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BVerfG II: Dreitagefrist für Aktenvorlage in Haftsachen, oder: Verzögerung nicht so schlimm, kann ja passieren

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Die zweite Entscheidung des BVerfG kommt aus dem Bereich des Haftrechts. Das BVerfG hat im BVerfG, Beschl. v. 23.01.2023 – 2 BvR 1343/22 – zu der Frage Stellung genommen, welche Auswirkungen die Verzögerung eines Haftbeschwerdeverfahrens hat. Hier war es (mal wieder) die häufig anzutreffende Überschreitung der Dreitagesfrist des § 306 Abs 2 Halbs 2 StPO, also Vorlage an das Beschwerdegericht.

Das BVerfG meint: Alles nicht so schlimm, kann ja mal passieren, vor allem, wenn die Verzögerung „nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet“ ist. Also: selbst Schuld:

„Soweit der Beschwerdeführer sich gegen den im Haftbeschwerdeverfahren ergangenen Beschluss des Kammergerichts vom 5. Juli 2022 wendet, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.

1. Zwar hat das Kammergericht zutreffend einen Verstoß des Landgerichts gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO angenommen. Erachtet das Gericht oder der Vorsitzende, dessen Entscheidung angefochten wird, eine Beschwerde für begründet, so haben sie ihr abzuhelfen. Andernfalls ist die Beschwerde nach § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen, dem Beschwerdegericht vorzulegen. Dies ist vorliegend nicht geschehen.

2. Allerdings führt nicht jeder Verstoß gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO in einem Haftbeschwerdeverfahren schon für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft (vgl. KG, Beschluss vom 27. Oktober 2014 – 2 Ws 360/14 -, NStZ-RR 2015, S. 18; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 12. Juni 2019 – 18 Qs 20/19 -, BeckRS 2019, S. 41863, Rn. 16; OLG Naumburg, Beschluss vom 8. August 2000 – 1 Ws 359/00 -, juris, Rn. 6; KG, Beschluss vom 15. März 2019 – 4 Ws 24/19121 AR 47/19 -, BeckRS 2019, S. 4693, Rn. 39). Die Ausführungen des Kammergerichts lassen hinreichend erkennen, dass ihm bei Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bewusst waren und es diese in seine Abwägung miteinbezogen hat. Es hat ausgeführt, die verspätete Vorlage von rund einem Monat sei offensichtlich versehentlich erfolgt und nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet. Ein sachlicher Grund für die verzögerte Bearbeitung sei genauso wenig ersichtlich wie „strukturelle Defizite auf Seiten des Gerichts“. Da die Weiterleitung vom Gericht über die Staatsanwaltschaft an die Generalstaatsanwaltschaft am Tag der verspäteten Nichtabhilfeentscheidung und der entsprechenden Vorlageverfügung erfolgt sei, sei der festgestellte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot „bei einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände“ noch nicht geeignet, den Bestand des Haftbefehls in Frage zu stellen. Dagegen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern, zumal die Nichtabhilfeentscheidung ihrerseits unverzüglich nach Feststellung des Versäumnisses getroffen worden ist und die Kammervorsitzende in ihrer Vorlageverfügung mit der Bitte „um schnellstmögliche Weiterleitung“ auf das Beschleunigungsbedürfnis besonders hingewiesen hat.

3. In Anbetracht der Verfahrensabläufe hat sich die eingetretene Verzögerung des Rechtsschutzes auf die Fortdauer der Untersuchungshaft zudem nicht entscheidend ausgewirkt. Die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers hat sich aufgrund der verzögerten Aktenvorlage im Haftbeschwerdeverfahren im Ergebnis nicht verlängert. Es kann ausgeschlossen werden, dass das Kammergericht, wäre es früher mit der Sache befasst worden, eine dem Beschwerdeführer hinsichtlich der Fortdauer der Untersuchungshaft günstigere Entscheidung getroffen hätte. Eine auf der verspäteten Vorlage beruhende Verfahrensverzögerung im – parallel zum Haftbeschwerdeverfahren durchgeführten – Revisionsverfahren ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

