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Zwang I: Invollzugsetzung eines BtM-Haftbefehls, oder: Verletzung des Beschleunigungsgebots

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Und dann gibt es heute StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zwangsmaßnahmen zu tun.

Den Opener mache ich mit dem OLG Naumburg, Beschl. v. 22.01.2025 – 1 Ws 11/25 – zur Invollzugsetzung eines Haftbefehls.

Gegen die Angeklagten ist ein Verfahrens wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen im Tatzeitraum vom 29. März 2020 bis zum 1. Juni 2020 anhängig. In dem waren Haftbefehle jeweils wegen Fluchtgefahr ergangen. Die Angeklagten befanden sich seit dem 25.01.2022 in Untersuchungshaft. Das OLG hat denn Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von 6 Monaten hinaus angeordnet. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat das LG zunächst die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Die Hauptverhandlung begann am 17.10.2022. Am 25.01.2024, dem 49. Verhandlungstag, setzte das LG das Verfahren aufgrund einer längerfristigen Erkrankung einer beisitzenden Richterin aus. Ferner setzte es mit Beschlüssen vom selben Tag den Vollzug der Haftbefehle gegen die Anordnung von Meldeauflagen außer Vollzug. Die Angeklagten wurden am selben Tag aus Untersuchungshaft entlassen.

Seit dem 11. September 2024 befinden sich die Angeklagten in anderer Sache in Untersuchungshaft, ebenfalls wegen des bandenmäßigen Handeltreibens mit 18 kg Cannabis in nicht geringer Menge in drei Fällen in dem Tatzeitraum vom 31. Juli 2024 bis zum 27. August 2024. Die Haftbefehle sind auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 StPO gestützt worden.

Das LG hat mit Beschluss vom 21.11.2024 den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle des AG  abgelehnt. Dagegen die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte. Das OLG bejaht die allgemeinen Voraussetzungen der U-Haft und führt dann aus:

„b) Ferner besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Diese ergibt sich daraus, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 wenige Monate nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache erneut in drei Fällen mit Cannabis in nicht geringen Mengen, nämlich mit 18 kg, Handel getrieben haben, um sich hierdurch eine laufende Einnahmequelle zu verschaffen (Verbrechen strafbar gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG, 53 StGB).

Diese erneute Straffälligkeit begründet die Gefahr, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 vor der rechtskräftigen Aburteilung im hier in Rede stehenden Verfahren weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werden. Aufgrund der großen Verkaufsmengen, die bereits Gegenstand des hiesigen Verfahrens sind, besteht durch die Wiederholungsgefahr die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung. Die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 haben nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache bereits wenige Monate später angefangen, erneut mit Cannabis Handel zu treiben. Dadurch haben sie deutlich gemacht, dass sie trotz der langen Untersuchungshaft nicht gewillt sind, auf Einkünfte aus dem Handel mit Betäubungsmitteln zu verzichten.

Durch den illegalen Handel mit Cannabis werden aber hochrangige Rechtsgüter bedroht, denn Ziel des KCanG ist es insbesondere, den Gesundheits- und Jugendschutz zu gewährleisten, indem bestimmte Gruppen nicht legal Cannabis besitzen dürfen und die Konsumenten nur auf Eigenanbau, sei er privat oder durch Anbauvereinigungen, zurückgreifen sollen. Durch den Handel mit Cannabis im Kilogrammbereich – wie vorliegend 18 kg – wird dies jedoch umgangen. Demnach besteht durch Handlungen wie die, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, durch zu hohe Wirkstoffgehälter, Verunreinigungen und synthetische Cannabinoide ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für Cannabiskonsumenten (vgl. auch Bt-Drucks 20/8704 A).

c) Der nunmehrigen Annahme der Wiederholungsgefahr steht auch nicht die Subsidiaritätsklausel gemäß § 112a Abs. 2 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift findet § 112 a Abs. 1 StPO keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die Aussetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs.1, 2 StPO nicht gegeben sind. Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO können aber die Wiederholungsgefahr nur ausschließen, wenn der auf sie gestützte Haftbefehl vollzogen wird. Ist, wie vorliegend, der Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 1, 2 StPO mit Auflagen ausgesetzt worden, und, wie vorliegend, die Wiederinvollzugsetzung wegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr aus den im angefochtenen Beschluss dargelegten Gründen unverhältnismäßig, ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr relevant (vgl. auch Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 457/10, Beschluss vom 29. November 2010; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 112a Rn. 17).

2. Wie die Staatsanwaltschaft Halle und die Generalstaatsanwaltschaft geht auch der Senat im Ausgangspunkt davon aus, dass die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle zur Abwendung der aus der Wiederholungsgefahr folgenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung grundsätzlich erforderlich und geboten ist.

Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Wiederinvollzugsetzung kann vorliegend allerdings schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht erfolgen, da das Verfahren in deutlicher Weise nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil in anderer Sache z.B. Strafhaft oder Untersuchungshaft vollstreckt wird und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren voranzutreiben und es so schnell wie möglich abzuschließen (KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 5 Ws 569/09; OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2009, 3 Ws 219/09; KG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2019, 116 HEs 11/19 (4/19); zitiert nach juris).

Vorliegend ist bei der gebotenen Abwägung zu bedenken, dass die Verfahrensverzögerungen im vorliegenden Fall erheblich waren.

Nach der Außervollzugsetzung der Haftbefehle mit Beschluss vom 25. Januar 2024 ist das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden bzw. nicht sachlich gefördert worden. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer vom 30. Dezember 2024 ergibt sich dies eindrücklich. Nach der Aussetzung der Hauptverhandlung am 24. Januar 2024 hat es der Vorsitzende über Monate hinweg versäumt, mit den Verteidigern neue Termine zur Hauptverhandlung abzustimmen und eine neue Terminierung vorzunehmen. Dies hätte aber unmittelbar nach der im Januar 2024 erfolgten Aussetzung des Verfahrens erfolgen können und müssen.

In der gesamten ersten Jahreshälfte 2024 sind ausweislich des hier maßgeblichen Bandes XXI zur Förderung des Verfahrens und zur Neuterminierung keinerlei Aktivitäten seitens des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer entfaltet. Die Akten enthalten hier lediglich Kommunikation im Zusammenhang mit den Meldeauflagen der Außervollzugsetzungsbeschlüsse.

Mit Verfügung vom 9. Juli 2024 bat der Vorsitzende die Verteidiger um die Nennung von freien Nachmittagen für den Monat September 2024, da ein „Erörterungstermin“ geplant sei. Am 24. September 2024 fand ein Erörterungstermin statt, in dessen Ergebnis eine Verständigung gemäß § 257c StPO wohl nicht zu erwarten war. Auch danach entfaltete der Vorsitzende indes keinerlei Aktivitäten, dem Verfahren Fortgang zu geben.

Mit Verfügung vom 24. September 2024 beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2. Auch danach finden sich in den Akten keinerlei Hinweise, auf die Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung. Zudem entschied die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle über diesen Antrag erst mit Beschluss vom 21. November 2024. Nicht nachvollzogen kann auch, dass nach dem Eingang der Beschwerde bis zur Nichtabhilfeentscheidung nochmals 3 Wochen vergangen waren. Letztlich vergingen zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft bis zur Weiterleitung der Akten im Beschwerdeverfahren 3 Monate. Im gesamten Zeitraum finden sich auch nicht im Ansatz Hinweise im Hinblick auf die Vorbereitung der neu durchzuführenden Hauptverhandlung.

Die gänzlich fehlende Verfahrensförderung im Zeitraum zwischen Ende Januar 2024 bis heute und die Nichtanberaumung von Hauptverhandlungsterminen stellt einen so schwerwiegenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass dieser zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führt und einer Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 entgegensteht.

Dabei kann dahinstehen, ob für den gesamten Zeitraum eine derartige Überlastung der 3. großen Strafkammer bestand, dass die Durchführung der Hauptverhandlung in vorliegender Sache nicht möglich war, wobei die Hinweise des Vorsitzenden in seinem Vermerk vom 30. Dezember 2024 hierzu allerdings nur vage formuliert sind. Die Überlastung der Gerichte fällt nämlich – anders als unvorhergesehene Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, 2 BvR 1373/05; zitiert nach juris).

Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift daraufhin, dass auch bei vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen durchaus eine erneute Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft, insbesondere bei hinzutretender Wiederholungsgefahr, verhältnismäßig sein kann. Solche besonderen Umstände, wie in den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Zweibrücken und des Oberlandesgerichts Jena dargelegt, sind vorliegend aber nicht gegeben. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Haftbefehl wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufgehoben worden war und nach Durchführung der Hauptverhandlung ein neuer Haftbefehl erlassen worden war. Das Oberlandesgericht Jena erachtete die Haftfortdauer wegen Wiederholungsgefahr trotz schwerwiegender Verfahrensverzögerungen für rechtmäßig, nachdem die Hauptverhandlung noch innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen konnte. Den genannten Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus § 120 Abs. 1 StPO für Haftbefehle, die auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt sind, nicht gilt. Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit einerseits und dem Bedürfnis, eine wirksame Straf-verfolgung durchzuführen, ist zwar der Schutz der Allgemeinheit vor neuerlichen Straftaten zu bedenken, dieser Aspekt lässt aber das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot nicht entfallen. Selbst bei schwersten Tatvorwürfen kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots die Aufhebung des Haftbefehls erfordern (BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 2 BvR 1742/06; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 47. Auflage, § 120 Rn. 3c m. w. N.). Vorliegend ist im Rahmen der Gesamtabwägung zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (BVerfG, a. a. O.). Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Nach diesen Grundsätzen ist eine Analyse des konkreten Verfahrensablaufs vorzunehmen, wobei die Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012, 3 Ws 37/12 m. w. N.; zitiert nach juris).

