Archiv für den Monat: November 2022

Revision II: 300 Seiten Begründung der Verfahrensrüge, oder: Die Verfahrensrüge ist keine „Nacherzählung“

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Als zweite Revisionsentscheidung weise ich dann auf den BGH, Beschl. v. 24.10.2022 – 5 StR 184/22 – hin. Es geht um die Revision gegen ein Urteil des LG Berlin , mit dem der 5. Strafsenat des BGH die Revisionen eines Kaufmanns, zweier Brüder, die in den 1980er Jahren aus dem Libanon nach Berlin gekommen waren, und eines Rechtsanwalts gegen ein Berliner Urteil verworfen, mit dem diese wegen Urkundenfälschung, Betrugs und mittelbarer Falschbeurkundung zu Freiheitsstrafen von drei Jahren und sechs Monaten bis sechs Jahren und neun Monaten verurteilt worden sind (wegen der Einzelheiten des Vorverfahrens hier die PM 157/22 des BGH).

Gegen die Verurteilung waren Verfahrensrügen erhoben worden. Dazu führt der BGH u.a. aus:

„Ergänzend zu der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:

Die von dem Angeklagten G. unter der Überschrift „Verletzung von §§ 24, 74, 147, 230, 337, 338 Nr. 3, 5 StPO, Art. 6 Abs. 1 EMRK“ erhobenen Verfahrensrügen erweisen sich als unzulässig, weil sie nicht in der nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Form erhoben sind. Unter der genannten Überschrift wird zunächst ohne jegliche Differenzierung nach der Stoßrichtung der einzelnen Beanstandungen über mehr als 300 Seiten ein Verfahrenssachverhalt geschildert, der sich über mehrere Monate in der Hauptverhandlung zugetragen habe; dabei wird eine Vielzahl von Anträgen, Stellungnahmen, Beschlüssen und weiteren Unterlagen zitiert. Ab Seite 328 der Revisionsbegründung wird sodann in jeweils kurzen rechtlichen Begründungen zu einzelnen Beanstandungen ohne konkrete Bezugnahme auf Blattzahlen lediglich auf einige der wiedergegebenen Beschlüsse, Protokollstellen oder Gutachten Bezug genommen. Damit genügt das Rügevorbringen nicht den Anforderungen, die an einen ordnungsgemäßen Revisionsvortrag zu stellen sind. Dafür reicht es nicht, die für unterschiedliche Beanstandungen möglicherweise relevanten Verfahrenstatsachen im Sinne einer Nacherzählung der Hauptverhandlung zu referieren, denn es ist nicht die Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus einem umfangreichen Konvolut von Unterlagen das für die jeweilige Rüge Passende herauszusuchen und dabei den Sachzusammenhang selbst herzustellen; stattdessen wäre es erforderlich, bezogen auf die konkrete Rüge (lediglich) den insoweit relevanten Verfahrensstoff mitzuteilen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 14. Mai 2020 – 5 StR 672/19, NStZ 2020, 625 mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 4 StR 533/19, NStZ 2021, 178, 179 mwN; Herb, NStZ-RR 2022, 97, 98). Ungeachtet dessen bleibt den Rügen aber auch aus den vom Generalbundesanwalt genannten Gründen der Erfolg versagt….“

Das war dann mal wieder der jährliche Rufe des BGH: „Schreibt nicht so viel und schreibt nur das, was notwendig ist.“

Revision I: Revisionsverwerfung ohne HV zulässig?, oder: BVerfG hat (bei B.Zschäpe) keine Bedenken

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Ich stelle heute drei Entscheidungen zur Revision im Strafverfahren vor, also StPO-Entscheidungen.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BVerfG, Beschl. v. 30.09.2022 – 2 BvR 2222/21. Das ist die Entscheidung des BVerfG von B. Zschäpe zur Vewerfung ihrer Revision gegen ihre Verurteilung  durch das OLG München. Der BGH hatte nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Dagegen hatte B. Zschäpe die Verletzung ihres Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs, eine willkürliche Anwendung des § 349 Abs. 2 StPO und eine Verletzung ihres Rechts auf die Entscheidung durch den gesetzlichen Richter gerügt. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Das hat es m.E. recht ausführlich begründet, was es sonst bei Nichtannahmebeschlüssen ja nicht immer tut. Es führt zu § 349 Abs. 2 StPO, der ja in der Praxis des BGH eine große Rolle spielt, aus:

