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StPO II: Neues Beweismittel für die Wiederaufnahme?, oder: Zeuge kann nur per Video vernommen werden

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.09.2024 – 1 Ws 274/23 – geht es noch einmal um die Wiederaufnahme (§§ 359 ff. StPO). Dazu hatte ich ja neulich schon ein paar Entscheidungen vorgestellt.

In dem OLG-Beschluss hat das OLG zur Eignung eines neuen Beweismittels im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO Stellung genommen. Gestritten wird um die Eignung eines als Zeuge benannten früheren Mitangeklagten als neues Beweismittel, wenn der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht unmittelbar, sondern lediglich per Videokonferenz vernommen werden kann. Das OLG hat die Eignung im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO verneint, wenn die frühere, nunmehr teilweise widerrufene Einlassung durch gewichtige Indizien gestützt werden. Dazu das OLG:

„3. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages setzt auch voraus, dass das Beweismittel geeignet ist, die Freisprechung oder die geringere Bestrafung des Beschwerdeführers herbeizuführen. Zu diesem Zweck hat sich die Prüfung nicht allein auf die Schlüssigkeit des Antragsvorbringens zu beschränken. Es ist vielmehr auch eine gewisse Wertung der Beweiskraft der angebotenen Beweismittel vorzunehmen (vgl. BGH, NJW 1977, 59 = JR 1977, 217; OLG Braunschweig, NStE Nr. 5 zu § 359 StPO = NStZ 1987, 377 (378); OLG Nürnberg, MDR 1964, 171; OLG Köln, NJW 1963, 967; KG, JR 1975, 166; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 368 Rdnr. 22; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 368 Rn. 5). Denn um festzustellen, ob neue Beweismittel geeignet sind, eines der in § 359 Nr. 5 StPO genannten Ziele zu erreichen, ist zu prüfen, ob die Schuldfrage vom Standpunkt des erkennenden Gerichts anders entschieden worden wäre, wenn die neuen Beweismittel dem Gericht bekannt gewesen wären (vgl. Kleinknecht-Meyer, § 368 Rdnr. 9). Dabei sind sie zu dem gesamten Inhalt der Akten und den früheren Beweisergebnissen in Beziehung zu setzen (vgl. OLG Braunschweig, NStZ 1987, 377; KG, JR 1975, 166; Kleinknecht-Meyer, § 368 Rdnr. 9). Ist das Beweismittel ein Zeuge, so ist zu unterstellen, dass er so aussagen werde, wie es der Beschwerdeführer behauptet, nicht aber auch, dass die Tatsachen zutreffen, die der Zeuge bekunden soll (vgl. OLG Karlsruhe, OLGSt § 368 OLGSt S. 2; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, § 368 Rdnr. 22; KK-StPO/Tiemann StPO § 368 Rn. 9; Paulus, in: KMR, StPO, § 368 Rdnr. 10). Gleiches ist anzunehmen, wenn das Geständnis eines Mitverurteilten nachträglich (teilweise) widerrufen wird. Der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO zielt auf eine Erschütterung des den Urteilsfeststellungen zugrundeliegenden Beweisgebäudes in seiner Gesamtheit, weshalb eine Gesamtbetrachtung der Beweislage daher unabdingbar ist; der Normwortlaut legt die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise nahe („in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen“) (MüKoStPO/Engländer/Zimmermann StPO § 368 Rn. 31).

Das Landgericht Kaiserslautern hat sich in dem Beschluss vom 30.10.2023 ausführlich mit der Vereinbarkeit des geänderten Aussageverhaltens des Mitverurteilten C. mit der im Übrigen aus dem Urteil des Landgerichts Koblenz und dem sonstigen Akteninhalt zu entnehmenden Beweislage auseinandergesetzt. Das Landgericht führt dazu wie folgt aus:

„Die insoweit getroffenen Feststellungen (im Einzelnen s. S. 50 ff. d. Urteils) begründen sich dabei nicht ausschließlich auf der geständigen Einlassung des damaligen Mitangeklagten C. Es ist der Verteidigung zwar zuzustimmen, dass die Feststellungen des Landgerichts Koblenz, soweit es die Abrede zwischen dem Antragsteller und seinem ehemaligen Mitangeklagten C. betrifft, unter anderem auf dessen geständiger Einlassung beruhen. Diese Einlassung wird jedoch durch zahlreiche Indizien gestützt, die mit der geänderten Aussage des ehemaligen Mitangeklagten C. gerade nicht in Einklang zu bringen wären. Diese Indizien bestätigen nicht nur die Feststellungen zu einer Scheinrechnungsabrede bereits ab Mai 2014 und den Umstand, dass den Rechnungen keine Leistungen zugrunde lagen, sondern auch den Umstand, dass der Antragsteller an seine Arbeitnehmer (Teil-)Schwarzlöhne auszahlte und in der Folge keine Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeträge zur Sozialversicherung leistete und sowohl die Lohn- als auch Umsatzsteuern hinterzog. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass allein das geänderte Aussageverhalten des ehemaligen Mitangeklagten C. zu Feststellungen des erkennenden Gerichts geführt hätte, die den beabsichtigten Teilfreispruch zur Folge hätten.

Dies ergibt sich aus Folgendem:….“

Die weiteren Einzelheiten zum konkreten Fall dann bitte selbst lesen.

Eignung zur Fahrgastbeförderurung, oder: Steht dem Steuerhinterziehung/Insolvenzdelikt entgegen?

entnommen wikimedia.org
Urheber: Dirk

Und heute im „Kessel Buntes“ dann zweimal VGH Bayern.

Den Auftakt mache ich mit dem VGH Bayern, Beschl. v. 23.04.2020 – 11 CE 20.870 – zur Frage der einstweiligen Verlängerung einer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung.

Der Antragsteller beantragte am 07.01.2020 bei der Antragsgegnerin die Verlängerung seiner – inzwischen während des Verfahrens – am 21.04.2020 abgelaufenen Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung.

Am 18.01.2020 wurde der Antragsgegnerin bekannt, dass das AG München den Antragsteller mit rechtskräftigem Urteil vom 24.01.2018 wegen Steuerhinterziehung in sechs mehrheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit zwei weiteren Fällen der Steuerhinterziehung sowie mit vorsätzlicher Insolvenzverschleppung, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung verurteilt hatte. Unter Bezugnahme auf diese Verurteilung ordnete sie mit Schreiben vom 03.03.2020 die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle innerhalb von drei Monaten zu der Frage an, ob der Antragsteller die Voraussetzungen der besonderen Verantwortung für die Fahrgastbeförderung erfülle.  Am 05.03.2020 erklärte sich der Antragsteller mit der Begutachtung einverstanden und vereinbarte mit der ausgewählten Begutachtungsstelle einen Termin für den 02.04. 2020. Mit Schreiben vom 18.03.2020 teilte ihm diese mit, der Untersuchungsbetrieb werde zum Schutz vor einer Ausbreitung des Coronavirus bis zum 19.04.2020 ausgesetzt. Eine Begutachtung könne deshalb erst am 24.04.2020 stattfinden.

Daraufhin ließ der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten bei der Antragsgegnerin  beantragen, die Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung vorläufig für ein halbes Jahr zu verlängern. Dies lehnte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 15.04.2020 unter Hinweis auf die aktuelle Weisungslage ab. Am 17.04.2020 beantragte der Antragsteller beim VG München gemäß § 123 VwGO, die Antragsgegnerin zu verpflichten, seine Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung über den 21.04.2020 hinaus vorläufig bis 21.06.2020 zu verlängern.

Das lehnt das VG ab. Dagegen richtete sich dann die Beschwerde an den VGH, die dort keinen Erfolg hatte.

„…. Hieran gemessen hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit schon vor Beibringung eines positiven Fahreignungsgutachtens bzw. einstweilen einen Anspruch auf eine Verlängerung der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung hat.