4. Im Übrigen ist auch für das besondere Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine verspätete Aktenvorlage an das Oberlandesgericht unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 – 3 StR 181/21 -, Rn. 39; OLG Hamm, Beschluss vom 21. August 2007 – 3 OBL 86/07 <42> <3 Ws 486/07> -, NJW 2007, S. 3220 <3221>; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 121 Rn. 41). Das Bundesverfassungsgericht hat diese fachgerichtliche Rechtsauffassung unbeanstandet gelassen (vgl. BVerfGE 42, 1 <9 f.>). Es ist nicht ersichtlich, weshalb für die Überschreitung der Vorlagepflicht aus § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO im Haftbeschwerdeverfahren strengere Maßstäbe gelten sollten. Dies gilt umso mehr, als gegen den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der angegriffenen Haftentscheidung bereits ein (noch nicht rechtskräftiges) Strafurteil vorlag, wohingegen im Verfahren der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gerade noch kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist (vgl. § 121 Abs. 1 StPO).“

Die Entscheidung werden Verteidiger jetzt demnächst immer entgegen gehalten bekommen. Sie ist in meinen Augen eine Art Freibrief, denn irgendeinen – nachvollziehbaren – Grund für die verzögerte Vorlage wird es immer geben. „Versehentlich“ hin oder her. In der StPO steht nun mal eine Frist. Was soll diese Regelung, wenn die Überschreitung der Frist nicht „sanktioniert“ wird. Das würde zur Eile anhalten. Und ja ich weiß: Die Regelung wird als bloße „Ordnungsvorschrift“ angesehen, was aber m.E. mit. der Formulierung: „ist…. vorzulegen“ nicht zu vereinbaren ist.

Wenn das BVerfG wegen der Fristüberschreitung schon nicht zur Unverhältnismäßigkeit der weiteren Haft kommt, dann hätte man aber zumindest doch einen deutlichen Mahn-/Weckruf erteilen können und auf die Bedeutung der Frist im Hinblick auf „Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG“. Dazu fehlt dann aber offenbar der Mut.

BVerfG I: Kein Erfolg im Fall Jalloh beim BVerfG, oder: Alter Wein in neuen Schläuchen?

Und dann starte ich in die 10. KW des Jahres 2023. Ich beginne die Woche mit zwei Entscheidungen des BVerfG.

Zunächst stelle ich den BVerfG, Beschl. v. 21.12.2022 2 BvR 378/20. Der zieht einen „Schlusstrich“ – na ja, ich schreibe wohl besser: beendet das jahrelange Tauziehen um ddie strafrechtliche Verfolgung im „Fall Oury Jalloh“. Der ist 2005 in einer polizeilichen Gewahrsamszelle in Dessau-Roßlau verbrant. In der Folgezeit wurde 2012 ein Dienstgruppenleiter wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

Im April 2017 hat die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau gegen zwei weitere Polizeibeamte ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes eingeleitet. Die mit den weiteren Ermittlungen beauftragte Staatsanwaltschaft Halle lehnte es ab in dem Verfahren ab, weitere Ermittlungen gegen Polizeibeamte oder andere Personen einzuleiten bzw. weitere Ermittlungen zur Todesursache anzustrengen. Daraufhin wurde die GStA Naumburg vom Justizministerium des Landes Sachsen-Anhalt angewiesen, eine eigenständige und ggf. durch weitere Ermittlungen gestützte Bewertung der Geschehnisse zu treffen. Deren Ergebnisse fasste die GSt in einem 218 Seiten umfassenden Prüfvermerk vom 17.10.2018 zusammen.

Gegen diesen den Bescheid der StA Halle erhobene Beschwerde des Brudes es getöteten wies die GStA Naumburg unter Bezugnahme auf diesen Prüfvermerk zurück. Den dagegen gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 172 StPO) hat das OLG Naumburg als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde vom 24.11.2019 (!!), mit der der geltend gemacht wird, das Recht auf effektive Strafverfolgung, willkürfreie Entscheidung, effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör sei verletzt.

Das BVerfG hat dann die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Ihc zitiere dazu aus der PM des BVerfG und verweise wegen der Einzelheiten, mit denen sich das BVerfG auseinander setzt auf den verlinkten Volltext:

„Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) nicht erfüllt sind.

