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Urteilsgründe III: Strafaussetzung zur Bewährung, oder: Massiv und vielfach vorbestrafter Angeklagter

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Und als dritte Entscheidung zur Thematik „Urteilsgründe“ dann noch einmal das BayObLG, und zwar mit dem BayObLG, Beschl. v. 24.09.2021 – 202 StRR 98/21 – zu den Urteilsanforderungen zur Bewährungsaussetzung bei einem vielfach und massiv vorbestraften Angeklagten.

Das LG hatt (noch einmal) zur Bewährung ausgesetzt. Dem BayObLG reichen die Urteilsgründe insoweit nicht:

„Dagegen sind die Erwägungen, mit denen die Berufungskammer die Strafaussetzung zur Bewährung begründet hat, rechtsfehlerhaft.

a) Wie die Strafzumessung ist zwar auch die Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung grundsätzlich Sache des Tatrichters. Ihm steht bei der Beantwortung der Frage, ob die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, weil zu erwarten ist, dass der Angeklagte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (§ 56 Abs. 1 StGB), ein weiter Bewertungsspielraum zu, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat. Das Revisionsgericht kann die Einschätzung des Tatrichters grundsätzlich nur auf Ermessensfehler und Rechtsirrtümer überprüfen (vgl. nur BGH, Urt. v. 22.07.2010 – 5 StR 204/10 = NStZ-RR 2010, 306; OLG Bamberg, Urt. v. 23.08.2016 – 3 OLG 8 Ss 58/16, bei juris – jew. m.w.N.). Selbst wenn das Revisionsgericht die Prognoseentscheidung des Tatgerichts für fragwürdig und die Auffassung der Anklagebehörde für überzeugender hält, hat es deshalb die subjektive Wertung der Strafkammer, soweit sie vertretbar ist und deshalb neben anderen abweichenden Meinungen als gleich richtig zu bestehen vermag, auch dann zu respektieren, wenn eine zum gegenteiligen Ergebnis führende Würdigung ebenfalls rechtlich möglich gewesen wäre. Die Entscheidung des Tatrichters, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach § 56 Abs. 1 StGB zur Bewährung auszusetzen, ist mithin vom Revisionsgericht, sofern keine Rechtsfehler vorliegen, bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen, weil allein der Tatrichter sich aufgrund des persönlichen Eindrucks in der Hauptverhandlung und der Würdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten eine Überzeugung davon verschaffen kann, ob zu erwarten ist, dass sich der Angeklagte in Zukunft auch ohne Strafverbüßung straffrei führen wird (stRspr., vgl. nur OLG Bamberg a.a.O.; BayObLG, Urt. v. 15.07.2004 – 5St RR 182/04 = NStZ-RR 2004, 336; Fischer StGB 68. Aufl. § 56 Rn. 11 m.w.N.).

b) Ein sachlich-rechtlicher Mangel liegt allerdings dann vor, wenn der Bewährungsentscheidung ein im Gesetz nicht vorgesehener Maßstab zugrunde gelegt wird, die Anforderungen an eine günstige Täterprognose nach § 56 Abs. 1 StGB verkannt oder sich die Würdigung des Tatgerichts deshalb als unvollständig und damit als rechtsfehlerhaft erweist, weil sie nicht alle für die Prognoseentscheidung bedeutsamen Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen hat oder die Begründung der Strafaussetzung nicht nachprüfbar dargestellt ist.

c) Die Darlegungen des Landgerichts für seine Erwartung, der Angeklagte werde sich schon allein die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen (§ 56 Abs. 1 Satz 1 StGB), halten angesichts dieses Maßstabs einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

