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BVerfG I: Mehrfache Drogenscreenings im Strafvollzug, oder: (keine) Urinabgaben uter Aufsicht?

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Zum Wochenauftakt stelle ich heute zwei Entscheidungen des BVerfG vor.

Zunächst verweise ich auf den BVerfG, Beschl. v. 22.07.2022 – 2 BvR 1630/21 – zur (Un)Zulässigkeit von beaufsichtigten Drogenscreenings mittels Urinkontrollen in Justizvollzugsanstalt.

Aus der PM des BVerfG ergibt sich folgender Sachverhalt:

„Der Beschwerdeführer verbüßte eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden von der Abteilungsleitung regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen angeordnet und durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. Auch beim Beschwerdeführer wurden in der Zeit vom 24. November bis zum 28. Dezember 2020 vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der anwesende Justizvollzugsbedienstete während der Abgabe der Urinprobe jeweils einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Beschwerdeführers hatte.

Anfang Januar 2021 beantragte der Beschwerdeführer eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die durchgeführten Urinabgaben unter Sichtkontrolle rechtswidrig gewesen seien. Die vier Urinproben innerhalb von gut vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen…..“

Die Rechtsmittel hatten keinen Erfolg, die Verfassungsbeschwerde hatte dann aber Erfolg. Wegen der recht umfangreichen Begründung des BVerfG verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Hier nur der/(mein) Leitsatz:

Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl eines Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat deshalb Anspruch auf besondere Rücksichtnahme.

 

Erledigterklärung einer Verfassungsbeschwerde, oder: Anordnung der Auslagenerstattung

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Und dann heute der RVG-Tag, allerdings ohne gebührenrechtliche Entscheidungen. Der Ordner ist leer.Ich bin also sehr an gebührenrechtlichen Entscheidungen interessiert.

Aber ich habe dann hier zunächst etwas kostenrechtliches, nämlich den BVerfG, Beschl. v. 08.06.2022 – 2 BvR 13/21 – zur Anordnung der Auslagenerstattung und der Gegenstandswertfestsetzung nach Erledigterklärung einer Verfassungsbeschwerde.

Beim  BVerfG war ein Verfassungsbeschwerdeverfahren anhängig. Die mit einem Eilantrag verbundene Verfassungsbeschwerde betraf die Auslieferung des Verfolgten nach Rumänien zur Strafvollstreckung. Das OLG erklärte mit dem angegriffenem Beschluss vom 08.12.2020 – III-3 AR 64/20 – die Auslieferung für zulässig. Auslieferungshindernisse bestünden nicht. Die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf bewilligte die Auslieferung am 1612.2020.

Unter Bezugnahme auf das BVerfG, Urteil vom 01.12.2020 (BVerfGE 156, 182 ff.) forderte die GStA Düsseldorf am 05.01.2021 die rumänischen Behörden zu ergänzenden Informationen sowie weiteren Zusicherungen hinsichtlich der den Verfolgten im Falle seiner Auslieferung wahrscheinlich erwartenden Haftbedingungen auf. Nachdem das OLG am 07.01.2021 die Entscheidung über einen Antrag des Verfolgten auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung im Hinblick auf die angeforderten ergänzenden Informationen der rumänischen Behörden zurückgestellt hatte, erklärte der Verfolgte mit Schriftsatz vom 12.01.2021 das einstweilige Rechtsschutzverfahren vor dem BVerfG für erledigt.

Mit Beschluss vom 10.02.2021 – III-3 AR 64/20 – erklärte das OLG die Auslieferung für unzulässig und hob den Auslieferungshaftbefehl sowie die Haftfortdauerentscheidungen auf. Es bestehe die konkrete Gefahr, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung in Rumänien in einer Justizvollzugsanstalt inhaftiert werden könnte, die europäischen Mindeststandards nicht genüge beziehungsweise in der er entgegen Art. 4 GRCh einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre. Mit Schriftsatz vom 21.02.2022 erklärte der Verfolgte daraufhin auch das Verfassungsbeschwerdeverfahren für erledigt.

Das BVerfG hat dann noch über die Kosten des Verfahrens entschieden. Diese hat es der Staatskasse auferlegt.

