Festsetzung dieser Kosten ist der Bezirksrevisor mit der Begründung entgegen getreten, dass durch eine Übersendung eines Datenträgers genügend Akteneinsicht gewährt worden wäre. Es könne nicht zu Lasten der Staatskasse gehen, wenn Schriftstücke vom Datenträger ausgedruckt werden und hierfür eine Dokumentenpauschale beansprucht wird. Zudem hätten die Kopiekosten durch Ausdruck von 2 Seiten auf jeweils einem Blatt um die Hälfte reduziert werden können.

Das LG/der Rechtspfleger folgt der Argumentation nicht:

Der Auffassung der Staatskasse wird nicht gefolgt. Das Lesen von 76 Bänden Aktenmaterials am Bildschirm ist nicht zumutbar, ebenso wie die Verkleinerung der einzelnen Seiten auf jeweils die Hälfte. Die hierzu zitierte Entscheidung des OLG Celle ( 28.11.2011, 1 Ws 415/11) trifft hier nicht exakt zu, da diese Entscheidung lediglich den Ausdruck von Übersetzungen überwacher Telefonate behandelt. Die Tatsache dass keine Mehrfachakten für die Verteidiger hergestellt wurden, sondern elektronische Datenträger, hat der Justiz im Vorfeld erhebliche Kosten erspart.“

M.E. zutreffend. Denn selbst der Grundsatz der kostensparenden Prozessführung  bzw. die Frage der Notwendigkeit i.S. des § 46 RVG führt nicht dazu, dass der Verteidiger in solchen Fällen, gezwungen wäre, die Akten am Bildschirm zu lesen. Die Grenze liegt da, wo das Verteidigerverhalten missbräuchlich wird. Und das ist nicht der Fall. Wer nicht am Bildschirm lesen kann/will, muss sich m.E. dazu nicht von der Justiz durch digitale Akten, deren Zuverfügungstellung letztlich dem Interesse an Kostenersparnis in der Justiz dient, zwingen lassen. Das hat das LG hier m.E. richtig gesehen. Und richtig ist ebenfalls, wenn das LG auch hinsichtlich der Frage: Zusammenfassen von zwei Blatt Akten auf einer Kopie?, zugunsten des Verteidigers entschieden hat.Wer hat schon Lust, die Akte in Kleinschrift lesen zu müssen? Das tun und müssen die Gerichte nicht, so dass es ein Gebot der Fairness ist, das vom Verteidiger auch nicht zu verlangen.

Ich schaue in die Glaskugel und wage danach dann die Behauptung: Die Sache/das Verfahren wird uns sicherlich nochmals beschäftigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Staatskasse die Entscheidung des Urkundsbeamten hinnimmt. Bezirksrevisoren fechten in meinen Augen grundsätzlich alles an. Sicherlich aber Entscheidungen, die der Staatskasse rund 2.300 € für Kopien auferlegen.

Offener Brief an das LG Münster: So nicht!

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Dann schreibe ich heute doch mal einen offenen Brief an das LG Münster, und zwar an dessen 7. Wirtschaftsstrafkammer. Hintergrund ist deren LG Münster, Beschl. v. 21. 6. 2013 – 7 Qs 14/13, den mir ein Kollege vor ein paar Tage übersandt hat. Also:

Liebe 7. Wirtschaftsstrafkammer des LG Münster,

der Kollege, der beim AG Tecklenburg im Verfahren 10 Ds 216/11 -Wh. als Zeugenbeistand beigeordnet war, hat mir den vom LG erlassenen Beschluss, mit dem die Kammer über seine Kosten und Auslagen entschieden hat, übersandt. Auf den Beschluss kann ich nur den Satz anwenden, den Rainer Barzel als Oppositionsführer Ende der 60-ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Diskussion über die „Ostverträge“ im Bundestag gesprochen hat: So nicht.

Der Kollege war einer Zeugin durch Beschluss des AG gem. § 68b StPO für die Dauer deren Vernehmung als Zeugenbeistand beigeordnet. Nach Abschluss des Verfahrens beantragt er die Festsetzung seiner Gebühren und Auslagen. Er geht von einer Abrechnung nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG aus. Außerdem ist die Erstattung von von ihm aus der Akten gefertigter Kopien beantragt worden. Das AG hat Gebühren nach Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG festgesetzt. Die Kopien sind dem Kollegen nicht erstattet worden. Und, was mich erstaunt: Das Rechtsmittel des Kollegen hatte insgesamt (!!!) keinen Erfolg.