Der Beschwerdeführer ist in seinem grundrechtlichen Anspruch auf effektive Strafverfolgung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht verletzt. Zwar steht ihm als Bruder des Verstorbenen ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung zu. Diesem trägt der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 jedoch hinreichend Rechnung.

Das Oberlandesgericht hat die Anforderungen an das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts nicht überspannt. Es hat insbesondere nicht darauf abgestellt, dass eine Brandlegung durch den Verstorbenen nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden könne, sondern dargelegt, dass es – auch wenn nach wie vor vieles für eine Selbstentzündung spreche – für eine Brandlegung von anderer Seite jedenfalls an einem hinreichenden Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten fehle.

Das Oberlandesgericht hat dabei auch die Bedeutung des Grundrechts auf Leben und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die effektive Untersuchung von Todesfällen nicht verkannt.

Die Strafermittlungsbehörden haben umfassend ermittelt. Insbesondere hat die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg in ihrem Prüfvermerk vom 17. Oktober 2018 sämtliche bisher geführten Ermittlungen eingehend auf etwaige Widersprüche oder Lücken untersucht und geprüft, ob sich über den bisherigen Ermittlungsstand hinaus weitere erfolgversprechende Ermittlungsansätze ergeben könnten. Sie hat sich mit den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Gegenargumenten im Einzelnen auseinandergesetzt und nachvollziehbar dargelegt, warum weitere Ermittlungen nicht aussichtsreich sind. Auch das Oberlandesgericht Naumburg hat sich mit den Ermittlungsergebnissen sowie den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Einwendungen detailliert auseinandergesetzt und ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass ein hinreichender Tatverdacht gegen eine dritte Person nicht begründet werden könne. Eine hiervon abweichende Beurteilung ist auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers nicht veranlasst.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 verletzt auch nicht das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG. Das Oberlandesgericht hat sich in der angegriffenen Entscheidung mit der Beweislage hinsichtlich einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Beschuldigten eingehend und in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise auseinandergesetzt; seine Auffassung, wonach die Generalstaatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht zu Recht verneint habe, beruht auf einem sachlichen Grund.

III. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG darin erblickt, dass das Oberlandesgericht die Darlegungsanforderungen im Verfahren nach § 172 Abs. 3 StPO überspannt habe, muss der Verfassungsbeschwerde der Erfolg ebenfalls versagt bleiben. Die Annahme des Oberlandesgerichts Naumburg, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht den Anforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO entspricht, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Der Beschwerdeführer hatte sich dazu entschieden, umfangreich auf Inhalte der Ermittlungsakten zurückzugreifen. Um die vom Gesetzgeber vorgesehene und verfassungsrechtlich unbedenkliche Schlüssigkeitsprüfung allein auf der Grundlage des gestellten Antrags nicht zu unterlaufen, war er daher gehalten, zumindest den wesentlichen Inhalt der Beweismittel mitzuteilen, um eine nur selektive und dadurch gegebenenfalls sinnentstellende Darstellung der Ermittlungsergebnisse zu verhindern.

Mit Blick auf die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Annahme eines hinreichenden Tatverdachts weist das Oberlandesgericht zutreffend darauf hin, dass eine Darstellung, welche Polizeibeamten den Brand gelegt haben sollen und aufgrund welcher Beweismittel ein diesbezüglicher Nachweis möglich sein soll, fehlt.

2. Das Oberlandesgericht hat schließlich auch nicht gegen das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Es ist nicht erkennbar, dass das Oberlandesgericht Vortrag des Beschwerdeführers unberücksichtigt gelassen hätte. Die Ausführungen des Beschwerdeführers beschränken sich im Ergebnis vielmehr auf die Darlegung, das Oberlandesgericht habe seinem Vortrag materiell-rechtlich nicht die richtige Bedeutung beigemessen. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht jedoch nicht, der Rechtsansicht des Beschwerdeführers zu folgen.“

Nun ja, nichts Neues. das hat hat man alles schon mal gelesen. Warum man dafür drei Jahre braucht, erschließt sich mir nicht.

