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StPO I: Beweisverwertung + Verlesungsfragen, oder: Auch die StA „kann“ keine Verfahrensrügen

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Urheber Photo: Andreas Praefcke

Ich stelle heute StPO-Entscheidungen vor, und zwar alle drei zur Verfahrensrüge.

Den Opener macht das BGH, Urt. v. 13.03.2024 – 5 StR 273/23. Das LG hatte den Angeklagten vom Vorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, die mit der Sachrüge Erfolg hatte. Mit ihren Verfahrensrügen ist die Staatsanwaltschaft allerdings gescheitert:

„1. Die Verfahrensrügen dringen allerdings nicht durch, weil sie nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechen und daher unzulässig sind.

a) Nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO sind die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau darzulegen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt wird, über den geltend gemachten Mangel endgültig zu entscheiden. Für den Revisionsvortrag wesentliche Schriftstücke oder Aktenstellen sind im Einzelnen zu bezeichnen und – in der Regel durch wörtliche Zitate beziehungsweise eingefügte Abschriften oder Ablichtungen – zum Bestandteil der Revisionsbegründung zu machen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 12. Juli 2023 – 6 StR 417/22, NStZ-RR 2023, 284 mwN). Diese Anforderungen gelten gleichermaßen und unterschiedslos für jeden Beschwerdeführer, sei es der Angeklagte, der Nebenkläger oder – wie hier – die Staatsanwaltschaft.

b) Die Staatsanwaltschaft wird dem für keine der erhobenen Verfahrensbeanstandungen gerecht.

aa) Soweit sie eine Verletzung des § 261 StPO rügt, weil das Landgericht zu Unrecht angenommen habe, die bei der Durchsuchung des am Tattag vom Angeklagten genutzten Autos aufgefundenen Beweise (rund 65 Gramm Kokain, ein Mobiltelefon des Angeklagten) seien nicht verwertbar, beschränkt sich ihr Revisionsvortrag darauf, die Urteilsgründe auszugsweise wiederzugeben und in Bezug zu nehmen. Dies genügt nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.

Wird beanstandet, das Tatgericht habe zu Unrecht ein Beweisverwertungsverbot wegen einer Verletzung des Richtervorbehalts nach § 105 Abs. 1 StPO angenommen, weil das Ergebnis der Abwägung zwischen dem staatlichen Interesse an einer Tataufklärung und dem Individualinteresse des Betroffenen an der Wahrung seiner Rechtsgüter den Angeklagten rechtsfehlerhaft begünstige, müssen jedenfalls alle Polizeiberichte und andere Unterlagen vorgelegt werden, die mit der Durchsuchungsmaßnahme im Zusammenhang stehen. Denn nur auf dieser Grundlage kann das Revisionsgericht das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes prüfen, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich oder gar willkürlich begangen wurde. Dies wiederum ist aber für die Frage des Vorliegens eines Beweisverwertungsverbotes von entscheidender Bedeutung (vgl. BGH, Urteil vom 20. Oktober 2021 – 6 StR 319/21, NStZ 2022, 125; Beschluss vom 5. April 2022 – 3 StR 16/22, NJW 2022, 2126, 2128).

Dementsprechend hätte die Revision sowohl den in den Urteilsgründen erwähnten polizeilichen Einsatzplan zum Tattag und die Ergebnisse der am gleichen Tag durchgeführten Observation des Angeklagten als auch den Durchsuchungsbericht mitteilen müssen. Das Gleiche gilt für die – ebenfalls in den Urteilsgründen in Bezug genommene – gegen den gesondert verfolgten Bruder des Angeklagten gerichtete richterliche Anordnung zur Durchsuchung der Gartenparzelle nebst Kraftfahrzeugen. Denn auch daraus könnten sich Umstände ergeben, die bei der Prüfung eines Beweisverwertungsverbots vom Senat heranzuziehen gewesen wären.