„1. Eine Verletzung ihres Prozessgrundrechts auf die Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf.

a) aa) Rechtliches Gehör ist das prozessuale Urrecht des Menschen sowie ein objektiv-rechtliches Verfahrensprinzip, das für ein gerichtliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar ist (vgl. BVerfGE 55, 1 <6>; 107, 395 <408>). Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 9, 89 <95>; 107, 395 <409>). Art. 103 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern (vgl. BVerfGE 1, 418 <429>). An einer solchen Gelegenheit fehlt es, wenn ein Beteiligter nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten (vgl. BVerfGE 10, 177 <182 f.>; 19, 32 <36>; 84, 188 <190>). Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 11, 218 <220>; 21, 191 <194>; 96, 205 <216>; BVerfGK 10, 41 <45>). Die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG beschränkt sich dabei nicht darauf, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern, sondern verbürgt dem Verfahrensbeteiligten auch das Recht, sich zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 <210>; 64, 135 <143>; 86, 133 <144>; BVerfGK 15, 116 <118 f.>).

Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet aber nicht, dass das Gericht der Argumentation des Rechtsschutzsuchenden inhaltlich folgt (vgl. BVerfGE 64, 1 <12>; 80, 269 <286>; 87, 1 <33>; 115, 166 <180>). Des Weiteren ist das Gericht nicht gehalten, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden; ein Gehörsverstoß ist daher nur feststellbar, wenn er sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt (vgl. BVerfGE 22, 267 <274>; 88, 366 <375 f.>; 96, 205 <217>; 134, 106 <117 f. Rn. 32>). Grundsätzlich besteht keine verfassungsrechtliche Begründungspflicht für mit ordentlichen Rechtsbehelfen nicht mehr angreifbare Entscheidungen (vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.>; 65, 293 <295>; 81, 97 <106>; 86, 133 <146>; 94, 166 <210>; 118, 212 <238>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 14; vgl. auch EGMR, John v. Germany, Entscheidung vom 13. Februar 2007, Nr. 15073/03, juris, § 50; Arribas Antón v. Spain, Urteil vom 20. Januar 2015, Nr. 16563/11, § 47, NVwZ 2016, S. 519 <520 f.>; Harisch v. Germany, Urteil vom 11. April 2019, Nr. 50053/16, § 35, NJW 2020, S. 1943 <1944>).

bb) An der Gelegenheit, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern, fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten (vgl. BVerfGE 10, 177 <182 f.>; 19, 32 <36>; 84, 188 <190>). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt überdies voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Es kommt im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrages gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>; 96, 189 <204>; 98, 218 <263>; 108, 341 <345 f.>).

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet ein Gericht allerdings grundsätzlich nicht zu einem Rechtsgespräch (vgl. BVerfGE 31, 364 <370>) oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung (vgl. BVerfGE 54, 100 <117>; 66, 116 <147>; 67, 90 <96>; 74, 1 <5>; 84, 188 <190>; 86, 133 <145>). Ihm ist zudem keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen (vgl. BVerfGE 66, 116 <147>; 84, 188 <190>). Ein Verfahrensbeteiligter ist gehalten, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht zu ziehen und seinen Vortrag darauf einzustellen.

cc) Weiter garantiert das Prozessgrundrecht des Art. 103 1 GG einen angemessenen Ablauf des Verfahrens (vgl. BVerfGE 107, 395 <409>; 119, 292 <296>). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt jedoch nicht unmittelbar ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 6, 19 <20>; 15, 249 <256>; 15, 303 <307>; 21, 73 <77>; 25, 352 <357>; 36, 85 <87>; 60, 175 <210 f.>; 89, 381 <391>; 112, 185 <206>). Es ist Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, in welcher Weise rechtliches Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 60, 175 <210 f.>; 89, 381 <391>; 119, 292 <296>).