„Über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Hauptsache ist nicht mehr zu entscheiden, weil der Beschwerdeführer sie mit Schriftsätzen vom 12. Januar 2021 und vom 21. Februar 2022 für erledigt erklärt hat (vgl. BVerfGE 85, 109 <113>).

2. Dem Beschwerdeführer sind die durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren und das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entstandenen notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG durch das Land Nordrhein-Westfalen zu erstatten.

a) Nach Erledigung der Hauptsache ist über die Auslagenerstattung gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG nach Billigkeitsgesichtspunkten zu befinden. Bei der Entscheidung über die Auslagenerstattung kann insbesondere dem Grund wesentliche Bedeutung zukommen, der zur Erledigung geführt hat. Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt oder hilft sie der Beschwer auf andere Weise ab, so kann, falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind, davon ausgegangen werden, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers selbst für berechtigt erachtet hat. In diesem Fall entspricht es der Billigkeit, sie ohne weitere Prüfung an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Beschwerdeführer die Erstattung seiner Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen, als wenn seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre (vgl. etwa BVerfGE 85, 109 <115>; 87, 394 <397>; BVerfGK 5, 316 <327 f.>). Eine überschlägige Beurteilung der Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde findet im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Entscheidung über die Auslagenerstattung nicht statt (vgl. BVerfGE 33, 247 <264 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 2018 – 2 BvR 2767/17 -, Rn. 13).

b) Nach diesen Maßstäben entspricht es der Billigkeit, neben der Erstattung der Auslagen des Beschwerdeführers im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch die Erstattung seiner notwendigen Auslagen im Hauptsacheverfahren anzuordnen (vgl. BVerfGE 85, 109 <116>). Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat mit dem Beschluss vom 10. Februar 2021, mit dem es die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für unzulässig erklärt hat, die Erledigung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens herbeigeführt und in der Begründung zum Ausdruck gebracht, dass es das mit der Verfassungsbeschwerde vom 6. Januar 2021 geltend gemachte Anliegen des Beschwerdeführers für berechtigt erachtete.

3. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>; BVerfGK 20, 336 <337 f.>).“

Abgerechnet wird dann nach § 37 RVG.

BVerfG II: (Mehrfache) Aussetzung der Vollstreckung, oder: Prüfung der Vollzugstauglichkeit vor Haftantritt

Und die zweite Entscheidung aus Karlsruhe hat dann auch mit Haft zu tun. Und: Ich hatte das Posting zu dem BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – mit „Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂 “ abgeschlossen (vgl. BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg). Die Frage ist/war berechtigt, denn hier habe ich dann mit dem BVerfG, Beschl. v. 10.12.2019 – 2 BvR 2061/19 – gleich die nächste Entscheidung zur Haft, die in dieselbe geht.

Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde. Mit Schreiben vom 18.11.2019 wurde der Verurteilte  von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, der Ladung zum Strafantritt vom 17.05.2019 sofort Folge zu leisten. Um eine Verhaftung zu vermeiden, stellte der sich daraufhin nach seinem Vortrag am 21.11.2019 zum Strafantritt.

Das BVerfG hat die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des LG Essen nach Maßgabe des Beschlusses des BGH vom 20.06.2018 – 4 StR 561/17 – bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit BVerfG, Beschl. v. 10.12.2029 – – 2 BvR 2061/19 – in der Hauptsache ausgesetzt:

BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg

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In die 30. KW./2022 starte ich heute mit zwei Entscheidungen des BVerfG. Beide haben mit Haft zu tun.

Zunächst stelle ich den BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – vor. Er ist in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren ergangen, in dem das OLG Celle mit dem OLG Celle, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22 – zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung im Recht der Wiederaufnahme Stellung genommen hat (vgl. hier Neues Spurengutachten 40 Jahre nach Freispruch, oder: Wiederaufnahme zu Ungunsten verfassungmäßig?). 