aa) Für eine günstige Legalprognose im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB kommt es auf die im Zeitpunkt der tatrichterlichen Verhandlung zu bejahende Erwartung künftiger straffreier Lebensführung an, wobei für diese Erwartung eine durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit sprechen muss. Hierzu hat der Tatrichter eine erschöpfende individuelle Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen, die Rückschlüsse auf das künftige Verhalten des Täters zulassen. Bei einem Angeklagten, der trotz bewilligter Strafaussetzung zur Bewährung erneut straffällig geworden ist, kann vor allem dann, wenn er zeitnah nach solchen Entscheidungen und während offener Bewährung weitere Straftaten begeht, in der Regel nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden, dass er sich anders als in der Vergangenheit verhalten wird (vgl. BGH, Urt. v. 17.05.1988 – 1 StR 138/88 = StV 1989, 15 = NStE Nr 22 zu § 56 StGB = BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 9; OLG Bamberg a.a.O.). Die Begehung von Straftaten während einer Bewährungszeit belegt vielmehr, dass die frühere Prognose falsch war, weshalb eine erneute günstige Prognose nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Gesichtspunkte infrage kommen kann (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6. Aufl. Rn. 212). Eine derartige Konstellation liegt hier vor, nachdem der Angeklagte in der Vergangenheit Bewährungszeiten nicht durchgestanden hat. Noch mehr gilt diese Einschätzung dann, wenn der Angeklagte – wie hier – mehrjährigen Freiheitsentzug erlitten hat und gleichwohl wieder straffällig wurde. Gegen den Angeklagten wurden bislang wegen schwerwiegender Straftaten 2 Jahre Jugendstrafe sowie insgesamt 3 Jahre und 6 Monate Freiheitsstrafen vollstreckt. Zwar ist in solchen Fällen eine erneute Bewährung nicht von vornherein ausgeschlossen (BGH, Urt. v. 22.07.2010 – 5 StR 204/10 = NStZ-RR 2010, 306; 10.11.2004 – 1 StR 339/04 = NStZ-RR 2005, 38; Beschl. vom 04.01.1991 – 5 StR 573/90 = BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 15; OLG Bamberg a.a.O.). Indes muss es sich bei den Umständen, die der Tatrichter zum Beleg seiner Erwartung einer straffreien Lebensführung des Angeklagten in Zukunft heranzieht, um solche handeln, die zeitlich der Tatbegehung nachfolgten. Lagen die Gesichtspunkte, die bei isolierter Betrachtung für eine günstige Legalprognose sprechen können, dagegen schon im Zeitpunkt der Verwirklichung der abzuurteilenden Taten vor, sind diese grundsätzlich nicht geeignet, die durch das frühere Bewährungsversagen und die Begehung der neuen Taten trotz langjährigen Strafvollzugs indizierte negative Kriminalprognose zu entkräften (OLG Bamberg a.a.O. mit zust. Anm. Peglau, jurisPR-StrafR 1/2017 Anm. 3). Zudem muss bei massiv vorbestraften Tätern, die sich – wie der Angeklagte – viele Jahre im Strafvollzug befunden haben, den neuen Gesichtspunkten besonderes Gewicht zukommen, um trotz dieser für die Prognose äußerst negativen Indizien die Erwartung künftiger Straffreiheit begründen zu können.

bb) Derartige nachträgliche Umstände, die trotz langjährigen Strafvollzugs und der Tatsache, dass der Angeklagte erneut vielfach und wegen einschlägiger Delikte trotz bestehender Führungsaufsicht rückfällig wurde, gleichwohl die Erwartung rechtfertigen könnten, dass er sich nunmehr die jetzige Verurteilung zur Warnung dienen lässt und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten begehen wird, zeigt das angefochtene Urteil indes nicht in rechtsfehlerfreier Weise auf.

(1) Soweit das Landgericht die Strafaussetzung zur Bewährung auf die „neue Arbeitsstelle“ stützt, die der Angeklagte als Gebäudereiniger innehat, stellt dies bereits keinen neuen Umstand im genannten Sinne dar. Denn ausweislich der Urteilsfeststellungen befand er sich nach der letzten Haftentlassung, die im April 2015 erfolgte, bis zum Herbst 2019, also auch zu den Zeitpunkten der Verwirklichung der zahlreichen Taten, die Gegenstand der Verurteilung sowie Grundlage der einbezogenen Strafen sind, ebenfalls in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis als Gebäudereiniger. Das Arbeitsverhältnis stellt damit keinen neuen Aspekt dar, der die Einschätzung zuließe, dass der Angeklagte sich hierdurch künftig von der Begehung neuer Straftaten abhalten ließe.