Daran ändert auch nichts, dass das Landgericht in den Urteilsgründen rechtlich nicht gebotene Ausführungen zu Verfahrensstoff gemacht hat, der für ein Verwertungsverbot relevant sein kann. Zwar können zur Ergänzung der Verfahrensrüge die Urteilsausführungen herangezogen werden, da das Revisionsgericht die Urteilsgründe bei einer umfassend erhobenen Sachrüge ohnehin zur Kenntnis nimmt (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juni 2018 – 4 StR 524/17; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 344 Rn. 39; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 344 Rn. 21a). Der Umstand, dass die Urteilsgründe Ausführungen dazu enthalten, warum die Beweise aus der Durchsuchung des Autos aus Sicht der Strafkammer nicht erhoben oder verwertet werden durften, befreit den Beschwerdeführer aber nicht von der Verpflichtung zu einem geordneten Vortrag der den geltend gemachten Verfahrensmangel begründenden Tatsachen im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Dies folgt schon daraus, dass Ausführungen zu Verfahrensvorgängen im Urteil rechtlich nicht geboten sind und die vollständige Wiedergabe der maßgeblichen Verfahrensvorgänge in den Urteilsgründen mithin nicht gewährleistet ist. Zudem sind Feststellungen des Tatgerichts für das Revisionsgericht nicht bindend; vielmehr ist seine tatsächliche Sicht der Verfahrensvorgänge die allein maßgebliche (vgl. BGH, Urteil vom 8. August 2018 – 2 StR 131/18, NStZ 2019, 107, 108).

bb) Soweit die Staatsanwaltschaft eine Verletzung des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO rügt, weil das Landgericht ihren Antrag auf Verlesung dreier Gutachten über DNA-Spurentreffer abgelehnt hat, teilt sie – worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hingewiesen hat – zahlreiche Unterlagen nicht mit, die in dem Beweisantrag und dem Ablehnungsbeschluss aufgeführt sind. Insbesondere werden die Gutachten zu den Spurentreffern und der Beschluss des Amtsgerichts Kiel nicht vorgetragen.“

Ähnlich im BGH, Urt. 30.04.2024 – 1 StR 426/23:

„b) Die Verfahrensrüge der Staatsanwaltschaft ist unzulässig, weil sie nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.

aa) Die Staatsanwaltschaft rügt, das Landgericht habe zu Unrecht den Inhalt einer im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunde im Urteil nicht erörtert. Sie teilt aber weder den Inhalt der von der Verteidigung herbeigeführten Entscheidung des Gerichts (§ 238 Abs. 2 StPO) über die Selbstleseanordnung noch eine gegen diese Entscheidung erhobene Gegenvorstellung und die Entscheidung hierüber mit. Vortrag hierzu war nicht etwa, wie die Revision meint, deswegen entbehrlich, weil die Rüge nicht die Durchführung des Selbstleseverfahrens, sondern die Frage der gebotenen Verwertung einer durch das Selbstleseverfahren eingeführten Urkunde betraf. Die Verwertung setzt die ordnungsgemäße Anordnung und Durchführung des Selbstleseverfahrens voraus.

Man sieht: Auch für die Staatsanwaltschaft sind Verfahrensrügen „schwierig“ 🙂 .

Nochmals: Verwertung einer Dashcam-Aufzeichnung, oder: Unfallaufklärung mit Dashcam bei Beweisnot

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Im „Kessel Buntes“ am Samstag dann heute zwei Entscheidungen aus dem Verkehrszivilrecht.

Ich beginne mit dem LG Aachen, Urt. v. 15.06.2023 – 12 O 398/22 -, das sich noch einmal zur Verwertung von Dashcam-Aufzeichnungen äußert. Das LG hatte über Schadensersatzansprüche bei einem Kollisionsunfall nach einer Kurvendurchfahrt mit dem Vorwurf des beiderseitigen Fahrstreifenwechsel zu entscheiden. Das LG hat Zeugen vernommen, was aber kein Ergebnis gebracht hat. Das LG hat dann eine vorliegende Dashcam-Aufzeichung verwertet. Zur Zulässigkeit führt es aus:

„(bb) Die Verwertung des Dashcam-Videos war als Beweismittel auch zulässig.