Das OLG Celle hatte in dem Verfahren die neue Regelung in § 362 Nr. 5 StPO als verfassungsgemäß angesehen. Das LG Verden hatte nach fast 40 Jahren in einem Verfahren, in dem der Angeklagte von der Tötung einer 17-jährigen frei gesprochen worden war, den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig erklärt und Untersuchungshaft angeordnet. Grundlage für den Wiederaufnahmeantrag war ein im Jahr 2012 erstelltes molekulargenetischen Gutachten des LKA Niedersachsen zu einer Spermaspur am Slip der Getöteten. Nach dem Gutachten kann der Angeklagte als Verursacher dieser Spermaspur in Betracht kommen.

Das OLG Celle hatte in dem Verfahren (auch) die Haftbeschwerde des Angeklagten gegen die angeordnete U-Haft verworfen.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde und der Antrag, den Haftbefehl im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen. Dem Antrag ist das BVerfG gefolgt. Dazu das BVerfG in seiner Entscheidung, die übrigens mit 5 : 3 Stimmen ergangen ist:

„aa) Entzieht sich der Beschwerdeführer dem Strafverfahren, wird das – im Fall der Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde bestehende – öffentliche Interesse an der Wiederaufnahme und der anschließenden Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn beeinträchtigt und unter Umständen vereitelt.

(1) Die besonders strengen Voraussetzungen für die Aussetzung der Geltung eines Gesetzes müssen hier nicht erfüllt sein. Zwar besteht nach der Gesetzesbegründung ohne die Neuregelung die Gefahr einer nachhaltigen Störung des Rechtsfriedens und des Vertrauens in die Strafrechtspflege. Dabei nimmt sie ausdrücklich auf den hier streitgegenständlichen Fall Bezug (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10) und bringt damit zum Ausdruck, dass gerade die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ermöglicht werden soll. Dennoch blieben die Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung auf den vorliegenden Fall begrenzt. Entzöge sich der Beschwerdeführer infolge der Außervollzugsetzung des Haftbefehls dem erneuten Strafverfahren, bliebe die Anwendung des Gesetzes in anderen Wiederaufnahmefällen unberührt.

(2) Es besteht aber auch im Einzelfall ein gewichtiges Allgemeininteresse an der Strafverfolgung eines Mordes. Das Grundgesetz weist den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege einen hohen Rang zu (vgl. BVerfGE 80, 367 <375>). Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272>; 130, 1 <26>). Hierzu zählt, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222 f.>; 122, 248 <272 f.>; 133, 168 <199 Rn. 57>). Dies umfasst die Pflicht, die Durchführung eingeleiteter Strafverfahren und die Vollstreckung rechtskräftig erkannter (Freiheits-)Strafen sicherzustellen (vgl. BVerfGE 46, 214 <222 f.>; 51, 324 <344>; 133, 168 <199 f. Rn. 57>).

bb) Käme es dagegen lediglich zu einer Verzögerung des Wiederaufnahmeverfahrens sowie der daran anschließenden erneuten Hauptverhandlung, so hätte dies für sich genommen angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles kein besonders schweres Gewicht.

(1) Grundsätzlich ist auch eine zügige Durchführung des Strafverfahrens ein gewichtiger Belang einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (vgl. BVerfGE 63, 45 <68 f.>; 122, 248 <273>; 133, 168 <200 f. Rn. 59>). Sie erfordert eine Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>). Die Zwecke der Kriminalstrafe werden durch unnötige Verfahrensverzögerungen in Frage gestellt (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>) und die verfassungsrechtliche Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit wird beeinträchtigt, da die Beweisgrundlage durch Zeitablauf verfälscht werden kann (vgl. BVerfGE 57, 250 <280>; 122, 248 <273>; 133, 169 <201>).

Hier liegt die verfolgte Straftat allerdings bereits über 40 Jahre zurück. Es steht daher nicht zu erwarten, dass eine spätere Durchführung der erneuten Hauptverhandlung eine substantielle Verschlechterung der Beweislage und damit eine (weitere) Erschwerung der Wahrheitsermittlung mit sich brächte. Ebenso geht vom Beschwerdeführer angesichts des langen Zeitraumes, in dem er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, keine mit dem Mordvorwurf typischerweise verbundene besondere Gefährlichkeit aus, der insbesondere der spezialpräventive Zweck der Bestrafung entgegenwirken soll.