(2) Der Hinweis der Berufungskammer auf die nach Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten erfolgreich absolvierte „Suchttherapie“ könnte war durchaus ein nachträglich eingetretener Gesichtspunkt sein, der möglicherweise Rückschlüsse auf eine positive Legalprognose im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB zulässt. Indes sind die diesbezüglichen Feststellungen im Berufungsurteil unzulänglich. Aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt sich zwar noch hinreichend schlussfolgern, dass es sich um eine Drogenentzugstherapie handelte. Allerdings sind sowohl die Feststellungen als auch die diesbezügliche Beweiswürdigung zum Erfolg der Therapie unzulänglich. Das Berufungsurteil beschränkt sich auf die knappe Darlegung, die Therapie sei „regulär abgeschlossen“ und der Angeklagte lebe „seit gut einem Jahr drogenfrei“. Insoweit hätte sich geradezu aufgedrängt, nähere Feststellungen zur Entlassungssituation zu treffen, was etwa durch Beiziehung etwaiger Berichte der Therapieeinrichtung oder Vernehmung von Therapeuten ohne weiteres möglich gewesen wäre. Zudem bleibt im Dunkeln, aufgrund welcher Beweismittel sich die Berufungskammer davon überzeugt hat, dass der Angeklagte keine Betäubungsmittel mehr konsumiert. Überdies hat das Landgericht einen Kausalzusammenhang zwischen der früheren Drogenabhängigkeit und seiner bisherigen Delinquenz nicht in hinreichendem Maße herausgearbeitet. Sollten die in der Vergangenheit vom Angeklagten verwirklichten Straftaten zumindest teilweise in keinem Zusammenhang mit der von der Berufungskammer angenommenen Sucht gestanden haben, so müsste der Frage nachgegangen werden, inwiefern selbst eine erfolgreich absolvierte Drogenentzugstherapie überhaupt geeignet wäre, den Angeklagten von Straftaten künftig abzuhalten.“

Urteilgründe I: Bestellung von BtM im Darknet, oder: Anforderungen an die Beweiswürdigung

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Heute dann ein StPO-Tag mit der „Unterthematik“ „Anforderungen an die Urteilsgründe“.

Und ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 24.09.2021 – 202 StRR 100/21 – zu den Urteilsanforderungen an die Beweiswürdigung bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aufgrund einer Bestellung im Darknet.

Das LG hat den Angeklagten frei gesprochen, und dazu im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

„Der Angeklagte bewohnt gemeinsam mit seinem Vater eine Wohnung in der K.-Straße 3b in C. Die Wohnung befindet sich in einem Gebäudekomplex, der teilweise auch von einem Autohaus genutzt wird. Der Eingang zur Wohnung befindet sich auf der – von der Straßenseite abgewandten – Rückseite des Anwesens. Der zur Wohnung gehörende Briefkasten befindet sich nicht im Eingangsbereich zur Wohnung, sondern auf der der Straßenseite zugewandten Gebäudeseite. Der Zeuge H. betrieb im Darknet über eine Plattform unter den Namen ‚TS‘ und ‚E-Doc‘ einen umfangreichen Handel mit Betäubungsmitteln. Die Bestellungen liefen ohne persönlichen Kontakt ausschließlich über das Internet ab. In einer bei dem Zeugen H. aufgefundenen ‚Bestellliste‘ wurden der Name und die Anschrift des Angeklagten mit einem Vermerk, der auf eine Bestellung von 100 Gramm Haschisch der Sorte ‚VL‘ schließen lässt, aufgefunden. Zudem wurde von einem Gehilfen des Zeugen H. am 09.08.2018 ein Einwurfeinschreiben mit der Nummer RR876273981DE aufgegeben und am 10.08.2018 an eine nicht mehr feststellbare Ad-resse zugestellt. Auf dem Einlieferungsbeleg vom 09.08.2018 war zu dieser Sendungs-nummer handschriftlich der Nachname Angeklagten als Adressat vermerkt.“

Die Berufungskammer hatte „sich bei der gegebenen Beweislage nicht die Überzeugung verschaffen können, dass die Bestellung tatsächlich durch den Angeklagten erfolgt war, weil außer dem Umstand, dass der Name und die Adresse des Angeklagten bei der Bestellung angegeben worden waren, keine weiteren Anhaltspunkte dafür festgestellt werden konnten, dass die Bestellung durch den Angeklagten selbst erfolgte. Ebenso wenig wurde nach Auffassung der Berufungskammer nachgewiesen, dass die auf dem Einlieferungsbeleg mit dem Namen des Angeklagten versehene Sendung tatsächlich an diesen adressiert war und diesem auch zuging. Die von der Verteidigung vorgebrachte Möglichkeit, dass die Bestellung durch eine unbekannte dritte Person unter dem Namen des Angeklagten erfolgt sei und die Sendung von dieser aus dem Briefkasten entwendet worden sein konnte, könne nicht ausgeschlossen wer-den.