Der Senat lässt ausdrücklich dahinstehen, ob die vom 17. Oktober 2022 bis zum 22. Januar 2024 an 48 Verhandlungstagen durchgeführte Hauptverhandlung mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden ist; durchschnittlich 3 Hauptverhandlungstage pro Monat könnten allerdings dagegensprechen. Gegen die Beachtung des Beschleunigungsgebots könnte auch sprechen, dass die 3. große Strafkammer ihr Beweisprogramm seit Herbst 2023 grundsätzlich abgeschlossen hatte. Der letzte Zeuge, war bereits am 40. Verhandlungstag, dem 27. September 2023, vernommen worden.

Eine nicht hinzunehmende Untätigkeit im Hinblick auf die Organisation einer neuen Hauptverhandlung nach der am 25. Januar 2024 erfolgten Mitteilung über die Erkrankung einer beteiligten Richterin über das gesamte Jahr 2024 hinweg ist jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt hinnehmbar.

Der Senat verkennt nicht, dass die Straferwartung für die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 erheblich sein dürfte. Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Geständnisses der Angeklagten eine Freiheitsstrafe in Höhe von circa 7 Jahren in Aussicht gestellt hat, zeigt dies. Bei einer Prognose zu der Strafzumessung dürfte derzeit von erheblicher Bedeutung sein, dass die Angeklagten dringend tatverdächtig sind, schon kurze Zeit nach der Haftentlassung erneut drei einschlägige Straftaten begangen zu haben. Die Straferwartung führt aber, wie ausgeführt, nicht dazu, das Beschleunigungsgebot entfallen zu lassen.“

StPO II: Nebenklageanschluss des Minderjährigen, oder: Bestellung eines Ergänzungspflegers

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Und dann der OLG Bamberg, Beschl. v. 20.11.2024 – 2 WF 121/24 e. Am Aktenzeichen erkennt man, dass die Entscheidung nicht unmittelbar mit der StPO zu tun hat, aber sie hat strafverfahrensrechtliche Bezüge. Es geht nämlich um den Nebenklageanschluss eines  minderjährigen Kindes im Strafverfahren und dabei um die Frage, ob und wann ggf. ein Ergänzungspfleger zu bestellen ist.

Gegenstand des Verfahrens ist die Vertretungsbefugnis der Kindsmutter für die Entscheidung des 14-jährigen Kindes K, ob es sich dem gegen seinen Vater geführten Strafverfahren als Nebenklägerin anschließt. Der Kind ist das gemeinsame Kind der Beteiligten M und V, denen die elterliche Sorge für das Kind ursprünglich vollumfänglich gemeinsam zustand.

Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen den Kindsvater wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil des Kindes erhoben. Dem Verfahren liegt ein Tatvorwurf aus dem Zeitraum 2021 bis 2022 zugrunde. Mit Urteil des AG ist der Kindsvater erstinstanzlich freigesprochen worden. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, nachdem die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil eingelegt hat.

Der Kind hatte vertreten durch die Kindsmutter im Rahmen des erstinstanzlichen Strafverfahrens gegen den Vater erklärt, sich dem Verfahren als Nebenklägerin anzuschließen und beantragt, die Nebenklage zuzulassen. Am Tag der Urteilsverkündung hat das AG den Antrag zurückgewiesen, da es bei fortbestehender gemeinsamer elterlicher Sorge an der erforderlichen Zustimmung des Kindsvaters zur Nebenklage fehlte.

Daraufhin hat die Kindsmutter im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt, dem Kindsvater die elterliche Sorge für ein Nebenklageverfahren des Kindes K gegen ihn zu entziehen und insoweit auf die Kindsmutter zu übertragen. Hilfsweise hat sie beantragt, beiden Eltern die elterliche Sorge für das mögliche Nebenklageverfahren teilweise zu entziehen und insoweit einen Verfahrenspfleger zu bestellen. Das Amtsgericht hat für das Kind K Ergänzungspflegschaft für den Aufgabenkreis der Prüfung des Anschlusses als Nebenklägerin im Strafverfahren gegen den Vater und gegebenenfalls zur Vertretung der Nebenklage im Strafverfahren angeordnet. Als Ergänzungspfleger hat es das Jugendamt bestimmt. Dagegen wendet sich die Kindesmutter mit ihrer Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„1. Maßgeblich für die partielle Errichtung der Pflegschaft ist die Frage, ob ein erheblicher Interessengegensatz tatsächlich besteht oder zumindest ernsthaft droht, §§ 1809 Abs. 1, 1789 Abs. 2 Satz 4 BGB (vgl. grundlegend Senat, Beschluss v. 16.03.2020, Az. 2 UF 27/20). Dabei ist die Interessenkollision für jeden Elternteil einzeln zu prüfen (vgl. Müko/BGB-Schnelder, 9. Aufl., § 1809 Rn. 33 m.w.N.). Vorliegend ist bezogen auf den konkreten Einzelfall ein derartiger Gegensatz auch hinsichtlich der Interessen der Kindsmutter und des Kindes gegeben.

