BVerfG I: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, oder: Ausschöpfen der Rechtsmittelfrist ist/bleibt erlaubt

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Ich starte in die neue Woche mit zwei Entscheidungen des BVerfG.

Zunächst: Fristen dürfen bis zum letzten Tag ausgeschöpft werden. Das hat das BVerfG jetzt im BVerfG, Beschl. v. 14.02.2023 – 2 BvR 653/20 – noch einmal bestätigt.

Entschieden hat das BVerfG mit dem Beschluss über die Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des AG Diepholz in einem Bußgeldverfahren. Bem Betroffenen war ein Bußgeldbescheid über 500 EUR zugestellt worden, in dem dem Betroffenen vom Jobcenter vorgeworfen wurde, seinen Mitteilungspflichten gegenüber der Behörde nicht nachzugekommen zu sein.

Der Bußgeldbescheid ging dem Betroffenen am 27.01.2018 zu. Mit Schreiben vom 19.02.2018 hat er gegen diesen Bescheid Einspruch eingelegt und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Einspruchsfrist. Zur Begründung führte er aus: Der Bußgeldbescheid sei ihm am 27.01.2018 zugegangen; die Einspruchsfrist sei demnach am 12.02.2018 abgelaufen. Vom 12. bis 14.02.2018 habe er an einem fieberhaften grippalen Infekt gelitten und sei daher nicht in der Lage gewesen, seinen geschäftlichen Angelegenheiten nachzukommen. Der Einspruchsschrift fügte er ein Attest eines Facharztes für Allgemeinmedizin bei, aus dem hervorgeht, dass er in der Zeit vom 12. bis 14.02.2018 an einem fieberhaften grippalen Infekt gelitten habe und deshalb verhandlungs- und reiseunfähig gewesen sei. Infolgedessen habe er seinen geschäftlichen Angelegenheiten nicht nachkommen können.

Der Einspruch des Betroffenen wurde verworfen. Der Wiedereinsetzungsantrag hatte keinen Erfolg. Erfolgreich war dann die Verfassungsbeschwerde:

2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Diepholz vom 30. September 2019 richtet, ist sie zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist in diesem Umfang zulässig. Insbesondere wahrt sie noch die Anforderungen an eine hinreichend substantiierte Begründung gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG.

aa) Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ist es erforderlich, dass der die Rechtsverletzung enthaltende Vorgang substantiiert und schlüssig vorgetragen wird (vgl. BVerfGE 81, 208 <214>; 89, 155 <171>; 99, 84 <87>; 108, 370 <386 f.>; 113, 29 <44>; 115, 166 <179 f.>; 130, 1 <21>; 149, 86 <108 f. Rn. 61>; 151, 67 <84 f. Rn. 49>). Bei einer gegen eine gerichtliche Entscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde hat sich der Beschwerdeführer mit dieser in der Regel ins Einzelne gehend inhaltlich auseinanderzusetzen (vgl. BVerfGE 82, 43 <49>; 86, 122 <127>; 88, 40 <45>; 105, 252 <264>; 140, 229 <232 Rn. 9>). Es muss deutlich werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll; soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, müssen diese herangezogen werden (vgl. BVerfGE 77, 170 <214 ff.>; 78, 320 <329>; 101, 331 <345 f.>; 105, 252 <264>; 130, 1 <21>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. November 2021 – 2 BvR 1473/20 -, Rn. 16). Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen bereits Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den bereits entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. BVerfGE 77, 170 <214 ff.>; 99, 84 <87>; 101, 331 <345 f.>; 123, 186 <234>; 140, 229 <232 Rn. 9>; 142, 234 <251 Rn. 28>). Wenn die Verletzung eines verfassungsbeschwerdefähigen Rechts aufgrund des vorgetragenen Sachverhalts und der Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und deren Begründung auf der Hand liegt, gelten im Hinblick auf die Darlegung des Verfassungsverstoßes geringere Anforderungen, sodass die Verletzung eines verfassungsbeschwerdefähigen Rechts nicht im Einzelnen anhand der einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe dargelegt werden muss (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2016 – 2 BvR 1997/15 -, Rn. 13 m.w.N.).

bb) Obgleich der Beschwerdeführer darauf verzichtet hat, im Rahmen seiner Verfassungsbeschwerdeschrift vertiefte Ausführungen zu der Reichweite der von ihm geltend gemachten verfassungsmäßigen Rechte und der vom Bundesverfassungsgericht hierzu entwickelten Maßstäbe zu machen, genügen seine Ausführungen diesen Anforderungen noch, denn er hat sich hinreichend mit den angegriffenen Entscheidungen auseinandergesetzt und aufgrund seines Vortrages liegt der Verfassungsverstoß durch den Beschluss vom 30. September 2019 auf der Hand.