Das gefällt dem BayObLG so nicht. Es hat aufgehoben:

„Gemessen daran begegnet die Beweiswürdigung des Landgerichts trotz des beschränkten Prüfungsmaßstabs durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Berufungskammer hat über-spannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt und dabei eine Konstellation in ihre Überlegungen aufgenommen, für die es nicht nur keine Anhaltspunkte gibt, sondern die überdies bei näherer Betrachtung lebensfern ist.

a) Den Gründen des Berufungsurteils kann entnommen werden, dass nach Überzeugung der Berufungskammer unter dem Namen und der Anschrift des Angeklagten im Darknet beim Zeugen H. 100 g Haschisch bestellt wurden und das Betäubungsmittel nach Eingang des Kaufpreises von ca. 300 Euro mittels Bitcoin per Einwurfeinschreiben auch tatsächlich versandt wurde. Nach den Feststellungen des Berufungsurteils wurde die Sendung am 10.08.2019 auch zugestellt, wobei jedoch die Zustelladresse nicht ermittelt werden konnte. Unter Berücksichtigung dieser Beweisergebnisse und des Umstands, dass zusätzlich ein Einlieferungsbeleg, auf dem, wenn auch nur handschriftlich, der Familienname des Angeklagten vermerkt war, ergibt sich eine nahezu erdrückende Beweislage zulasten des Angeklagten, die durch Feststellungen der Berufungskammer, wonach der Angeklagte im August 2018 und Spätsommer 2019 „Kontakt mit Betäubungsmitteln“ gehabt habe, noch abgerundet wird.

b) Die Strafkammer hat trotz dieser starken Indizienlage Zweifel an der Täterschaft des Ange-klagten nicht zu überwinden vermocht, wobei diese auf nicht tragfähigen Überlegungen basieren.

aa) Dass sich die Berufungskammer nicht davon zu überzeugen vermochte, dass die nach den Urteilsfeststellungen tatsächlich zugestellte Sendung an die Adresse des Angeklagten geliefert wurde, weil auf dem Einlieferungsschein nur dessen Familienname handschriftlich vermerkt wurde, lässt bereits besorgen, dass die Strafkammer überspannte Anforderungen im Sinne einer absoluten Gewissheit zugrunde gelegt hat. Denn es bestehen bei der gebotenen, vom Tatrichter aber nicht hinreichend vorgenommenen Gesamtschau nicht die geringsten Anhalts-punkte dafür, dass die Lieferung an eine andere Adresse als diejenige, die auf den im Computer des Lieferanten gespeicherten Bestelllisten auftauchte, geliefert worden wäre. Der Umstand, dass auf dem Einlieferungsschein der Familienname des Angeklagten handschriftlich vermerkt wurde, stellt – entgegen der Annahme der Berufungskammer – bei der erforderlichen Gesamtwürdigung ein zusätzliches gewichtiges Indiz dafür dar, dass die Auslieferung an den Angeklagten und zwar an dessen Adresse, die bei der Bestellung angegeben worden war, übersandt wurde.

bb) Aber auch dafür, dass ein Dritter unter dem Namen des Angeklagten und unter Angabe von dessen Adresse die Bestellung vorgenommen hätte, ergeben sich nach den Beweisergebnissen nicht nur keine Anhaltspunkte. Vielmehr erscheint eine derartige Erwägung gleich-sam völlig aus der Luft gegriffen, sodass sie einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung nicht zugrunde gelegt werden durfte.