Offen bleiben kann, ob die am 21. April 2020 abgelaufene und damit erloschene Erlaubnis aufgrund des rechtzeitig gestellten Antrags noch verlängert oder nur neu erteilt werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 1.2.2011 – 11 BV 10.226 – juris Rn. 29 ff.: eine Verlängerung bejahend bei vollständigem Antrag; BVerwG, U.v. 17.5.1995 – 11 C 2.94BVerwGE 98, 221 = juris Rn. 10 offen gelassen; Dauer in Hentschel/König/ Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 48 FeV Rn. 31). Denn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO ggf. auch im Sinne einer einstweiligen Erteilung einer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung ausgelegt werden (vgl. Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 123 Rn. 104 f.), da das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers ersichtlich dahin geht, bis zum Vorliegen eines medizinisch-psychologischen Gutachtens und der Entscheidungsreife seines Antrags weiterhin Fahrgäste befördern zu dürfen. Weiter ist bei der Prüfung eines Verlängerungs- oder Erteilungsanspruchs nach Aktenlage allein streitig, ob der Antragsteller die Gewähr dafür bietet, dass er der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen gerecht wird. Dies setzen sowohl § 48 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 als auch § 48 Abs. 4 Nr. 2a und § 11 Abs. 1 Satz 4 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2019 (BGBl I S. 1416), in Kraft getreten am 1. Januar 2020, voraus, was sowohl vom Erlaubnisinhaber als auch vom Bewerber um eine Erlaubnis durch ein Führungszeugnis nach § 30 Abs. 5 Satz 1 BZRG und eine aktuelle Auskunft aus dem Fahreignungsregister nachzuweisen ist (§ 11 Abs. 1 Satz 5, § 48 Abs. 4 Nr. 2a, § 48 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 FeV).

Bei der Beantwortung dieser Frage sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung der relevanten Sachverhalte alle für die Beurteilung der Eignung des Bewerbers maßgeblichen Sachverhaltsumstände in einer umfassenden Würdigung einzustellen und sowohl die zu Gunsten als auch zu Lasten des Fahrerlaubnisbewerbers sprechenden Umstände zu berücksichtigen. Dies gilt auch, wenn – wie hier – strafrechtliche Verurteilungen Anlass zum behördlichen Tätigwerden liefern (Trésoret in jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 6.1.2020, § 48 FeV Rn. 172 ff.; Dauer, a.a.O. § 48 FeV Rn. 26 m.w.N.). Weist die rechtskräftige Verurteilung keinen unmittelbaren Bezug zur Personenbeförderung auf, ist zur ordnungsgemäßen Tatsachenermittlung und einer den rechtlichen Anforderungen entsprechenden Vorbereitung einer Entscheidung die Beiziehung der Straf- oder Ermittlungsakte, jedenfalls aber der konkreten strafgerichtlichen Entscheidung erforderlich (Trésoret, a.a.O. Rn. 175).

Zu dem erforderlichen Nachweis war der Antragsteller bisher nicht in der Lage. Nach Aktenlage, insbesondere dem in der Gutachtensanordnung wiedergegebenen Sachverhalt, der der strafgerichtlichen Verurteilung vom 24. Januar 2018 zugrunde lag, hat er über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg mehrere Straftaten begangen, die zu einem erheblichen Schaden zum Nachteil des Fiskus und der Gläubiger seiner insolventen Unternehmen geführt haben. Maßgeblich ist insoweit nicht, ob eine Wiederholung dieser Vermögensdelikte aufgrund der gegenwärtigen Erwerbstätigkeit im Angestelltenverhältnis nicht mehr wahrscheinlich ist, sondern ob diese Delikte Charaktereigenschaften erkennen lassen, die sich im Falle der Personenbeförderung zum Schaden der Fahrgäste auswirken können (vgl. Dauer, a.a.O. § 48 Rn. 26 m.w.N.; BVerwG, B.v. 19.3.1986 – 7 B 19.86 – juris Rn. 3). Dies hat der Senat hinsichtlich der Insolvenzverschleppung bejaht, weil sich die zu fordernde notwendige Charakterfestigkeit auch auf die Respektierung von Eigentum und Vermögen der beförderten Fahrgäste bezieht (vgl. BayVGH, B.v. 6.5.2013 – 11 CE 13.765 – juris Rn. 10; Trésoret, a.a.O. § 48 FeV Rn. 190 ff.), und kann hinsichtlich der zu Lasten der Allgemeinheit begangenen Steuerhinterziehungen in dem konkreten Ausmaß nicht verneint werden. Denn auch letztere deuten auf eine Neigung hin, sich zu Bereicherungszwecken über die Vermögensinteressen anderer generell hinwegzusetzen.