(2) Auch kann die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung bezweckte Befriedungswirkung besser erreicht werden, wenn über die Verfassungsbeschwerde bereits vor der Weiterführung des Wiederaufnahmeverfahrens abschließend entschieden ist. Es wäre nicht mit der Unsicherheit belastet, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben und ihm damit die Rechtsgrundlage entziehen könnte.

c) Sowohl die Folgen einer einstweiligen Anordnung als auch die Folgen ihres Unterlassens sind damit insgesamt von solchem Gewicht, dass sie jeweils nicht vollständig zurücktreten dürfen.

Anders als in anderen Fällen der Anordnung von Untersuchungshaft besteht nicht nur die Möglichkeit, dass sich der Tatverdacht im Zuge der Ermittlungen beziehungsweise des Strafverfahrens nicht erhärtet. Ausschlaggebend ist vielmehr die Möglichkeit, dass die Untersuchungshaft gar nicht hätte erfolgen dürfen, weil die Strafverfolgung insgesamt unzulässig ist, wenn sich die Norm, die die Strafverfolgung eröffnet, als verfassungswidrig erweist. Dem grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG kommt unter diesen Umständen daher ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.

Die Schwere des Tatvorwurfs, der im Wiederaufnahmefall den berechtigten Strafverfolgungsanspruch des Staates begründet, hat jedoch ein solches Gewicht, dass auch dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung Rechnung getragen werden muss. Dies kann zwar im Rahmen der hier erlassenen einstweiligen Anordnung den Vollzug des Haftbefehls nicht rechtfertigen, wohl aber die Anordnung von Maßnahmen, die weniger intensiv in Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG eingreifen. Angesichts der von den Fachgerichten festgestellten Fluchtgefahr, die der Beschwerdeführer nicht substantiiert entkräftet hat, sind die im Tenor aufgeführten Maßnahmen geboten, um den staatlichen Strafverfolgungsanspruch ausreichend zu sichern. Dem Eilbegehren des Beschwerdeführers trägt dies größtmöglich Rechnung. Dem Landgericht obliegt es, die Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Weiteren auszugestalten und – soweit erforderlich – den Zweck des Haftbefehls durch Maßnahmen nach § 116 Abs. 4 StPO zu gewährleisten. Ein verbleibendes Risiko, dass sich der Beschwerdeführer der Strafverfolgung dennoch entzieht, muss dabei angesichts der besonderen Grundrechtsbelastung, die mit der – erneuten – Untersuchungshaft im Zuge der Zulassung des Wiederaufnahmeantrags verbunden ist, hingenommen werden.“

Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂

OWi I: Selbstbelastungsfreiheit im OWi-Verfahren, oder: Das BVerfG und das Auskunftsverweigerungsrecht

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Ich stelle dann heute mal wieder drei OWi-Entscheidungen vor. Derzeit ist es im (straßenverkehrsrechtlichen) Bußgeldverfahren recht ruhig. Hoffentlich nicht die Ruhe vor dem Sturm 🙂 .

Ich beginne mit dem schon etwas älteren BVerG, Beschl. v. 25.01.2022 – 2 BvR 2462/18. Das BVerfG nimmt in ihm zur Selbstbelastungsfreiheit im Bußgeldverfahren Stellung. Folgender Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist geschäftsführender Inhaber eines Speditionsunternehmens. Die Polizei kontrollierte ein Lastfahrzeug seines Unternehmens und stellte dabei fest, dass das Fahrzeug nicht mit Feuerlöschgeräten ausgerüstet war und seit mehr als zwei Jahren keine Nachprüfung eines Kontrollgerätes stattgefunden hatte. Das Unternehmen des Beschwerdeführers wurde „zur Ermittlung des für den Sachverhalt Verantwortlichen“ zur Mitteilung aufgefordert, wer im Sinne des § 9 Abs. 1, Abs. 2 OWiG die für die Einhaltung der gefahrgutrechtlichen Vorschriften im Betrieb verantwortliche und beauftragte Person sei. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Unternehmer oder Inhaber des Betriebs gemäß § 9 Abs. 2, Abs. 5 GGBefG zur vollständigen und unverzüglichen Auskunftserteilung verpflichtet sei und die Verletzung dieser Auskunftspflicht gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 GGBefG mit einer Geldbuße geahndet werden könne.