Daher begegnet die Möglichkeit, im strafrechtlichen Revisionsverfahren eine Revision nach § 349 Abs. 2 StPO durch Beschluss – also ohne vorherige Durchführung einer mündlichen Verhandlung – zu verwerfen, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Im Verfahren der strafrechtlichen Revision hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass der Revisionsführer in seiner Revisionsbegründung (§ 344 StPO) und in der Gegenerklärung zum Antrag des Generalbundesanwalts (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) Gelegenheit bekommt, sich umfassend zu äußern, wodurch seinem Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs ausreichend Rechnung getragen wird (vgl. BVerfGE 112, 185 <206>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 8).

dd) Diese Maßstäbe stehen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.>; 128, 326 <366 ff.>; 148, 296 <351 Rn. 128>; 149, 293 <328 Rn. 86>; 158, 1 <36 Rn. 70>). Eine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention ist allerdings nicht verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 <366, 392 f.>; 156, 354 <397 Rn. 122>). Bei der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention sind  die Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen, denn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zu (vgl. BVerfGE 111, 307 <320>; 128, 326 <368>; 148, 296 <351 f. Rn. 129>). Die Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe gemäß Art. 1 2 GG über den Einzelfall hinaus dient dazu, den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen, und kann darüber hinaus helfen, Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu vermeiden (vgl. BVerfGE 128, 326 <369>; 148, 296 <352 f. Rn. 130>).

Die Möglichkeit, eine Revision im Beschlussverfahren nach § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen, begegnet keinen konventionsrechtlichen Bedenken (vgl. schon BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 20 ff.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar grundsätzlich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 62). In Rechtsmittelverfahren gilt dieser Grundsatz aber nicht uneingeschränkt. Hat in der ersten Instanz eine öffentliche Verhandlung stattgefunden, kann es aufgrund der Besonderheit des betreffenden Verfahrens gerechtfertigt sein, dass in der zweiten oder dritten Instanz von einer mündlichen Verhandlung abgesehen wird (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 63; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 54; Stober v. Germany, Entscheidung vom 11. Dezember 2006, Nr. 39485/03, juris, § 37). Betrifft das Rechtsmittelverfahren nur Rechtsfragen, kann – je nach Ausgestaltung des Verfahrensrechts – von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden (vgl. EGMR, Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 50). Berücksichtigung finden können weiter die offensichtliche Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels sowie die Notwendigkeit, den Geschäftsanfall zu bewältigen und innerhalb angemessener Zeit zu entscheiden (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 63; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 49). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte respektiert insoweit die unterschiedliche Ausgestaltung der Rechtsmittelzüge in den Vertragsstaaten, die entweder eine vorgelagerte Annahmeentscheidung voraussetzen, für die der Öffentlichkeitsgrundsatz ohnehin nicht gilt, oder eine andere, vergleichbare Möglichkeit zur vereinfachten Erledigung aussichtsloser Rechtsmittel vorsehen (vgl. EGMR, Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 52). Auch bei einer Kompetenz des Rechtsmittelgerichts zur Befassung mit Sachverhaltsfragen muss nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht zwingend eine öffentliche mündliche Hauptverhandlung durchgeführt werden (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 63; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, §§ 49 f.). Es kommt maßgeblich darauf an, ob sich die aufgeworfenen Fragen allein auf der Grundlage der Verfahrensakten angemessen entscheiden lassen (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 64; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 50).