a) Es ist unter anderem aufgrund der Feststellungen der Verfahrensbeiständin davon auszugehen, dass K einerseits weiterhin Umgangskontakte mit ihrem Vater haben möchte, andererseits aber wünscht, Angaben in einer eventuellen Berufungsverhandlung zu machen. Ein eigener Wille von K bezüglich des Anschlusses als Nebenklägerin ist bisher nicht festgestellt worden. Bei dem formalen Anschluss an die Anklage mit den hiermit verbundenen strafprozessualen Rechten (u.a. Anwesenheit in der Hauptverhandlung, Fragerecht, Plädoyer) handelt sich um eine Frage von durchaus erheblicher Bedeutung für die Vater-Kind-Beziehung.

b) Ausweislich der Akte des Umgangsverfahrens pp. F pp. /22 (AG pp. ) gründet das Strafverfahren gegen den Vater maßgeblich auf Angaben der Mutter, die über einen längeren Zeitraum Aussagen der Kinder zu möglichen Handlungen des sexuellen Missbrauchs durch den Vater erfragt und teilweise heimlich mitgeschnitten hat. Nach den Angaben des Zeugen KHK Z im Strafverfahren (Bl. pp. , pp. /22 jug) hat sich die Kindsmutter mit umfangreichen Erklärungen im Ermittlungsverfahren gegen den Kindsvater eingebracht, die sie anhand von über einen jahrelangen Zeitraum gefertigten Notizen in abendlichen Gesprächen mit den Kindern aufgenommenen Audiodateien belegte. Nach eigenen Angaben ist die Mutter der Überzeugung, dass ein sexueller Missbrauch durch den Vater stattgefunden hat. Mit Schreiben vom 13.06.2024 (Bl. pp. , pp. /22 jug) hat die Kindsmutter im Strafverfahren umfangreich Gründe dargelegt, aus denen das Freispruchurteil fehlerhaft und Berufung einzulegen sei. Ferner hat sie mit Schreiben vom 06.08.2024 (Bl. pp. , pp. /22 jug) ihr Einverständnis mit einer Begutachtung des Kindes K im Berufungsverfahren erklärt trotz eines vorangegangenen Hinweises der Staatsanwaltschaft pp. auf die hiermit verbundene erhebliche Belastung des Kindes.

c) Es besteht aufgrund dessen die begründete Besorgnis, dass die Kindsmutter bei der Entscheidung über den Anschluss des Kindes als Nebenklägerin und bei der möglichen Vertretung des Kindes im Strafverfahren auch und vor allem das eigene Aufklärungs- und Verurteilungsinteresse berücksichtigen würde und nicht die allein maßgebliche Frage, ob die Stellung als Nebenklägerin neben einer bestehenden Zeugenstellung dem Wohl des Kindes entspricht.

d) Ergänzend ist ferner zu berücksichtigen, dass strafprozessual in Fällen des § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO hinsichtlich des Zeugnisverweigerungsrechts eines Kindes ein zwingender Fall der Ergänzungspflegschaft auch für den nicht beschuldigten Elternteil besteht. Insoweit besteht eine gesetzliche Vermutung für die Gefahr, dass der nicht beschuldigte Elternteil nicht neutral allein im Interesse des Kindes entscheiden würde, sondern bewusst entweder zugunsten oder zuungunsten des angeklagten Elternteils. Die Interessenlage ist insoweit vorliegend bei der Wahrnehmung der Rechte der Nebenklage des Kindes durchaus vergleichbar.

f) Der Senat erachtet zudem auch die Bedenken der Verfahrensbeiständin im Hinblick auf einen möglichen Loyalitätskonflikt des Kindes für beachtlich, wenn dieses versucht, einerseits den Erwartungen der Mutter hinsichtlich der Beteiligung im Strafverfahren gerecht zu werden, andererseits durch das eigene Verhalten maßgeblich am Ergebnis des gegen den Vater geführten Verfahrens beteiligt ist. Hier kann die Einschaltung eines neutralen Ergänzungspflegers eine Entlastung schaffen. Die Verfahrensbeiständin hat aus diesem Grund nachvollziehbar ebenfalls eine Ergänzungspflegschaft als sachgerecht erachtet.

Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht auch der Kindsmutter die Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Durchführung der Nebenklage entzogen und insoweit Ergänzungspflegschaft angeordnet hat.

