Die zweite Entscheidung des BVerfG, der BVerfG, Beschl. v. 27.05.2020 – 2 BvR 2054/19 – ist schon etwas älter. Ich habe den Hinweis auf ihn immer wieder verschoben/verschieben müssen. Jetzt aber.
Ergangen ist die Entscheidung in Zusammenhang mit einem Adhäsionsverfahren. Das AG hatte im Urteil von der Entscheidung über mehrere Adhäsionsanträge des Geschädigten abgesehen. Der war Geschädigter eines tätlichen Angriffs zweier Männer, bei dem er insbesondere Tritte gegen den Kopf erlitt. Neben anderen Verletzungen führte dies zur Verschiebung zweier Schneidezähne, die aufgrund der Gewalteinwirkung voraussichtlich extrahiert werden müssen. Im Strafverfahren wegen dieses Angriffs hatte er u.a. beantragt, die angeklagatn Antragsgegner als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn für die Verletzungen, die ihm durch die angeklagte Tat beigebracht worden seien, ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Das BVerfG hat das Absehen von der Entscheidung – mit m.E. harschen – Worten beanstandet:
„b) Nach diesen Maßstäben stellt sich das Absehen von einer Entscheidung über die Adhäsionsanträge des Beschwerdeführers durch das Amtsgericht als unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar dar. § 406 Abs. 1 Satz 6 StPO lässt das völlige Absehen von der Entscheidung über einen Anspruch auf Zuerkennung von Schmerzensgeld nur wegen Unzulässigkeit oder Unbegründetheit gemäß § 406 Abs. 1 Satz 3 StPO zu, nicht aber wegen mangelnder Eignung zur Erledigung im Strafverfahren gemäß § 406 Abs. 1 Satz 4 StPO. Im Übrigen kann von der Entscheidung über Adhäsionsanträge abgesehen werden, wenn sie sich auch unter Berücksichtigung der berechtigten Belange des Antragstellers zur Erledigung im Strafverfahren nicht eignen, insbesondere, weil die weitere Prüfung, auch soweit eine Entscheidung nur über den Grund oder einen Teil des Anspruchs in Betracht kommt, das Verfahren erheblich verzögern würde (§ 406 Abs. 1 Sätze 4 und 5 StPO). Möglich ist es nach herrschender Meinung in der Literatur zudem, die Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung von Schmerzensgeld auf ein Grundurteil zu beschränken (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 406 Rn. 13; Grau, in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2019, § 406 Rn. 15; Zabeck, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 406 Rn. 9; a. A. offenbar Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2009, § 406 Rn. 24). Insoweit steht dem Gericht ein pflichtgemäß auszuübendes Ermessen zu (vgl. BGHSt 47, 378 <381>). Will das Gericht von der Entscheidung über die gestellten Adhäsionsanträge insgesamt absehen, hat es die Verfahrensbeteiligten hierauf hinzuweisen und nach Anhörung des Adhäsionsklägers durch Beschluss von einer Entscheidung abzusehen (§ 406 Abs. 5 StPO).
c) Diese Rechtslage missachtet das Urteil des Amtsgerichts in objektiv willkürlicher Weise.
aa) Hinsichtlich des Antrags auf Schmerzensgeldzahlung hat das Amtsgericht bereits den rechtlichen Ausgangspunkt verkannt, indem es letztlich allein auf eine mögliche Verzögerung des Verfahrens abstellt, ohne die Einschränkung der Voraussetzungen für das Absehen von einer Entscheidung in § 406 Abs. 1 Satz 6 StPO auch nur in Betracht zu ziehen. Zudem hat das Amtsgericht die Möglichkeit, die Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung von Schmerzensgeld auf ein Grundurteil zu beschränken, nicht erwogen.
bb) Die darüber hinaus gestellten Feststellungsanträge waren zwar zu einem geringen Teil unzulässig, da sie ein Feststellungsinteresse hinsichtlich der bereits eingetretenen materiellen Schäden nicht erkennen lassen (vgl. zu diesem Erfordernis BGH, Beschluss vom 12. Juni 2019 – 2 StR 145/19 -, Rn. 2; BGH, Beschluss vom 6. August 2019 – 3 StR 258/19 -, Rn. 3 f.). Davon abgesehen ist jedoch eine mangelnde Eignung für die Entscheidung im Strafverfahren nicht erkennbar. Das Amtsgericht hat sich von der Mittäterschaft der beiden Angeklagten überzeugt und von dem bei dem Beschwerdeführer eingetretenen Schaden durch seine Vernehmung und die Verlesung mehrerer Atteste einen Eindruck verschafft. Soweit das Amtsgericht einzelne Schadenspositionen im Rahmen des Schmerzensgeldanspruchs in Zweifel gezogen hat, betrifft dies nicht die Feststellungsanträge, sodass eine so begründete Befürchtung der Verfahrensverzögerung das Absehen von der Entscheidung nicht rechtfertigen kann.“
cc) Hinzu kommt, dass das Amtsgericht entgegen § 406 Abs. 5 Satz 2 StPO verfahrensfehlerhaft nicht im Beschlusswege, sondern durch Urteil entschieden hat.
dd) Diese umfassende Missachtung der Vorgaben des § 406 StPO geht über die schlichte einfachrechtliche Unrichtigkeit einer gerichtlichen Entscheidung hinaus. Insbesondere lässt das Urteil eine Auseinandersetzung mit den je nach Antragsgegenstand abgestuften Möglichkeiten, von einer Entscheidung abzusehen, in keiner Weise erkennen. Das Amtsgericht hat nicht unter die einschlägigen Normen subsumiert. Die Entscheidung stellt sich demnach als willkürlich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG dar.“
„unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar“ ist die Grenze zum Karriereende