(1) Ein einzig greifbarer Anhaltspunkt, der in diesem Zusammenhang sich ergeben könnte, resultiert aus der Einlassung des Angeklagten, wonach ihn sein Bekannter H. einmal gefragt habe, ob er auf den Namen des Angeklagten „etwas bestellen könne“, wobei freilich bereits offen bleibt, wie der Angeklagte darauf reagiert hat. Die Berufungskammer hat diese Angaben des Angeklagten indes als widerlegt angesehen. Auch wenn das Landgericht richtigerweise konstatiert, dass aus einer erwiesenermaßen unzutreffenden Einlassung des Angeklagten allenfalls mit der gebotenen Vorsicht zwingend Schlüsse zu dessen Nachteil gezogen werden dürfen (vgl. hierzu zuletzt BayObLG, Beschl. v. 12.07.2021 – 202 StRR 76/21, bei juris m.w.N.), so ist jedenfalls diese Alternative nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ausgeschlossen.

(2) Unbeschadet der fehlenden Anhaltspunkte für die von der Berufungskammer erwogene Bestellung durch einen Dritten, hat der Tatrichter nicht in den Blick genommen, dass eine der-artige Sachverhaltskonstellation bei den konkreten Gesamtumständen äußerst lebensfern wäre. Zu berücksichtigen wäre in diesem Fall schon, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Versendung der Betäubungsmittel erst mit Zahlungseingang veranlasst wurde, der Käufer also Vorkasse leisten musste. Hätte eine dritte Person unter dem Namen des Ange-klagten und mittels dessen Adresse die Bestellung vorgenommen, hätte für diese ein nicht überschaubares Risiko bestanden, den Kaufpreis zu verlieren, ohne eine realistische Chance zu erhalten, an die bestellten Betäubungsmitteln zu gelangen. Sollte die Sendung an die Adresse des Angeklagten geschickt worden sein, wogegen – wie dargelegt – nach den bisherigen Feststellungen nichts spricht, hätte der Dritte in seine Planungen einbeziehen müssen, die Betäubungsmittel entweder vor der Auslieferung an den Angeklagten vorher abzufangen, wo-bei auch insoweit unklar bleibt, wie dies geschehen sollte, oder diese nach Auslieferung, aber vor Entleerung des Postkastens dort zu entnehmen, was letztlich eine mehrtägige Beobachtung der Postauslieferungen voraussetzen würde.“

Divers II: Parteiverrat (§ 356 StGB) des Rechtsanwalts, oder: Begriff der „derselben Rechtssache“

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Als zweite Entscheidung dann der BayObLG, Beschl. v. 06.08.2021 – 201 StRR 66/21 – zum Begriff der „derselben Rechtssache“ i.S.v. § 356 Abs. 1 StGB.

Das LG hat den Angeklagten frei gesprochen und hat dazu folgende Feststellungen getroffen:

„1. Die Ehefrau des Zeugen Z ist Eigentümerin eines Grundstücks in der Gemeinde B, die der Verwaltungsgemeinschaft N (künftig: VG) angehört. Zwischen ihrem Grundstück und dem benachbarten Grundstück des T verläuft ein ca. 80 cm breiter Fußweg (Pfad), der als öffentlicher Weg in das Bestandsverzeichnis für öffentliche Straßen der Gemeinde eingetragen war. Im Jahr 2015 hatte die Gemeinde das Grundstück, auf dem der Pfad verläuft, an T veräußert, ohne die Eheleute Z hiervon in Kenntnis zu setzen. Dabei war seitens der Gemeinde übersehen worden, den noch als öffentliche Verkehrsfläche gewidmeten Pfad einzuziehen.

Am 28.08.2017 richtete der Zeuge Z an den als Rechtsanwalt tätigen Angeklagten per E-Mail eine Anfrage in Bezug auf den genannten Weg. Er machte darin deutlich, dass er den Pfad weiterhin nutzen möchte und fragte an, ob es ein Gewohnheitsrecht oder eine sonstige Rechtsgrundlage gäbe, auf die er sich berufen könne. Er wies darauf hin, dass ihm an einem guten Verhältnis zum Nachbarn gelegen sei und der Angeklagte daher mit diesem keinen Kon-takt aufnehmen solle.