OWi II: Alte „Sitzungsrolle“ am Saal als Aushang, oder: Kenntnis des Verteidigers schadet nicht

entnommen wikimedia.org
Urhber: Hichhich – Eigenes Werk

Im zweiten Posting dann etwas Verfahrensrechtliches, und zwar der OLG Koblenz, Beschl. v. 10.05.2024 – 1 ORbs 31 SsBs 12/24 – zur Verletzung der Öffentlichkeit. Ergangen ist der Beschluss in einem Bußgeldverfahren, die Ausführungen des OLG haben aber auch Bedeutung in Strafverfahren.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, u.a. mit der Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit. Die hat Erfolg. Das OLG hat das AG-Urteil aufgehoben:

„Die Verfahrensrüge, mit welcher der Betroffene einen Verstoß gegen den Grundsatz der
Öffentlichkeit gemäß §§ 169 Abs. 1 GVG, 338 Nr. 6 StPO i. V. m. §§ 71 Abs. 1, 46 Abs. 1 OWiG rügt, ist zulässig erhoben und führt in vorliegender Konstellation auch in der Sache zum Erfolg.

1. Die Rüge ist zulässig erhoben. Die Generalstaatsanwaltschaft führt in ihrem Votum vom 2. April 2024 hierzu wie folgt aus:

„Gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO müssen die den geltend gemachten Verfahrensfehler begründenden Tatsachen so genau und vollständig mit-geteilt werden, dass dem Rechtsbeschwerdegericht allein anhand der Begründungsschrift und ohne Rückgriff auf den Akteninhalt die Prüfung ermöglicht wird, ob ein Verfahrensfehler, auf dem das Urteil beruhen kann, vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (OLG Koblenz, Beschluss vom 09.06.2006 – 1 Ss 161/06; Be-schluss vom 25.06.2012 – 1 SsRs 47/12; Beschluss vom 24.07.2012 – 1 SsRs 63/12).

Zur Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit, der auch im Bußgeld-verfahren gilt (OLG Schleswig, Beschluss vom 31.03.2022 — II OLG 15/22, BeckRS 2022, 14674 m.w.N.), gehört dazu die Angabe, der tatsächlichen konkreten Umstände, aus denen sich ergibt, dass das Gericht die Öffentlichkeit beschränkt hat (BGH, Beschluss vom 10.01.2006 1 StR 527/05, NJW 2006, 1220, 1221 f.) und warum es den Verfahrensverstoß zu vertreten hat (BGH, Beschluss vom 28.09.2011 – 5 StR 245/11, NStZ 2012, 173, 174 m.w.N.). Hingegen muss nicht dargelegt werden, dass sich tatsächlich jemand von der Teilnahme an der Verhandlung hat abhalten lassen (OLG Schleswig a. a. O.).

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung gerecht.

Dass der Verteidiger des Betroffenen aufgrund des von ihm vor der Hauptverhandlung wahrgenommenen Fehlen des Aushangs um die Möglichkeit einer Verletzung der Öffentlichkeit wusste, führt nicht zum Verlust der Rüge. Denn diese könnte selbst dann zulässig erhoben werden, wenn er selbst den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt hätte (BGH, 1 ORbs 31 SsBs 12/24 Beschluss vom 31.01.1967 – 5 StR 650/66, NJW 1967, 687).“

Dem tritt der Einzelrichter des Senats nach eigener Prüfung bei.

2. In der Sache ist die Verfahrensrüge begründet. Dadurch, dass – soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren feststellbar – letztlich keinerlei Aushang auf die im hiesigen Verfahren sattgehabte Sitzung am 26. Oktober 2023 hinwies, war der Öffentlichkeitsgrundsatz in unzulässiger Weise beschränkt und zwingt zur Aufhebung des ergangenen Urteils.

a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit aus § 169 Abs. 1 GVG soll die Kontrolle der Rechtspflege durch die Allgemeinheit ermöglichen und zählt zu den wesentlichen rechtsstaatlichen Strukturprinzipien des Strafprozesses. Er verlangt, dass jedermann ohne Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit erhalten muss, an den Verhandlungen des Gerichts als Zuschauer teilzunehmen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2023 – 1 StR 20/06, Rn. 10; Urteil vom 6. Oktober 1976 – 3 StR 291/76 – alle Fundstellen, soweit nicht anders gekennzeichnet, zitiert nach juris). Dies umfasst auch über ausreichende Informationen über Ort und Zeit einer Gerichtsverhandlung zu verfügen. Ausreichend hierfür ist, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten hiervon Kenntnis zu verschaffen und dass der Zutritt im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten eröffnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 1966 – 4 StR 72/66). Regelmäßig genügt wird dem Informationsbedürfnis durch einen entsprechenden Aushang („Terminsrolle“) am Sitzungssaal oder an anderer (zentraler) Stelle im Gerichtsgebäude (vgl. KG, Urteil vom 12. Dezember 2022 – (3) 121 Ss165/22). Daran fehlt es hier.