Daraufhin teilte eine Fahrzeugführer N mit, er sei die für den Verstoß verantwortliche Person. Hierauf erwiderte die Polizei mit einem an das Unternehmen gerichteten Schreiben, der Fahrzeugführer könne rechtlich nicht der verantwortliche Beförderer sein und habe keine Unternehmenspflichten. Da offensichtlich im Betrieb keine verantwortliche beauftragte Person bestellt sei, sei der Beschwerdeführer als eingetragener Geschäftsführer selbst verantwortlich und werde aufgefordert, seine vollständigen Personalien in den beiliegenden Anhörungsbogen einzutragen und diesen unverzüglich zurückzusenden. Der Beschwerdeführer teilte seine Personalien mit. Zudem gab er an, dass im Betrieb eine verantwortlich beauftragte Person bestellt sei. Da er aber weder sich selbst noch einen Familienangehörigen belasten müsse oder wolle, mache er von seinem „Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 9 GGBefG“ Gebrauch.

Gegen den Beschwerdeführer wurde vom AG wegen vorsätzlich nicht erteilter Auskunft gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 5, § 10 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 GGBefG in Verbindung mit § 9 Abs. 2, § 17 OWiG zu einer Geldbuße verurteitl. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde hatte beim OLG Bamberg keinen Erfolg. Das BVerfG hat es dann aber „gerichtet“:

„1. Die in Bezug auf die fachgerichtlichen Entscheidungen zulässige und annahmefähige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Amtsgerichts Regensburg vom 14. Juli 2017 (Ziffern 1 und 4 des Tenors) und der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. Juni 2018 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Selbstbelastungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung. Denn durch rechtlich vorgeschriebene Auskunftspflichten kann die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch eine Falschaussage gegebenenfalls ein neues Delikt zu begehen oder aber wegen ihres Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden (vgl. BVerfGE 56, 37 <41>). Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist zum einen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie zum anderen im Rechtsstaatsprinzip verankert und wird von dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG umfasst (vgl. BVerfGE 38, 105 <113 f.>; 55, 144 <150 f.>; 56, 37 <41 ff.>; 80, 109 <119 ff.>; 95, 220 <241>; 109, 279 <324>; 110, 1 <31>; 133, 168 <201 Rn. 60>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 34 m.w.N.). Ein Zwang, durch selbstbelastendes Verhalten zur eigenen strafrechtlichen Verurteilung beitragen zu müssen, wäre mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar (vgl. BVerfGE 80, 109 <121>; 95, 220 <241 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 190).

Das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren. Dazu gehört, dass im Rahmen des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen. Der Beschuldigte beziehungsweise Betroffene muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er mitwirkt (vgl. BVerfGE 38, 105 <113>; 56, 37 <43>; 133, 168 <201 Rn. 60>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 35).

Aus der Verfassung ergibt sich zwar kein ausnahmsloses Gebot, dass niemand zu Auskünften oder zu sonstigen Handlungen gezwungen werden darf, durch die er eine von ihm begangene strafbare Handlung offenbart (vgl. BVerfGE 56, 37 <42, 49>; BVerfGK 4, 105 <108>; 18, 144 <150>). Handelt es sich um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Eine außerhalb des Strafverfahrens erzwungene Selbstbezichtigung ist aber nur dann zulässig, wenn sie mit einem strafrechtlichen Verwertungsverbot einhergeht (vgl. BVerfGE 56, 37 <49 f.>; BVerfGK 4, 105 <108>). Auch bloße Mitwirkungspflichten verletzen das Verbot der Selbstbelastung nicht, wenn durch sie Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte im Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren nicht berührt werden (vgl. BVerfGE 55, 144 <150 f.>; BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. Dezember 1981 – 2 BvR 1172/81 -, juris, Rn. 7; Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 310). Daher schützt das Verbot der Selbstbelastung nicht davor, dass Erkenntnismöglichkeiten, die den Bereich der Aussagefreiheit nicht berühren, genutzt werden und insoweit die Freiheit des Betroffenen eingeschränkt wird (vgl. BVerfGE 55, 144 <151>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 310). So betreffen gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten nicht den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit, sondern können zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 81, 70 <97>; BVerfGK 17, 253 <264>).

Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist aber ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen (vgl. BVerfGE 56, 37 <49>; BVerfGK 1, 156 <157>; 15, 457 <471>; 17, 253 <264>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 35). Die in den jeweiligen Prozessordnungen und sonstigen Gesetzen vorgesehenen Aussageverweigerungsrechte dienen der Verwirklichung des rechtsstaatlichen Grundsatzes, dass niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagen (vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2).

Dies gilt sowohl für die strafprozessuale Aussagefreiheit gemäß §§ 136, 163a, 243 Abs. 5 Satz 1 StPO (vgl. BVerfGE 56, 37 <43>), die gemäß § 46 Abs. 1 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren Anwendung findet (vgl. Lutz, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 55 Rn. 15), als auch für das in § 9 Abs. 4 GGBefG normierte Auskunftsverweigerungsrecht (vgl. Begründung des Bundesrates zum Ergänzungsvorschlag zu § 9 <Absatz 4> des Gesetzes vom 6. August 1975, zitiert aus Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 95; zur ähnlich konzipierten Regelung in § 4 Abs. 4 FPersG vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2). Die in § 9 GGBefG angeordnete behördliche Überwachungsbefugnis und die entsprechenden Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Verantwortlichen dienen dem Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von der Beförderung gefährlicher Güter ausgehen (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 96 Rn. 1; vgl. auch § 1, S. 29 Rn. 30). Um die Wirksamkeit der Auskunfts- und Mitwirkungspflichten und damit der Überwachungsmaßnahmen sicherzustellen, ist eine Verweigerung der Auskunftserteilung und Mitwirkung grundsätzlich bußgeldbewehrt (vgl. Begründung des Bundesrates zum Ergänzungsvorschlag zu § 10 <neuer Absatz 1 Nr. 5>, zitiert aus: Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 10, S. 116). Jedoch darf der zur Auskunft Verpflichtete nach § 9 Abs. 4 GGBefG die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn oder einen nahen Angehörigen der Gefahr straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verfolgung aussetzen würde. Damit überträgt die Norm die allgemeinen prozessualen Grundsätze der Zeugenvernehmung auf das Überwachungsverfahren in Bezug auf den an sich auskunftsverpflichteten Verantwortlichen nach § 9 GGBefG (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 102 Rn. 15). Die Einschränkung der Auskunftspflicht bezieht sich auf Verfahren wegen möglicher Verstöße bei der Beförderung gefährlicher Güter. Deshalb kann der Auskunftspflichtige eine Antwort verweigern, wenn er sich dadurch der Gefahr eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens nach § 10 Abs. 1 GGBefG aussetzen würde (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 103 Rn. 16, 18).

Nichts anderes ergibt sich aus der von den Fachgerichten herangezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 1984 (vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2). Zum einen betraf das damals festgesetzte Bußgeld eine verweigerte Herausgabe von Unterlagen und nicht eine verweigerte Auskunft. Gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten betreffen den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit auch dann nicht, wenn die zu erstellenden oder vorzulegenden Unterlagen auch zur Ahndung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten verwendet werden dürfen. Vielmehr können solche anderweitigen Mitwirkungspflichten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts namentlich zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGK 17, 253 <264>). Zum anderen bestätigt die Entscheidung das nach § 4 Abs. 4 Fahrpersonalgesetz (entspricht § 9 Abs. 4 GGBefG) bestehende Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung den Betroffenen der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde. Die weiteren Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts bezogen sich auf solche Fragen, mit deren Beantwortung sich der Betroffene nicht selbst belastet.

b) Im vorliegenden Verfahren verstößt die Verurteilung wegen Nichterteilung einer Auskunft gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit.