Vor diesem Hintergrund sind – selbst wenn man berücksichtigt, dass die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist, der Antragsteller ansonsten nicht straffällig geworden ist und die Bewährungszeit noch nicht abgelaufen ist – jedenfalls Zweifel an der Gewähr der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen gerechtfertigt, die einem Verlängerungs- oder Erteilungsanspruch entgegenstehen und die Antragsgegnerin gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 FeV (bzw. bei Fahrerlaubnisinhabern gemäß § 48 Abs. 9 Satz 1 und 3 FeV) zur Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, d.h. zur Aufklärung berechtigen. Von der Anordnung der Beibringung eines solchen Gutachtens ist gemäß § 11 Abs. 7 FeV nur abzusehen, wenn zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde mit hinreichender Gewissheit feststeht, dass der Betreffende diese Gewähr nicht bietet (Dauer, a.a.O. § 48 Rn. 27), was hier offensichtlich nicht der Fall ist. Nachdem keine besonderen Umstände dafür sprachen, trotz der bestehenden Zweifel an der Gewähr der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen von weiteren Aufklärungsmaßnahmen abzusehen, ist ferner nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin das ihr zustehende Entschließungsermessen in der Gutachtensanordnung vom 8. März 2020 mit diesen Zweifeln begründet hat (vgl. VGH BW, B.v. 8.3.2013 – 10 S 54/13NJW 2013, 1896 = juris Rn. 5 f.; Trésoret, a.a.O. § 48 Rn. 281).

Da die Nichtfeststellbarkeit der Eignung zu Lasten des Fahrerlaubnisbewerbers geht (vgl. Dauer, a.a.O. § 2 StVG Rn. 41; Petersen, ZfSch 2002, 56/57 jeweils zur allgemeinen Fahreignung), was auch für eine Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung gilt (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 5 StVG), kann das fehlende Verschulden des Antragstellers daran, dass das medizinisch-psychologische Gutachten bei Ablauf seiner Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung am 21. April 2020 noch nicht vorlag, und seine berufliche Angewiesenheit auf diese Erlaubnis nicht den Ausschlag für eine Entscheidung zu seinen Gunsten geben.

Ihm entstehen auch keine unzumutbaren, irreparablen Nachteile, wenn er vorübergehend bis zu dem in absehbarer Zeit zu erwartenden Begutachtungsergebnis seiner Erwerbstätigkeit nicht nachgehen kann. Der Begutachtungstermin findet demnächst statt. Es ist dem Antragsteller zumutbar, diese Zeit ggf. durch bezahlten oder unbezahlten Urlaub zu überbrücken, zumal offen und nicht überwiegend wahrscheinlich ist, ob bzw. dass das Gutachten zu seinen Gunsten ausfällt und ihm danach eine Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung erteilt werden kann. Es ist daher auch offen, ob er auf der Grundlage der bisherigen Berufstätigkeit überhaupt weiterhin seinen Unterhaltspflichten genügen kann.2

„Ihm entstehen auch keine unzumutbaren, irreparablen Nachteile, wenn er vorübergehend bis zu dem in absehbarer Zeit zu erwartenden Begutachtungsergebnis seiner Erwerbstätigkeit nicht nachgehen kann“? Na ja.“