Als zweite Entscheidung des Tages dann der BGH, Beschl. v. 02.08.2017 – 4 StR 169/17 – zur Frage der Garantenstellung eines Kindes gegenüber einem Elternteil. Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen (§§ 212, 23, 13 StGB) verurteilt. Grundlage ist in etwa folgender Sachverhalt: Der Angeklagte ist der gemeinsame Sohn des freigesprochenen Vaters und dessen Ehefrau, der Mutter des Angeklagten. Der Angeklagte hatte eine eigene Wohnung im selben Mehrfamilienhaus wie seine Eltern. Seine Mutter litt nach einem operativen Eingriff seit 1988 immer wieder unter erheblichen Bauchbeschwerden. Entsprechend einer Übereinkunft der Eheleute übernahm allein der Vater die Pflege seiner Ehefrau. Der Angeklagte war in die Pflege nicht eingebunden. Die Mutter war ab Anfang Oktober 2015 bettlägerig und nicht mehr zur selbstständigen Nahrungsaufnahme, zur eigenständigen Körperpflege und zu Toilettengängen in der Lage. Einige Tage vor ihren Tod erlitt die Mutter infolge ihrer Bettlägerigkeit und ihres geschwächten Gesamtzustandes eine bakterielle Lungenentzündung, die unbehandelt blieb. Die Lebensbedrohlichkeit des Zustandes der Mutter in den letzten vier Wochen vor ihrem Tod war grundsätzlich auch für einen medizinischen Laien sicher erkennbar. Zuletzt besuchte der Angeklagte seine Mutter am Vorabend ihres Todes. Zu diesem Zeitpunkt lag sie bereits in ihren eigenen Fäkalien. Der hiervon ausgehende Geruch wurde von dem Angeklagten wahrgenommen. Spätestens jetzt erkannte er den lebensbedrohlichen Zustand und die Hilfsbedürftigkeit seiner Mutter. Dennoch unterließ er es, die gebotene ärztliche Hilfe herbeizuholen. Hierbei war ihm bewusst, dass seine Mutter versterben könnte. Er nahm diese von ihm nicht erwünschte Folge billigend in Kauf. Im Laufe des 30. 10.2015 verstarb die Mutter an den Folgen ihrer Lungenentzündung, wobei nicht feststellbar war, ob durch ärztliche Maßnahmen am Vortag eine Rettung noch möglich gewesen wäre.
Die Revision des Angeklagten war erfolgreich. Der BGH ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte in objektiver Hinsicht gegenüber seiner Mutter i.S. des § 13 Abs. 1 StGB garantenpflichtig war und deshalb am Vortag ihres Todes verpflichtet gewesen sei, geeignete Maßnahmen zur Abwendung der bestehenden Lebensgefahr einzuleiten. Nach § 1618a BGB seien Eltern und Kinder einander Beistand und Rücksicht schuldig. Im Rahmen des als Wertemaßstab heranzuziehenden § 1618a BGB sei der Gehalt der geschuldeten familiären Solidarität indes nicht einheitlich, sondern anhand der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Der Angeklagte sei danach spätestens am Vorabend des Todes seiner Mutter verpflichtet gewesen, geeignete Maßnahmen zur Abwendung der bei ihr eingetretenen Lebensgefahr einzuleiten. Die aus der klaren Rollenverteilung folgende vordringliche Verantwortlichkeit des Vaters für die Betreuung der Mutter führe nicht zu einer gänzlichen Befreiung des Angeklagten von seinen Schutzpflichten. Vielmehr habe ihn aufgrund des dargelegten und fortbestehenden Näheverhältnisses zu seinen Eltern eine uneingeschränkte Erfolgsabwendungspflicht getroffen, als der vater aufgrund seiner demenziellen Erkrankung nicht mehr in der Lage gewesen war, auf den lebensbedrohlichen Zustand seiner Ehefrau angemessen zu reagieren und somit als (vorrangiger) Garant ausfiel.
Der BGH hat dann aber dennoch die Verurteilung aufgehoben. Er moniert die Feststellungen zur subjektiven Tatseite, insbesondere zum Erkennen der Lebensgefahr.
Und für die neue Hauptverhandlung gibt es dann noch einen Hinweis:
EDas neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, das angeklagte Geschehen auch im Hinblick auf die Grundsätze zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 24. November 2016 – 4 StR 289/16, NStZ 2017, 219 ff.; Urteil vom 28. Januar 2014 – 1 StR 494/13, BGHSt 59, 150 ff.; Beschluss vom 5. August 2015 – 1 StR 328/15, BGHSt 61, 21 ff.) zu würdigen, und zwar sowohl bezüglich der objektiven als auch bezüglich der subjektiven Tatseite.“