(1) Keine Partei – insbesondere nicht der Kläger – hat der Verwertung der Dashcam-Videos widersprochen.

(2) Es kann auch dahinstehen, ob die streitgegenständliche Videoaufzeichnungen nach den geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen unzulässig sind. Selbst wenn dies der Fall wäre, wäre ihre Verwertung als Beweismittel dennoch zulässig. Das ergibt sich aus einer vorzunehmenden Güterabwägung (ausführlich BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 39, juris).

(a) Auf der einen Seite stehen das Interesse des (Gegen-)Beweisführers – hier des Beklagten zu 1) – an der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche und seines im Grundgesetz verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege und an einer materiell richtigen Entscheidung nach freier Beweiswürdigung. Auf der anderen Seite steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348¬377, Rn. 40 m.w.N., juris).

(b)  Zwar begründet die Dashcam-Aufnahme, durch die das Fahrzeug des Klägers mit dessen Kraftfahrzeugkennzeichen in und kurz nach der Unfallsituation aufgenommen und diese Sequenz abgespeichert worden ist, einen Eingriff in das Recht des Klägers, der durch die Nutzung als Beweismittel fortgesetzt wird (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 41 f., juris).

(c) Der Eingriff ist allerdings nicht rechtswidrig, da die schutzwürdigen Belange des Beklagten zu 1) das Schutzinteresse des Klägers überwiegen. In der Rechtsprechung sind wegen der Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als eines Rahmenrechts, dessen Reichweite nicht absolut feststeht, Abwägungskriterien u.a. nach Maßgabe einer abgestuften Schutzwürdigkeit bestimmter Sphären, in denen sich die Persönlichkeit verwirklicht, herausgearbeitet worden. Danach genießen besonders hohen Schutz die sogenannten sensitiven Daten, die der Intim-und Geheimsphäre zuzuordnen sind. Geschützt ist aber auch das Recht auf Selbstbestimmung bei der Offenbarung von persönlichen Lebenssachverhalten, die lediglich zur Sozial- und Privatsphäre gehören. Allerdings hat der Einzelne keine absolute, uneingeschränkte Herrschaft über „seine“ Daten; denn er entfaltet seine Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft. In dieser stellt die Information, auch soweit sie personenbezogen ist, einen Teil der sozialen Realität dar, der nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Vielmehr ist über die Spannungslage zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person zu entscheiden (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 44 m.w.N.).

(d) Bei der gebotenen Abwägung ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger lediglich in seiner Sozialsphäre betroffen ist. Aufgezeichnet wurde ein Unfallgeschehen unter Beteiligung seines Kraftfahrzeugs. Das Geschehen ereignete sich im öffentlichen Straßenraum, in den er sich freiwillig begeben hat. Er hat sich durch seine Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer ausgesetzt. Rechnung zu tragen ist zudem der häufigen besonderen Beweisnot, die der Schnelligkeit des Verkehrsgeschehens geschuldet ist. Wenn überhaupt Zeugen vorhanden sind, ist der Beweiswert ihrer Aussagen angesichts der Flüchtigkeit des Unfallgeschehens und der Gefahr von Rekonstruktions- und Solidarisierungstendenzen regelmäßig gering; unfallanalytische Gutachten setzen verlässliche Anknüpfungstatsachen voraus, an denen es häufig fehlt. Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Aufnahmen auch Feststellungen zum Fahrverhalten des Aufzeichnenden erlauben und grundsätzlich auch zu Gunsten des Beweisgegners sprechen und verwertet werden können.