BVerfG II: Erledigung der Verfassungsbeschwerde, oder: Auslagenerstattung verneint

Und dann als zweite Entscheidung der BVerfG, Beschl. v. 29.12.2022 – 2 BvR 1216/21 – ebenfalls zur Problematik der Auslagenerstattung nach Erledigung der Verfassungsbeschwerde. Hier hat das BVerfG die Auslagenerstattung verneint:

„2. Der sinngemäße Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist unbegründet.

a) Nach Erledigung der Verfassungsbeschwerde ist über die Auslagenerstattung gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden. Die Erstattung der Auslagen nach dieser Vorschrift stellt im Hinblick auf die Kostenfreiheit des Verfahrens (§ 34 Abs. 1 BVerfGG), den fehlenden Anwaltszwang und das Fehlen eines bei Unterliegen des Beschwerdeführers erstattungsberechtigten Gegners die Ausnahme von dem Grundsatz des Selbstbehalts der eigenen Auslagen (vgl. BVerfGE 49, 70 <89>) dar (vgl. BVerfGE 66, 152 <154>). Im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts findet eine überschlägige Beurteilung der Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Entscheidung über die Auslagenerstattung nicht statt (vgl. BVerfGE 33, 247 <264 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 2018 – 2 BvR 2767/17 -, Rn. 13). Bei der Entscheidung über die Auslagenerstattung kann insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zukommen. So ist es billig, einem Beschwerdeführer die Erstattung seiner Auslagen zuzuerkennen, wenn die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt beseitigt oder der Beschwer auf andere Weise abhilft, weil in diesem Fall – falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind – davon ausgegangen werden kann, dass sie deren Begehren selbst für berechtigt erachtet hat (vgl. BVerfGE 85, 109 <114 ff.>; 87, 394 <397 f.>).

b) Nach diesen Maßstäben entspricht es nicht der Billigkeit, der Beschwerdeführerin die Auslagenerstattung anzuordnen. Zwar hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Begehren der Beschwerdeführerin entsprochen, indem es ihr mit Bescheid vom 20. Juli 2022 eine Aufenthaltszusage erteilt hat. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass das Bundesamt der Beschwer – der vorigen Ablehnung des Antrags – deshalb abgeholfen hat, weil es das verfassungsrechtliche Vorbringen der Beschwerdeführerin für durchgreifend erachtet hätte.

Den verfahrensgegenständlichen ablehnenden Bescheid vom 25. Juli 2019 hatte das Bundesamt darauf gestützt, dass eine erneute Antragstellung im Fall der Beschwerdeführerin nicht zulässig sei und ein Wiederaufgreifen des vorherigen Antragsverfahrens nicht in Betracht komme. Ihr ursprünglicher Antrag sei im Jahr 2017 abgelehnt worden, weil der Nachweis nicht erbracht worden sei, dass die Möglichkeit zu einer Aufnahme in einer jüdischen Gemeinde im Bundesgebiet bestehe (Nr. I 2. Buchst. e der Anordnung des Bundesministeriums des Innern vom 24. Mai 2007 in der Fassung vom 21. Mai 2015 – im Folgenden: Aufnahmeanordnung). Daher sei eine erneute Antragstellung unzulässig, weil eine solche Möglichkeit nach Nr. II 7. Satz 2 Aufnahmeanordnung nur bei einer Ablehnung aufgrund fehlenden Nachweises der jüdischen Nationalität beziehungsweise Abstammung (Nr. I 2. Buchst. a Aufnahmeanordnung) bestehe.

In seinem nunmehr stattgebenden Bescheid vom 20. Juli 2022 hat das Bundesamt die Zulässigkeit des Antrags damit begründet, dass die Aufnahmeanordnung durch das Bundesministerium des Innern im März 2022 geändert worden sei und seitdem für Antragstellerinnen und Antragsteller aus der Ukraine die Möglichkeit einer einmaligen erneuten Antragstellung unabhängig vom Ergebnis des vorausgegangenen Verfahrens bestehe. Die Stattgabe des Antrags stellt sich demnach als Reaktion auf die Änderung der Aufnahmeanordnung anlässlich des Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine am 24. Februar 2022 dar. Sie erlaubt nicht den Rückschluss, dass das Bundesamt das verfassungsrechtliche Vorbringen der Beschwerdeführerin gegen die restriktive Ausgestaltung der erneuten Antragstellung gemäß Nr. II 7. Aufnahmeanordnung für zutreffend hielt.“