Der Angeklagte antwortete dem Zeugen Z mit E-Mail vom 30.08.2017 und forderte ihn auf, zunächst bei der VG nachzufragen, ob das Wegegrundstück vor dem Verkauf als öffentliche Wegfläche im Straßenverzeichnis eingetragen war bzw. noch eingetragen ist, und ließ eine anwaltliche Handakte „Z gegen T wegen Wegerecht, Mandant: Z, Gegner: T“ anlegen. Der Zeuge Z erfuhr bei seiner Nachfrage bei der VG, dass der Pfad noch als öffentliche Wegfläche im Straßenbestandsverzeichnis eingetragen und dies beim Verkauf des Grundstücks an den Nachbarn offensichtlich übersehen worden ist. Dieser Fehler müsse nach Auskunft der VG korrigiert und die Entwidmung des Pfades in die Wege geleitet werden. Dies teilte der Zeuge Z dem Angeklagten mit E-Mail vom 01.09.2017 mit und machte deutlich, dass gegen die beabsichtigte Entwidmung „Einspruch“ eingelegt werden müsse; sein Nachbar plane, auf dem Weggrundstück einen Fahnenmast zu errichten. Der Angeklagte antwortete mit E-Mail vom 04.09.2017 dahingehend, dass die VG veranlasst werden könne, Baumaßnahmen auf dem Pfad zu verhindern, solange dieser noch öffentlich gewidmet ist.

Der Zeuge Z hatte mit weiterer E-Mail vom 03.09.2017 dem Angeklagten den Entwurf eines Schreibens an den damaligen Geschäftsstellenleiter der VG beigefügt, in welchem er auf die Bedeutung der Nutzung des Pfades für die Eheleute Z hinwies und aufzeigte, welche Möglichkeiten für ihn in Betracht kämen, um den Pfad weiter nutzen zu können. Dabei sprach er auch an, dass im Fall einer Entwidmung die Eheleute Z eine Klage gegen die Gemeinde beabsichtigen. Nachdem der Zeuge Z auf seine E-Mail vom 03.09.2017 entgegen seiner Erwartung keine Antwort erhalten hatte, rief er den Angeklagten zwischen dem 04.09.2017 und dem 08.09.2017 in der Kanzlei an. Der Angeklagte, der sich zu diesem Zeitpunkt möglicherweise in einem Mandantengespräch befand und an einem raschen Ende des Gesprächs mit dem Zeugen Z interessiert war, gab die Auskunft, dass der Zeuge Z allenfalls gegen den Nachbarn vor-gehen könne und nicht gegen die Gemeinde, gegen die er keine Chancen habe.

Nachdem der Angeklagte bis zum 16.11.2017 (Wiedervorlagetermin) nichts mehr von dem Zeugen Z gehört hatte, fragte er bei diesem an, ob sich die Angelegenheit für ihn erledigt habe, was dieser mit E-Mail vom selben Tag bejahte. Mit Schreiben vom 17.11.2017 übersandte der Angeklagte daraufhin eine Rechnung in Höhe der Erstberatungsgebühr.

Der Gemeinderat von B fasste in der Sitzung vom 17.11.2017 – was dem Angeklagten bis dahin nicht bekannt war – den Beschluss, den genannten Pfad als öffentlichen Weg einzuziehen. Dies wurde im Amtsblatt der Gemeinde vom 02.03.2018 bekannt gemacht. Mit Schriftsatz ihrer anwaltlichen Vertreter vom 28.03.2018 erhob die Ehefrau des Zeugen Z Klage zum Verwaltungsgericht gegen die VG mit dem Antrag, die Einziehung des Weges aufzuheben. Mit E-Mail vom 25.07.2018 bat die nunmehrige Geschäftsstellenleiterin der VG den Angeklagten darum, die Gemeinde B in der genannten Verwaltungsstreitsache anwaltlich zu vertreten. Der Ange-klagte machte nach Durchsicht der Handakte in Sachen „Z gegen T“ mit E-Mail vom 26.07.2018 darauf aufmerksam, dass er den Ehemann der Klägerin beraten und darauf hin-gewiesen habe, dass die verkaufte Wegfläche noch öffentlich gewidmet sei und “wir für die Verwaltungsgemeinschaft tätig sind und keine Möglichkeit sehen, gegen eine Entwidmung des Weges vorzugehen“; der Zeuge Z habe das Mandat mit E-Mail vom 16.11.2017 beendet. Er sei zur Vertretung der Gemeinde bereit, es solle aber zunächst beim zuständigen Bürgermeister nachgefragt werden, ob dieser aufgrund der Vorberatung für Herrn Z eine Befangenheit bzw. Interessenkollision sehe. Nachdem dies seitens der Geschäftsstellenleiterin verneint worden war, hat der Angeklagte mit E-Mail vom 03.08.2018 die Übernahme des Mandats bestätigt.