Der mögliche Eingriff in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer, Fußgänger, Radfahrer oder anderer Kraftfahrer bzw. Insassen führt nicht zu einer anderen Gewichtung. Zwar besteht durch permanent und anlasslos aufzeichnende Videokameras in zahlreichen Privatfahrzeugen für das informationelle Selbstbestimmungsrecht der übrigen Verkehrsteilnehmer ein Gefährdungspotential, da durch die bestehenden Möglichkeiten von Gesichtserkennungssoftware, Weiterleitung und Zusammenführung der Daten zahlreicher Aufzeichnungsgeräte nicht auszuschließen ist, dass letztlich Bewegungsprofile individueller Personen erstellt werden könnten. Dem ist jedoch nicht durch Beweisverwertungsverbote im Zivilprozess zu begegnen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Möglichkeit einer Beweisverwertung Anreize für die Nutzung von Dashcams setzen kann, doch ist ihr Gefahrenpotential nicht im Zivilprozess einzugrenzen oder (zusätzlich) zu sanktionieren. Deshalb ist es für die Frage der Verwertbarkeit des Beweismittels nicht von Bedeutung, dass der Teil der Aufzeichnung, der nicht im Prozess vorgelegt worden oder für die Unfallrekonstruktion nicht erheblich ist, möglicherweise zu Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dritter Personen führt.

Dem danach nicht so schwerwiegenden Eingriff in das Recht des Klägers steht nicht nur ein „schlichtes“ Beweisinteresse gegenüber. Denn jedes Beweisverwertungsverbot beeinträchtigt nicht nur die im Rahmen der Zivilprozessordnung grundsätzlich eröffnete Möglichkeit der Wahrheitserforschung und damit die Durchsetzung der Gerechtigkeit und die Gewährleistung einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege, sondern auch durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechte der auf Durchsetzung ihres Anspruchs klagenden Parteien. Es besteht auch ein individuelles Interesse der Partei eines Zivilprozesses an der Findung der materiellen Wahrheit bis hin zur Abwehr eines möglichen Prozessbetruges (zum Ganzen: BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 — VI ZR 233/17 —, BGHZ 218, 348-377, Rn. 43 ff. m.w.N., juris).

(e) In der Konsequenz war die Verwertung der Dashcam-Aufzeichnungen hier zulässig. Dabei war im konkreten Einzelfall zusätzlich zu berücksichtigen, dass dem Beklagten zu 1) hier insbesondere auch keine anderen Beweismittel zur Verfügung standen, um den Gegenbeweis zu führen und seine (vollständige oder quotale) Haftung zu widerlegen, wohingegen der Kläger mit dem Zeugen II» über ein Beweismittel verfügte.

(cc) Nach allem ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger zu 1) im Zuge des Abbiegevorgangs einen (teilweisen) Fahrspurwechsel durch Überfahren der Trennlinie vorgenommen hat und es hierdurch zum Unfall gekommen ist. Damit hat der Kläger gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen. Dass er einen Abbiegevorang beabsichtigt und angekündigt hätte, hat er bereits nicht vorgetragen, sondern bestritten, einen Wechsel überhaupt vorgenommen zu haben. Ohnehin konnte ein Wechsel der Fahrspur zum fraglichen Zeitpunkt nicht ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vonstattengehen, wie es § 7 Abs. 5 StVO allerdings voraussetzt, weil sich der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug praktisch neben dem klägerischen Fahrzeug befand und insofern kein Einscheren an der fraglichen Stelle möglich war.“

Und das war es dann für die Klage. Die hat das LG abgewiesen.

Anzumerken ist, dass das LG die Vorgaben aus der genannten Entscheidung des BGH umsetzt werden, ohne dass allerdings den gestiegenen Bedeutungsgehalt des Datenschutzes in Form der DSGVO näher zu erörtern. Andererseits frage ich mich, warum das LG die Verwertbarkeit des  Videos überhaupt erörtert, denn es hatte keine Partei der Verwertung widersprochen.