BVerfG I: Erledigung der Verfassungsbeschwerde, oder: Auslagenerstattung bejaht

Erledigt sich eine beim BVerfG anhängige Verfassungsbeschwerde stellt sich für den Beschwerdeführer die Frage der Auslagenerstattung. Zu den dabei zu beachtenden Grundsätzen hat vor kurzem das BVerfG in zwei Entscheidungen Stellung genommen. Die stelle ich heute vor.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 16.12.2022 – 2 BvR 1203/22. In dem hat das BVerfG die Auslagenerstattung zugunsten des Beschwerdeführers angeordnet:

„Der Antrag auf Auslagenerstattung hat Erfolg.

a) Über die Auslagenerstattung ist gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden. Die Erstattung der Auslagen nach dieser Vorschrift stellt im Hinblick auf die Kostenfreiheit des Verfahrens (§ 34 Abs. 1 BVerfGG), den fehlenden Anwaltszwang und das Fehlen eines bei Unterliegen des Beschwerdeführers erstattungsberechtigten Gegners die Ausnahme von dem Grundsatz des Selbstbehalts der eigenen Auslagen (vgl. BVerfGE 49, 70 <89>) dar (vgl. BVerfGE 66, 152 <154>). Bei der Entscheidung über die Auslagenerstattung kann insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zukommen. So ist es billig, einer beschwerdeführenden Person die Erstattung ihrer Auslagen zuzuerkennen, wenn die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt beseitigt oder der Beschwer auf andere Weise abhilft, weil in diesem Fall ? falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind ? davon ausgegangen werden kann, dass sie das Begehren der beschwerdeführenden Person selbst für berechtigt erachtet hat (vgl. BVerfGE 85, 109 <114 ff.>; 87, 394 <397 f.>). Im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts findet eine überschlägige Beurteilung der Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Entscheidung über die Auslagenerstattung nicht statt (vgl. BVerfGE 33, 247 <264 f.>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Dezember 2017 – 2 BvR 2160/17 -).

b) Nach diesen Maßstäben entspricht es der Billigkeit, die Auslagenerstattung anzuordnen. Das Verwaltungsgericht hat den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 7. Juli 2022 abgeändert und dem Prozesskostenhilfeantrag in Bezug auf bestimmte Klagegegenstände stattgegeben. Damit hat es zum Ausdruck gebracht, dass es das Begehren des Beschwerdeführers selbst für berechtigt erachtet hat.“

BVerfG I: „Uns fehlen Klimaschutzmaßnahmen“, oder: Keine Verfassungsbeschwerde „für“ ein Tempolimit?

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So, und dann starten wir in die 4. KW, und zwar mit zwei Entscheidungen des BVerfG. Die stelle ich jeweils zur Abrundung und/oder wegen der Vollständigkeit vor.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 15.12.2022 – 1 BvR 2146/22. Das ist der „Tempolimitbeschluss“ des BVerG, über den ja auch schon in der Tagespresse berichtet worden ist. der passt ganz gut zu meiner verkehrsrechtlichen Thematik.

Der Entscheidung liegt eine Verfassungsbeschwerde gegen aus Sicht der Beschwerdeführe unzureichende Klimaschutzmaßnahmen der Bundesrepublik Deutschland. Einen Verstoß gegen das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG und gegen Freiheitsrechte leiten sie „exemplarisch“ daraus ab, dass der Gesetzgeber im Verkehrsrecht durch das Unterlassen eines Tempolimits keine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende Abwägungsentscheidung getroffen habe. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass die bislang zur Senkung des CO2-Ausstoßes im Verkehrsbereich ergriffenen Maßnahmen ausreichten, um die im Klimaschutzgesetz für den Verkehrssektor bis 2030 geregelte Emissionsmenge einzuhalten. Die Beschwerdeführenden halten es für erforderlich, die Freiheit, heute auf Autobahnen ohne Tempolimit fahren zu können, mit dem Klimaschutzpotenzial eines Tempolimits und mit künftigen, vermutlich härteren Freiheitseinbußen abzuwägen, die durch eine Verschiebung von Treibhausgasminderungsanstrengungen im Verkehrsbereich auf das Ende dieses Jahrzehnts entstünden. Die aktuellen Freiheitseinbußen eines jetzt einzuführenden Tempolimits seien gegenüber den damit zu erreichenden CO2-Einsparungen gering.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen:

„2. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Sie genügt den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen nicht.