b) Die Verfassungsbeschwerde ist im oben dargestellten Umfang offensichtlich begründet. Der Beschluss des Amtsgerichts Diepholz verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG.

aa) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; 143, 216 <224 Rn. 18>). Davon umfasst ist zum einen das formelle Recht, überhaupt Gerichte einschalten zu können (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>). Zum anderen ist die Effektivität des Rechtsschutzes und der gerichtlichen Kontrolle selbst Teil des Gewährleistungsgehalts des Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 51, 268 <284>; 61, 82 <110 f.>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>). Auch der Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) wird durch die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berührt. Dieses Rechtsinstitut dient der Wahrung des Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 25, 158 <166>; 26, 315 <318>; 77, 275 <285 f.>). Wird die Wiedereinsetzung versagt, so wird dem Beschwerdeführer die Möglichkeit, seine Einwände wirksam vorzubringen, genommen.

bb) Das gerichtliche Verfahren und die Ausübung der Rechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG bedürfen der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, die an dem Ziel, dem Betroffenen wirksamen Rechtsschutz und eine effektive Äußerungsmöglichkeit zu vermitteln, zu messen ist. Die Ausgestaltung muss zweckgerichtet, geeignet, erforderlich und zumutbar sein und darf keine unangemessenen prozessrechtlichen Hürden für den Zugang zu den Gerichten und die Gewährung rechtlichen Gehörs eröffnen (vgl. BVerfGE 60, 253 <268 f.>; 84, 34 <49>). Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 44, 302 <305 f.>; 149, 346 <363 Rn. 34>).

Zulässig ist es, den Zugang zu den Gerichten von der Erfüllung formeller Voraussetzungen, insbesondere von der Einhaltung bestimmter Fristen, abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>). Die Anforderungen, die an den Rechtsschutzsuchenden dabei gestellt werden, dürfen jedoch nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 25, 158 <166>; 26, 315 <318>; 31, 388 <390>). Prozessuale Fristen dürfen deshalb bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (vgl. BVerfGE 40, 42 <44>; 41, 323 <328>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>). Dass ein Betroffener bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt, kann ihm daher grundsätzlich nicht vorgeworfen werden. Lediglich dann, wenn dem Betroffenen hinsichtlich der Fristversäumnis ein Verschulden zur Last gelegt werden kann, kann ihm die Säumnis vorgehalten werden mit der Folge, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert werden kann. Der Betroffene hat beispielsweise den Aufwand zu kalkulieren, der zeitlich und organisatorisch erforderlich ist, um den rechtzeitigen Eingang seiner Prozesserklärung in der vorgeschriebenen Form zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2014 – 1 StR 74/14 -, juris, Rn. 6).

cc) Der Beschluss des Amtsgerichts Diepholz vom 30. September 2019 wird diesem Maßstab nicht gerecht. Das Amtsgericht verkennt die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an die Handhabung des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen sind.

Dies gilt zunächst für die Versäumnis der Einspruchsfrist aufgrund Krankheit. Das Amtsgericht stützt seine Entscheidung maßgeblich darauf, dass der Beschwerdeführer den letzten Tag der Einspruchsfrist abwartete, ohne darzulegen, warum ihm die Erkrankung, auf die er sich beruft, zum Vorwurf zu machen sein sollte. Es geht vorliegend gerade nicht darum, dass der Beschwerdeführer den für den rechtzeitigen Eingang des Einspruchs erforderlichen Aufwand falsch kalkulierte. Dies verkennt das Amtsgericht und verwehrt ihm damit das Ausschöpfen der Einspruchsfrist.

Auch die Anforderungen, die das Amtsgericht hilfsweise an die Nachholung der versäumten Prozesshandlung stellt, verkennen den oben dargestellten Maßstab. Nach § 52 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO hat der Beschwerdeführer im Falle schuldloser Säumnis die fragliche Prozesshandlung innerhalb einer Woche nachzuholen. Auch diese Frist kann er nach dem dargestellten Maßstab ausschöpfen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Juli 1998 – 2 Ws 385/98 -, juris, Rn. 4). Der Vorwurf, er habe nicht unverzüglich nach Wegfall der Erkrankung gehandelt, kann daher nicht als verfassungsrechtlich tragfähig angesehen werden.

dd) Die fachgerichtliche Entscheidung beruht auf diesem Verfassungsverstoß und kann daher nicht aufrecht erhalten bleiben. Das Amtsgericht Diepholz stützte sich allein auf diese verfassungsrechtlich unzulässigen Erwägungen….“

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