Der Beschwerdeführer war aufgrund der Gefahr einer ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfolgung wegen eines vorherigen gefahrgutrechtlichen Verstoßes nicht zur Auskunft über seine Verantwortlichkeit verpflichtet. Denn das polizeiliche Auskunftsersuchen diente nicht der allgemeinen Überwachung von gefahrgutbefördernden Transportunternehmen und war damit nicht präventiv auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerichtet. Vielmehr verfolgte die Polizeiinspektion bereits mit dem ersten Anhörungsschreiben ersichtlich repressive Ziele, namentlich die Verfolgung von zwei zuvor begangenen Ordnungswidrigkeiten. Dies zeigt sich bereits darin, dass schon das erste Anhörungsschreiben vom 15. Dezember 2014 eine Anlage namens „Anhörung wegen einer Ordnungswidrigkeit“ enthielt, das Schreiben den Vorwurf begangener Ordnungswidrigkeiten erhob und eine Belehrung nach § 55 OWiG beigefügt war. Dieses Ordnungswidrigkeitenverfahren richtete sich spätestens mit Schreiben vom 13. Juli 2015 gegen den Beschwerdeführer persönlich, als diesem ein nicht an sein Unternehmen, sondern an ihn persönlich adressiertes Schreiben zur „Anhörung des Betroffenen wegen einer Ordnungswidrigkeit“ bekanntgegeben wurde, wobei die Belehrung nun mit der Belehrung zu § 55 OWiG begann. Im letzten Anhörungsschreiben vom 21. September 2015 teilte die Polizeiinspektion dem Beschwerdeführer mit, dass er selbst als eingetragener Geschäftsführer für die Verstöße nach dem Gefahrgutrecht angezeigt werde, sollte er nicht die Personalien der beauftragten Person mitteilen. Die Polizeiinspektion zog den Beschwerdeführer folglich nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG ernstlich als Täter der verfahrensgegenständlichen Ordnungswidrigkeiten in Betracht. Darüber hinaus zeigt sich der Verfolgungswille der Polizeiinspektion deutlich in der späteren Realisierung dieser Verfolgungsgefahr, als der Beschwerdeführer zeitgleich nicht nur einen Bußgeldbescheid wegen der verweigerten Auskunft, sondern auch wegen der gefahrgutrechtlichen Verstöße in Bezug auf den Feuerlöscher und das Kontrollgerät erhielt. Durch den Erlass dieses Bußgeldbescheids gab die Polizeiinspektion eindeutig zu erkennen, dass sie den Beschwerdeführer als Verantwortlichen für die gefahrgutrechtlichen Verstöße ansah. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer war daher von Beginn an repressiv auf die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit gerichtet, sodass der Beschwerdeführer nicht verpflichtet war, sich im laufenden Ordnungswidrigkeitenverfahren durch das Eingeständnis seiner Verantwortlichkeit für die bußgeldbewehrten Verstöße gegen das Gefahrgutbeförderungsgesetz selbst zu bezichtigen. Darüber hinaus war sein Auskunftsverweigerungsrecht in § 9 Abs. 4 GGBefG gesetzlich verankert.

Die Ausübung dieses Rechts darf nicht – wie hier geschehen – mit einer Geldbuße sanktioniert werden, weil hiervon eine nötigende Wirkung ausgeht und der Betroffene andernfalls gezwungen wäre, zur Vermeidung einer (weiteren) Geldbuße auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu verzichten.

Soweit die Generalstaatsanwaltschaft meint, der Beschwerdeführer habe sich „nur“ im gefahrgutrechtlichen Verfahren in Bezug auf die Feuerlöscher und das Kontrollgerät, nicht aber im auskunftsrechtlichen Verfahren ausdrücklich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen, greift dieser Einwand nicht durch. Die eindeutige Erklärung des Beschwerdeführers mit E-Mail vom 25. August 2015, von nun an im Hinblick auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu schweigen und keine weiteren Auskünfte mehr zu erteilen, brauchte nicht bei jedem neuen Anhörungsschreiben „aktualisiert“ zu werden. Darüber hinaus bezog sich das Auskunftsverweigerungsrecht auf den gefahrgutrechtlichen Verstoß in Bezug auf die Feuerlöscher und das Kontrollgerät. In diesem Verfahren hat der Beschwerdeführer berechtigterweise sein Auskunftsverweigerungsrecht ausgeübt.“