Wie die Rechtsbeschwerde durch Vorlage entsprechen der Lichtbilder und anwaltlich versichert vorträgt, war zur hiesigen Terminsstunde noch eine Sitzungsrolle vom Vormittag angebracht, die über öffentliche Verhandlungen der Zivilabteilung in Sitzungssaal 107 informierte. Ein Aushang für die Hauptverhandlung im Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen den Betroffenen unmittelbar an der Tür in den Sitzungssaal fehlt indes. Ein entsprechender Aushang befand sich auch nicht an anderer (zentraler) Stelle des Amtsgerichts, etwa im Eingangsbereich. Für eine interessierte Öffentlichkeit war damit nicht erkennbar, dass über-haupt eine Sitzung und dass konkret in dem Verfahren gegen den Betroffen die Hauptverhandlung in Sitzungssaal 107 stattfand. Für eine Nachfrage bei der Wachtmeisterei hinsichtlich einer Verlegung der Hauptverhandlung gegen den Betroffenen in einen anderen Sitzungssaal bestand angesichts dieses Aushangs keine Veranlassung; es konnte vielmehr davon ausgegangen werden, dass in Sitzungssaal 107 überhaupt keine Verhandlung am Nachmittag des 26. Oktober 2023 stattfindet.

b) Dieser Verstoß ist dem Gericht auch zuzurechnen. Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Votum vom 2. April 2024 aus:

„Zwar hat die Vorsitzende ausweislich ihrer dienstlichen Stellungnahme vom 15.02.2024 grundsätzliche die Sichtbarkeit und Richtigkeit des Aushangs vor dem Sitzungssaal an jedem Verhandlungstag überprüft und bei Fehlen eines Aushangs die zuständige Geschäftsstelle telefonisch über das Fehlen informiert, die diesen dann angebracht habe. Seit Übernahme des Ordnungswidrigkeitendezernats am 04.10.2023 erinnere sie sich konkret an zwei Fälle, in denen der Sitzungsaushang gefehlt habe. Ob dies am hier gegenständlichen Verhandlungstag der Fall gewesen sei, wisse sie aber nicht mehr.

Die dienstlichen Stellungnahmen der Geschäftsstellen erweisen sich insoweit ebenfalls als unergiebig, da diese ebenfalls keine konkrete Erinnerung an den konkreten Verhandlungstag mehr haben.

Danach aber kann – da die dienstliche Stellungnahme der Vorsitzenden dies nicht näher eingrenzt – nicht ausgeschlossen werden, dass der Vorsitzenden bereits innerhalb des kurzen Zeitraums von wenigen Wochen, innerhalb dessen sie für Ordnungswidrigkeitenverfahren zuständig war bis zur Hauptverhandlung in der Sache, das Fehlen des notwendigen Aushangs bereits aufgefallen war und sie die Geschäftsstelle angewiesen hatte, diesen noch anzubringen. Mithin bestand für sie ein konkreter Anlass das Vorhandensein eines aktuellen Aushangs am Verhandlungstag zu überprüfen, was hier indes offenbar unterblieben ist.

Nichts Anderes dürfte gelten, wenn die Vorsitzende – wozu sich die dienstliche Stellungnahme ebenfalls nicht verhält – den Aushang vom Vortag irrtümlich nicht als solchen wahrgenommen, sondern als Aushang für den aktuellen Sitzungstag angesehen hätte. Denn auch in diesem Falle wäre sie ihrer Sorgfaltspflicht zur Wahrung der Öffentlichkeit nicht hinreichend nachgekommen.“

Diesen Erwägungen tritt der Einzelrichter des Senats bei. Für die Vorsitzende hätte aufgrund des vorherigen, zweimaligen Fehlens des Sitzungsaushangs innerhalb weniger Wochen Veranlassung bestanden, die Richtigkeit des Sitzungsaushangs zu überprüfen, zumal sie (unwidersprochen) den Sitzungssaal durch die Zuschauertür betreten hatte, mithin an dem unzutreffenden Aushang vorbeigegangen war, und sie den Saal am Nachmittag des 26. Oktober 2023 im Anschluss an vorausgegangene Termine (hier der Zivilabteilung) nutzte.

Da es sich bei dem Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit um einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund handelt (§ 338 Nr. 6 StPO i. V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG), vermutet das Gesetz unwiderleglich, dass das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht. Auf die entsprechende Rüge hin war das Urteil daher aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Alzey zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).“

Also Augen auf. Und: Man muss ja nicht alles erzählen/kund tun, was man dann entdeckt 🙂

StPO II: Bewertung einer Verteidigererklärung, oder: Genauer Wortlaut nur bei Verlesung maßgeblich

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Im zweiten Posting dann der umfangreiche BGH, Beschl. v. 24.10.2024 – 4 StR 249/24. Aus dem interessieren heute hier aber nur die Ausführungen zur Bewertung einer sog. Verteidigererklärung. Der Angeklagte wollte aus der in Form einer Verteidigererklärung angegebenen Einlassung eines Mitangeklagten andere Schlüsse gezogen haben, als vom LG gezogen worden sind. Dazu führt der BGH aus:

„1. Der Inbegriffsrüge (§ 261 StPO), mit der der Beschwerdeführer eine inhaltlich unrichtige Berücksichtigung der Einlassung des nichtrevidierenden Angeklagten K. im Fall II. 22 der Urteilsgründe beanstandet, bleibt der Erfolg versagt.

Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Der Angeklagte K. hat sich in der Hauptverhandlung – ausweislich der Urteilsgründe „abschließend“ – über eine Verteidigererklärung zur Sache eingelassen. Die von seinem Verteidiger hierzu schriftlich abgefasste, mündlich vorgetragene und anschließend vom Angeklagten gebilligte Erklärung wurde im Nachgang zum Hauptverhandlungsprotokoll genommen.

a) § 261 StPO gebietet, bei der Urteilsfindung den gesamten entscheidungserheblichen Beweisstoff, der in der Hauptverhandlung gewonnen wurde, zu berücksichtigen. Das ist vorliegend geschehen. Die Strafkammer hat die Einlassung des Angeklagten K. zur Grundlage ihrer getroffenen Feststellungen gemacht und sich mit ihr eingehend in den Urteilsgründen befasst. Einer hiervon abweichenden Beweiswürdigung steht der Bewertungsvorrang des Tatgerichts entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2018 – 5 StR 90/18).

b) Soweit der Beschwerdeführer hingegen andere mögliche Schlüsse aus der Verteidigererklärung ziehen will als das Tatgericht, bleibt seine Beschwerde erfolglos (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 – 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 21 f.; MüKo-StPO/Bartel, 2. Aufl., § 261 Rn. 436). An einer am Wortlaut der Verteidigererklärung ausgerichteten Richtigkeitskontrolle sieht sich der Senat wegen des Verbots der Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren gehindert. Der genaue Wortlaut wäre nur im Falle der förmlichen Verlesung der Erklärung im Wege des Urkundenbeweises Maßstab der Überprüfung der Beweiswürdigung gewesen (vgl. BGH, Beschluss vom 30. August 2018 – 5 StR 183/18 Rn. 8; Beschluss vom 14. August 2003 – 3 StR 17/03, NStZ 2004, 163, 164 mwN). Eine entsprechende Anordnung ist nicht ergangen und musste auch nicht ergehen, denn die Vernehmung eines Angeklagten zur Sache nach § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO unter Verweis auf § 136 Abs. 2 StPO erfolgt grundsätzlich mündlich und kann nicht durch die Verlesung einer Erklärung des Angeklagten durch das Gericht ersetzt werden (vgl. BGH, aaO; Beschluss vom 28. März 2000 – 1 StR 637/99, NStZ 2000, 439; MüKo-StPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 243 Rn. 87).“

StPO I: Gemeinsame Unterbringung in einem Haftraum, oder: Zweck verdeckte Innenraumüberwachung

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Heute gibt es dann drei StPO-Entscheidungen. Zwei kommen vom BGH, eine ist schon ein wenig älter, die dritte Entscheidung kommt von einem AG.

Den Opener macht ich mit dem BGH, Beschl. v. 23.07.2024 – 3 StR 134/24.

Folgender Sachverhalt: Der Angeklagte und der nicht revidierende Mitangeklagte wurden für eine Vorführung beim Haftrichter von R. nach T. gebracht und dort gemeinsam in einer Gewahrsamszelle untergebracht. Zuvor hatte das AG die akustische Innenraumüberwachung dieses Haftraums angeordnet. Als Grund für die gemeinsame Unterbringung teilten die Ermittlungsbeamten den Angeklagten wahrheitswidrig mit, alle anderen Gewahrsamszellen seien belegt. Im Rahmen der Überwachung wurde ein Gespräch aufgezeichnet, in dem der Angeklagte versuchte, den Mitangeklagten zu überreden, die Verantwortung für die Tat auf sich zu nehmen und den Angeklagten zu entlasten.

Der Angeklagte hat der Verwertung dieses Gesprächs in der Hauptverhandlung widersprochen. Das LG hat die Angaben der Angeklagten als verwertbar angesehen.S eine Revision blieb erfolglos:

„3. Davon unabhängig hat die Verfahrensrüge in der Sache keinen Erfolg.

a) Das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren wurzelt im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG). Es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens herabzuwürdigen, und es verpflichtet den Staat zu korrektem und fairem Verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. März 2009 – 2 BvR 2025/07, juris Rn. 14 mwN; BGH, Urteil vom 29. April 2009 – 1 StR 701/98, BGHSt 53, 294 Rn. 34 ff.).

aa) Die Ausgestaltung des Strafverfahrensrechts in einer Weise, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens gewahrt wird, ist in erster Linie dem Gesetzgeber und sodann – in den vom Gesetz gezogenen Grenzen – den Gerichten bei der ihnen obliegenden Rechtsanwendung und -auslegung aufgegeben. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Forderungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. März 2009 – 2 BvR 2025/07, juris Rn. 15; vom 26. Mai 1981 – 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250, 276; vom 17. Mai 1983 – 2 BvR 731/90, BVerfGE 64, 135, 145 f.). Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Februar 1978 – 2 BvR 406/77, BVerfGE 47, 239, 250; vom 14. September 1989 – 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367, 375). Das Rechtsstaatsprinzip, das die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthält, fordert nicht nur eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Strafverfahrensrechts. Es gestattet und verlangt auch die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19. Juli 1972 – 2 BvL 7/71, BVerfGE 33, 367, 383; vom 20. Oktober 1977 – 2 BvR 631/77, BVerfGE 46, 214, 222). Der Rechtsstaat kann sich aber nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 19. Juli 1972 – 2 BvL 7/71, BVerfGE 33, 367, 383; vom 20. Oktober 1977 – 2 BvR 631/77, BVerfGE 46, 214, 222; vom 18. März 2009 – 2 BvR 2025/07, juris Rn. 16).