Mit Schriftsatz vom 27.08.2018 wiesen die gegnerischen Anwälte den Angeklagten darauf hin, dass er bereits einmal für ihre Mandantschaft tätig gewesen sei und baten um Überprüfung. Mit Schreiben vom 27.08.2018 antwortete der Angeklagte u.a., dass sich die vorgerichtliche Beratung auf den Hinweis beschränkt habe, dass der Weg erst noch entwidmet werden müsse und dass dagegen dann vorgegangen werden könne. An dieser Stelle sei sodann die Beratung einvernehmlich beendet worden.

Nachdem der Angeklagte die VG zunächst in der Verwaltungsstreitsache gegen Frau Z wegen Einziehung eines Weges vor dem Verwaltungsgericht vertreten hatte, zeigte er am 27.02.2019 gegenüber dem Verwaltungsgericht die Niederlegung seines Mandates an.“

Das BayObLG sieht das anders und hat aufgehoben und zurückverwiesen. Hier die Leitsätze der Entscheidung:

 

  1. Ob das Tätigwerden eines Rechtsanwalts „dieselbe Rechtssache“ i.S.v. § 356 Abs. 1 StGB betrifft, hängt entscheidend vom sachlich-rechtlichen Inhalt der anvertrauten Angelegenheit ab. Dieselbe Rechtssache ist daher auch gegeben, wenn in Verfahren verschiedener Art und ver-schiedener Zielrichtung ein und derselbe Sachverhalt maßgeblicher Verfahrensgegenstand ist. Zwar hängt es vom Willen des Rechtsanwalts ab, wie weit er ein Mandat übernehmen will, nicht aber, wie weit sich der Streitstoff erstreckt. Denn die rechtlichen Beziehungen eines Lebenssachverhaltes bestehen unabhängig vom Parteiwillen.

  2. Für die Pflichtwidrigkeit i.S.v. § 356 Abs. 1 StGB kommt es auf die Identität des Verfahrens-stoffes und die Gegensätzlichkeit der sich aus diesem Verfahrensstoff ergebenden Interessen zu dem Zeitpunkt an, zu dem der Rechtsanwalt von der weiteren Partei beauftragt wird; uner-heblich ist, ob eine solche Entwicklung vorauszusehen war, solange das frühere Auftragsver-hältnis Bestand hatte. Die rechtliche Gebundenheit des Rechtsanwalts an seinen Auftraggeber dauert über die Beendigung des Auftrags hinaus fort.

  3. Vorsatz hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals „in derselben Sache“ erfordert, dass sich der Täter der Identität des materiellen Rechtsverhältnisses bewusst ist und in dem neuen Auftrag den alten Streitstoff wiedererkennt. Kennt er die Umstände nicht, aus denen sich der Begriff derselben Rechtssache ergibt, fehlt es am Vorsatz. Verkennt der Täter dagegen trotz Kenntnis der Sachlage die rechtliche Tragweite der Norm und irrt er über den gesetzlichen Begriff „derselben Rechtssache“, so unterliegt er einem Verbotsirrtum

OWi II: „Anordnung der Anhörung ohne Versand“, oder: Keine Verjährungsunterbrechung

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Jeder Verkehrsrechtler (und auch andere) weiß: Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG unterbricht im Bußgeldverfahren die Anordnung der Vernehmung des Betroffenen die Verjährung auch dann, wenn sie nicht erfolgreich vollzogen werden kann. Was ist aber, wenn eine Anordnung für eine Anhörung getroffen wird, die (zunächst) nicht durchgeführt werden soll?