Die Beschwerdeführenden haben die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht hinreichend dargelegt. Zwar gewinnt das im Klimaschutzgebot des Art. 20a GG enthaltene Ziel der Herstellung von Klimaneutralität bei fortschreitendem Klimawandel in allen Abwägungsentscheidungen des Staates weiter an relativem Gewicht (vgl. BVerfGE 157, 30 <139 Rn. 198>). Dies gilt nicht nur für Verwaltungsentscheidungen über klimaschutzrelevante Vorhaben, Planungen et cetera, sondern auch für den Gesetzgeber, dem die Beschwerdeführenden hier im Kern vorwerfen, Maßnahmen, die im Verkehrsbereich alsbald die emittierte CO2-Menge senken könnten, in Abwägung mit anderen Belangen kein hinreichendes Gewicht beigemessen zu haben.

Zwar kann mit der Verfassungsbeschwerde unter bestimmten Voraussetzungen auch mittelbar ein Verstoß gegen Art. 20a GG gerügt werden. Das ist denkbar, wenn sich Beschwerdeführende gegen einen Eingriff in Grundrechte wenden, weil dieser verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt werden könnte, wenn die zugrunde liegenden Regelungen den elementaren Grundentscheidungen und allgemeinen Verfassungsgrundsätzen des Grundgesetzes entsprechen, zu denen auch das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG zählt (vgl. BVerfGE 157, 30 <133 f. Rn. 189 f.>).

Die Beschwerdeführenden haben jedoch die Möglichkeit eines Grundrechtseingriffs nicht aufgezeigt. Sie legen insbesondere nicht substantiiert dar, dass gesetzliche Regelungen oder gesetzgeberisches Unterlassen im Verkehrssektor, hier das Fehlen eines Tempolimits, eingriffsähnliche Vorwirkung auf ihre Freiheitsgrundrechte entfalten könnten, indem sie zu einem späteren Zeitpunkt unausweichlich zu aus heutiger Sicht unverhältnismäßigen staatlichen Beschränkungen grundrechtlich geschützter Freiheit führten (vgl. dazu BVerfGE 157, 30 <98 ff. Rn. 118 ff.; 131 ff. Rn. 184 ff.>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2022 – 1 BvR 1565/21 u.a. -, Rn. 4, 9, 12). Dafür muss sich die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich gegen die Gesamtheit der zugelassenen Emissionen richten, weil regelmäßig nur diese, nicht aber punktuelles Tun oder Unterlassen des Staates die Reduktionlasten insgesamt unverhältnismäßig auf die Zukunft verschieben könnte (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2022 – 1 BvR 1565/21 u.a. -, Rn. 12 m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall. Auch der Vortrag der Beschwerdeführenden, im Verkehrssektor werde es am Ende dieses Jahrzehnts zu erheblichen Freiheitsbeschränkungen kommen, weil die im Klimaschutzgesetz bis zum Jahr 2030 dem Verkehrssektor zugewiesene Emissionsmenge aktuell zu schnell aufgezehrt werde, vermag eine eingriffsähnliche Vorwirkung des Unterlassens eines Tempolimits nicht zu begründen. Sie haben schon ihre Annahme, das dem Verkehrssektor bis zum Jahr 2030 zugewiesene Emissionsbudget werde überschritten, nicht näher belegt. Außerdem haben sie weder dargelegt, dass am Ende dieses Jahrzehnts Treibhausgasminderungen in der von ihnen unterstellten Höhe auch von Verfassungs wegen unausweichlich gerade im Verkehrssektor erbracht sein müssen, noch dass weitergehende aktuelle Einsparungen gerade durch ein Tempolimit erzielt werden müssten.“