Nun, ich kann noch damit leben, dass die Kammer die Tätigkeit des Zeugenbeistandes nur als Einzeltätigkeit mit einer Verfahrensgebühr Nr. 4301 Nr. 4 VV RVG honoriert, schließt sie sich damit doch der insoweit unzutreffenden, allerdings wohl überwiegenden, Auffassung in der Rechtsprechung an. Dazu ist inzwischen viel geschrieben worden, was ich hier nicht alles wiederholen möchte, außer: Solche Formulierungen, wie sie der Beschluss der Kammer enthält: „Dass dabei die gesetzliche Vergütung im Einzelfall nicht auskömmlich sein mag, ist hinzunehmen.“ braucht der Rechtsanwalt nicht. Die sind im Grunde ein Schlag ins Gesicht.

 Völlig daneben liegt m.E. die Entscheidung der Kammer, soweit sie die Erstattung der vom Zeugenbeistand gefertigten Ablichtungen nach Nr. 7000 Abs. 1 VV RVG verweigert. Das ergibt sich im Grunde schon aus den Beschlussgründen selbst, in denen die Kammer ausführt: „Die Kammer verkennt bei all dem nicht, dass hier die Gewährung von Akteneinsicht zur Vorbereitung der Zeugenvernehmung zweckmäßig gewesen sein mag. Insbesondere mag vorliegend der Grund für den Ausschluss des Akteneinsichtsrechts, nämlich den Schutz des Beweiswertes der Zeugenaussage (BGH, Beschluss vom 4. März 2013, Az.: StB 46/09 — juris Rn. 8), nicht durchgegriffen haben. Vielmehr spricht umgekehrt vieles dafür, dass die Begleitung der Zeugenaussage durch den Beschwerdeführer in Kenntnis des Akteninhalts eine geordnete Aussage der Zeugin aufgrund deren intellektuellen Konstitution überhaupt erst ermöglicht, jedenfalls aber dem erkennenden Gericht die Vernehmung erheblich erleichtert hat. All dies ändert aber nichts daran, dass es für die Entscheidung, dem Zeugenbeistand als solchem die beantragte Akteneinsicht zu gewähren, keine Rechtsgrundlage gab. Für Zweckmäßigkeitserwägungen bleibt dann aber (s.o.) kein Raum.“ Das ist m.E. falsch. Denn für die Frage der Erstattung der Kosten für die Kopien kommt es nach Nr. 7000 Abs. 1 VV RVG bzw. nach § 46 RVG darauf an, ob der Zeugenbeistand „sie zur sachgemäßen Durchführung der Angelegenheit für erforderlich halten durfte“. Das waren sie aber, wie die Kammer selbst attestiert. Warum sie dann nicht ersetzt werden, bleibt das Geheimnis der Kammer. Dass dem Zeugenbeistand ggf. kein Akteneinsichtsrecht zusteht bzw. ihm dieses von der Rechtsprechung nicht gewährt wird – darüber kann man trefflich streiten – und dass die Kammer ihm Akteneinsicht offenbar auch nicht gewährt hätte, kann nicht Grundlage für die Erstattung von nach gewährter Akteneinsicht gefertigter Kopien sein. Hat der Zeugenbeistand Akteneinsicht erhalten, dann ist Folge davon, dass er auch Kopien aus der Akten anfertigen darf. Im Übrigen: Wie soll der Zeugenbeistand eine ordnungsgemäße Beistandsleistung sicher stellen, wenn er sich nicht ggf. Kopien aus den Akten anfertigen darf? Soll er den Inhalt der Akten auswendig lernen? Und: Das LG speist den Zeugenbeistand hier mit einer  Verfahrensgebühr Nr. 4301 VV RVG in Höhe von 168 € ab. Darin sind dann auch noch die Kopien enthalten, die der Zeugenbeistand sich gefertigt hat? Dass das nicht richtig sein kann, liegt m.E. auf der Hand.

Also: So nicht.

 

Kopieren der ganzen Akte erlaubt

Allmählich setzt sich die m.E. zutreffende Ansicht in der Rechtsprechung, die davon ausgeht, dass in Strafverfahren der Verteidiger grundsätzlich berechtigt ist, die ganze Akte zu kopieren, durch. So jetzt auch der AG Essen, Beschl. v. 21.11.2011 – 50 Ls-6 Js 778/09-119/11.

Nach Nr. 7000 1.a VV RVG ist die Pauschale für Ablichtungen aus Gerichtsakten zu gewähren, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten war. Vielfach wird die Auffassung vertreten, der Rechtsanwalt müsse vor der Ablichtung ihm zur Einsicht überlassener Akten hinsichtlich jeder einzelnen Seite prüfen, ob die Ablichtung erforderlich sei oder nicht. Im Einzelnen hat sich hierzu eine umfangreiche Rechtsdogmatik entwickelt. So seien Ablichtungen der behörden- und gerichtsintemen Verfügungen, der eigenen Schriftsäfte, der bereits übersandten Entscheidungen, der Aktendeckel usw. nicht zu erstatten. Im Einzelnen ist vieles streitig (mit weiteren Nachweisen: Landgericht Essen, Beschluss vom 9.6.2011 – 56 Qs 28/11).