Für den Fall wird die Verjährungsunterbrechung verneint. Das gilt nach Auffassung des BayObLG im BayObLG, Beschl. v. 30.09.21 – 201 ObOWi 1165/21,  auch, wenn die Anordnung einer Vernehmung den Zusatz „Anhörung angeordnet ohne Versand“ enthält, der polizeiliche Sachbearbeiter zeitgleich ein Lichtbild des Betroffenen bei der Verwaltungsbehörde des Wohnsitzes anfordert und erst nach dessen Eingang und Durchführung der Identifizierung des Betroffenen als Fahrzeugführer der Versand des schriftlichen Anhörungsbogens an diesen angeordnet wird.

Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den Volltext des Beschlusses. Und zu den Verjährungsfragen Gübner in: Burhoff (HRsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn. 3959 ff.). Ich meine ja nur 🙂 . Bestellen kann man das hier.

Strafzumessung II: Nachzahlung hinterzogener Steuer, oder: Auswirkung auf die Strafzumessung?

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Das zweite Posting zur Strafzumessung hat heute einen Beschluss des BayObLG zum Gegenstand. Das hat im BayObLG, Beschl. v. 20.07.2021 – 207 StRR 293/21 – zu den Anfordeurngen an die Urteilsgründe wegen Steuerhinterziehung Stellung genommen, wenn die hinterzogenen Steuern nachgezahlt worden sind. Dann muss den Gründen zu entnehmen sein, ob ein besonders gelagerter Ausnahmefall deshalb vorliegt, weil der Täter die Schadenswiedergutmachung unter erheblichen Anstrengungen und Belastungen erbracht hat der, und somit ggf. die Anwendung von § 46a StGB gerechtfertigt ist:

„Hinsichtlich der in der Berufungsinstanz daher allein noch der Überprüfung zugänglichen Strafzumessung leidet das Urteil an einem Darstellungsmangel und kann daher keinen Bestand haben.

Das Landgericht geht vom Regelstrafrahmen nach § 370 Abs. 1 AO aus, ohne sich mit der Frage einer Strafrahmenverschiebung in den Urteilsgründen auseinanderzusetzen. Dies war im vorliegenden Fall jedoch geboten.

Nach den Feststellungen im Berufungsurteil hat der Angeklagte „vollständig und zeitnah“ Schadenswiedergutmachung geleistet und hierfür einen noch nicht zurückgeführten Bankkredit aufgenommen. Zwar rechtfertigt das Nachzahlen der hinterzogenen Steuer für sich genommen die Anwendung des § 46a StGB nicht. Vielmehr kommt eine Anwendung des § 46a StGB in Fällen der Steuerhinterziehung nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht, die dadurch geprägt sind, dass der Täter die Schadenswiedergutmachung unter erheblichen Anstrengungen und Belastungen erbracht hat (vgl. BGH, Urteil v. 13. März 2019, 1 StR 367/18, NStZ 2019, 601 f.; Juris Rn. 30, 31 m. w. N.). Ob eine solche Konstellation im vorliegenden Fall vorliegt oder nicht, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Die Urteilsfeststellungen des Landgerichts lassen eine solche Konstellation jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheinen, zumal auch Feststellungen zum insgesamt vom Angeklagten aufzubringenden Betrag, der nicht mit dem Steuerschadensbetrag identisch sein muss, nicht getroffen wurden.

Der Senat kann auch ein Beruhen des Urteils auf der Nichtberücksichtigung des § 46a StGB nicht ausschließen. Zwar wirkt sich die Strafrahmenverschiebung im vorliegenden Fall nur bei der nicht im Raum stehenden Höchststrafe aus, da § 370 Abs. 1 AO von vornherein keine erhöhte Mindeststrafe vorsieht. Die vom Landgericht verhängte Strafe bewegt sich aber ersichtlich nicht am unteren Rand des Strafrahmens und hält insbesondere einem Vergleich mit der dem Senat bekannten Strafzumessungspraxis bei Vergehen der „klassischen Einkommenssteuerhinterziehung“ nicht stand. Das Landgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass die von ihm für angemessen erachtete Strafe für den Angeklagten die Gefahr des Arbeitsplatzverlustes mit sich bringt. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Landgericht im Falle der Bejahung der Voraussetzungen des § 46a StGB auf eine mildere Strafe erkannt hätte.“