bb) Das Recht auf ein faires Verfahren umfasst dabei das Recht jedes Angeklagten auf Wahrung seiner Aussage- und Entschließungsfreiheit innerhalb des Strafverfahrens. Es hat in dem verfassungsrechtlich verankerten Gebot der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) und in den Vorschriften der §§ 136a, 163a Abs. 4 Satz 2 StPO seinen Niederschlag gefunden. Das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung bedeutet, dass im Rahmen des Strafverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. März 2004 – 1 BvR 2378/98 und 1 BvR 1084/99, BVerfGE 109, 279, 324; Beschluss vom 13. Januar 1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 49; BGH, Urteil vom 29. April 2009 – 1 StR 701/98, BGHSt 53, 294 Rn. 36).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind das Schweigerecht eines Beschuldigten und seine Entscheidungsfreiheit, in einem Strafverfahren auszusagen oder zu schweigen, – über die Anwendung von Zwang hinaus – dann verletzt, wenn die Strafverfolgungsbehörden in einem Fall, in dem sich der Beschuldigte für das Schweigen entschieden hat, eine Täuschung anwenden, um ihm ein Geständnis oder andere belastende Angaben zu entlocken, die sie in einer Vernehmung nicht erlangen konnten, und die so gewonnenen Geständnisse oder selbst belastenden Aussagen in den Prozess als Beweise einführen (vgl. EGMR, Urteil vom 5. November 2002 – 48539/99, JR 2004, 127 Rn. 50). Ob das Schweigerecht in einem solchen Maß missachtet wurde, dass eine Verletzung von Art. 6 MRK gegeben ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. EGMR, Urteil vom 5. November 2002 – 48539/99, JR 2004, 127 Rn. 51).

Auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das heimliche und täuschende, durch Ermittlungsbehörden veranlasste Ausfragen des Beschuldigten durch private oder verdeckt ermittelnde Personen gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, obwohl hier der Schwerpunkt nicht im Zwang zur Mitwirkung des Beschuldigten, sondern in der Heimlichkeit seiner Ausforschung oder der bewussten Mitteilung eines unvollständigen Sachverhalts liegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Mai 1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 156 f.; vom 26. April 2017 – 2 StR 247/16, BGHSt 62, 123 Rn. 53 ff. [obiter dictum]; siehe auch KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 56). Entscheidend ist danach, ob der Beschuldigte in einer vernehmungsähnlichen Situation gegen seinen Willen zu einer Selbstbelastung gedrängt wird. Dabei ist zu beachten, ob sich der Beschuldigte in Haft befindet, sich bereits auf sein Schweigerecht berufen hatte und mit welcher Intensität, insbesondere bei beharrlichem Drängen unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses, auf den Beschuldigten staatlich zurechenbar eingewirkt wurde (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Mai 2010 – 5 StR 51/10, BGHSt 55, 138 Rn. 22 ff.; vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 7 Rn. 12 ff.; vom 27. Januar 2009 – 4 StR 296/08, NStZ 2009, 343, 344; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 56). Überdies besteht ein Beweisverwertungsverbot bei einer heimlichen Überwachung von Ehegattengesprächen in einem eigens dafür zugewiesenen separaten Besuchsraum ohne die übliche erkennbare Überwachung in der Untersuchungshaft (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2009 – 1 StR 701/98, BGHSt 53, 294 Rn. 37 ff.).

b) Gemessen an diesen Maßstäben ist das Vorgehen der Ermittlungsbeamten hinzunehmen und das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren nicht verletzt. Maßgeblich ist, dass mit der wahrheitswidrigen Angabe der Ermittlungsbeamten, alle anderen Gewahrsamszellen seien belegt, keine Aussage darüber verbunden war, die Angeklagten könnten sich ungestört und ohne jegliche Überwachung über den Tatvorwurf austauschen. Die Mitteilung diente vielmehr lediglich dazu, die Heimlichkeit der angeordneten Überwachungsmaßnahme zu verdecken. Somit ist anders als in dem zuletzt genannten Fall durch das Vorgehen der Polizeibeamten kein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand auf Seiten des Angeklagten und des Mitangeklagten dahin geschaffen worden, sie könnten sich unüberwacht unterhalten. Ein entsprechender Erklärungswert war mit der Erläuterung zur Belegung der Hafträume nicht verbunden.“

Zumindest unschön.