 Das Gericht schließt sich der im zuletzt genannten Beschluss des Landgerichts Essen vertretenen Rechtsauffassung an. Zu Gunsten einer einfachen und ressourcen- schonenden Rechtsanwendung ist auf kleinteilige Differenzierungen nach verschiedenen Aktenbestandteilen zu verzichten. Denn jeder Aktenbestand hat einen Informationswert und sei es nur, dass sich das betreffende Schriftstück bei den Akten befindet. Welche Bedeutung ein Aktenbestand für die sachgemäße Bearbeitung der Rechtssache tatsächlich hat, erweist sich jedoch regelmäßig erst im Nachhinein. Schon um Haftungsrisiken zu vermeiden, wird der Verteidiger ex-ante einen weiten Maßstab anlegen müssen. Daher begegnet es mit Blick auf die Erstattung von Auslagen grundsätzlich keine Bedenken, wenn ein Verteidiger die Akten einer Kanzleikraft übergibt und vollständig (einschließlich Beiakten, der Aktendeckel und lose einliegender Blätter) ablichten lässt, wie es in der Regel auch allein praktikabel sein dürfte. Eine Ausnahme mag etwa dann gelten, wenn in größeren Verfahren eine Vielzahl von Beiakten übersandt wird. Hier erscheint es zumutbar, dass der Verteidiger vor dem Kopieren jeweils die Verfahrensrelevanz einzelner Aktenbände prüft. Für eine solche Sichtweise spricht auch der dem RVG innewohne Grundsatz der Effizienz. Der Gesetzgeber hat für Nr. 7000 VV RVG eine pauschale und damit verein- fachte Berechnung der Höhe der Ablichtungskosten als sinnvoll erachtet, indem er einen Festbetrag je Ablichtung bestimmt hat. Dieser Grundsatz der Effizienz ist auch bei der Auslegung des Auslagentatbestands zu berücksichtigen. Das kleinteilige nachträgliche Prüfen von Ablichtungen im Kostenfestsetzungsverfahren verbraucht letztlich mehr staatliche Ressourcen als eine großzügige Erstattungspraxis dieser fast immer untergeordneten Auslageposition.“

Dem ist m.E. nichts hinzuzufügen.

Lesenswert!! Welcher Maßstab bei der Erforderlichkeit von Kopien?

Hinweisen möchte ich heute auf eine m.E. sehr schöne Entscheidung des AG Bremen (Beschl. v. 06.01.2011 – 82 Ls 230 Js 8347/10 (8/10), die lesenswert für jeden Verteidiger ist. Sie setzt sich grundsätzlich mit der Frage auseinander, welcher Maßstab bei der (nachträglichen) Beurteilung der Erforderlichkeit von vom Verteidiger gefertigter Kopien anzulegen ist – in manchen AG-Bezirken ein „Dauerkampfplatz“.

Darüber hinaus setzt sich der Amtrichter mit dem Umstand auseinander, dass der Verteidiger die gesamte Akte kopiert hatte, was vom AG nicht beanstandet wird, und er gibt auch hinsichtlich einzelner Punkte, die in der Praxis immer wieder eine Rolle spielen, Argumentationshilfen. Das sind vor allem die Fragen der Notwendigkeit von Kopien des Aktendeckels, von Verfügungen des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der Polizei, von Kopien von Zustellungsurkunden, Schreiben des Verteidigers, bereits übersandter Schriftstücke und von Kopien von Auszügen aus dem BZR.

Wie schon geschrieben: Lesenswert.

Im Auslieferungsverfahren gibt es die ganze Akte….

Immer wieder Kampf um den erforderlichen Umfang der Kopien, also die Frage: Ganze Akte: Ja oder nein, und wenn nein: Welche Teile nicht. Im Auslieferungsverfahren kann man sich jetzt zur Begründung der Zulässikeit des Kopieren der gesamten Akten auf den Beschl. des OLG Nürnberg v. 20.06.2010 – 1 Ws 324/10 berufen. Das OLG Nürnberg hat darin dem Beistand des Verfolgten zugebilligt, die gesamten Auslieferungsverfahrens kopieren zu dürfen und das mit den Besonderheiten des Auslieferungsverfahrens, in dem aufgrund der Abläufe manche Unterlagen doppelt vorhanden seien, begründet. Zudem müsse es im Auslieferungsverfahren schnell gehen.