Nach diesen Kriterien ist die den Revisionsgerichten eingeräumte Möglichkeit, im Verfahren nach § 349 Abs. 2 StPO auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten, mit dem Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 24). Ohne Revisionshauptverhandlung ist es dem Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren nur möglich, das erstinstanzliche Urteil, das auf einer öffentlichen mündlichen Verhandlung beruht, nach § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und zugunsten des Beschwerdeführers zu entscheiden oder aber das Urteil durch eine Revisionsverwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO rechtskräftig werden zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. August 2005 – 2 BvR 1066/05 -, juris, Rn. 4; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2006 – 2 BvR 1401/05 -, Rn. 4). Andernfalls hat das Revisionsgericht nach § 349 Abs. 5 StPO durch Urteil, das heißt nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu entscheiden. Ein Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO kann nur bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit der Revision ergehen und setzt Einstimmigkeit voraus (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 24). Des Weiteren ist die Revision auf die Prüfung von Rechtsfragen beschränkt, die sich regelmäßig nach Aktenlage entscheiden lassen; eine Beweisaufnahme über Tatfragen ist nicht statthaft, das Revisionsgericht ist an die Feststellungen des Tatgerichts gebunden (vgl. BVerfGE 54, 100 <116>). Überdies dient § 349 Abs. 2 StPO der Schonung der Ressourcen der Justiz, damit sich diese zügig aussichtsreichen Rechtsmitteln zuwenden kann, und folglich der Verwirklichung des durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Beschleunigungsgrundsatzes.

b) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist eine Gehörsverletzung weder dargetan noch aus sich heraus ersichtlich……“

Rest dann bitte im verlinkten Volltext selbst lesen. M.E. bringt der Beschluss des BVerfG nichts wesetnlich Neues, aber er fasst die Rechtsprechung zum rechtlichen Gehör und zu § 349 Abs. 2 StPO noch einmal schön zusammen.

Verkehrsrecht III: FoF mit auländischer Fahrerlaubnis?, oder: Wohnsitz im Inland?

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Und als dritte Entscheidung dann noch das LG Itzehoe, Urt. v. 17.08.2022 – 3 Ns 314 Js 28038/20. Die Entscheidung behandelt einen (früheren) Dauerbrenner, nämlich das Fahren ohne Fahrerlaubnis für den Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis. Hier ist es eine polnische Fahrerlaubnis; der Angeklagte hatte früher auf seine deutsche Fahrerlaubnis verzichtet. „Gestritten“ wurde um den Lebensmittelpunkt. Das AG hatte den Angeklagten verurteilt, das LG hat aufgehoben und frei gesprochen:

„Die Berufungsverhandlung hat zu folgenden Feststellungen geführt:

Um dem Entzug seiner Fahrerlaubnis zuvorzukommen, verzichtete der Angeklagte am 12.12.2006 gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde des Kreises Segeberg auf seine ihm erteilten Fahrerlaubnisse. Seit diesem Zeitpunkt hat der Angeklagte keine neue deutsche Fahrerlaubnis erworben. Der Angeklagte erwog, die von ihm geleitete Firma nach Polen zu verlegen. In der Zeit vom 05.02.2007 bis zurn•31.12.2007 hielt sich der Angeklagte überwiegend in Stettin auf und wohnte in. einer von ihm gemieteten Wohnung unter der Adresse. Seine Firma leitete er aus Polen; nur etwa alle 2 bis 3 Wochen reiste er für jeweils 2 Tage nach Deutschland. Am 09.08.2007 wurde ihm nach der Ableistung von Fahrstunden sowie bestandener theoretischer und praktischer Fahrprüfung eine polnische Fahrerlaubnis ausgestellt. In dieser Fahrerlaubnis war als Wohnort die vorgenannte Stettiner Adresse des Angeklagten vermerkt. Gemeldet war der Angeklagte in der pp. Am 16.09.2020 befuhr der Angeklagte gegen 11:55 Uhr mit dem Pkw Hanomag-Henschel F20 mit dem amtlichen Kennzeichen pp. die pp. in pp. Im Rahmen einer Polizeikontrolle wurde festgestellt, dass der Angeklagte nicht über eine deutsche Fahrerlaubnis verfügt.

Der Angeklagte war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Er verfügte am 15.09.2020 über eine gültige polnische Fahrerlaubnis. Diese berechtigte ihn nach § 28 Abs..1 FeV zum Führen des Fahrzeugs im Sinne des § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG. Nach § 28 Abs. 1 FeV dürfen Inhaber einer gültigen EU-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben, im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Es gilt der sogenannte Anerkennungsgrundsatz.

Aus § 28 Abs. 4 Nr. 2 und Nr. 3 FeV ergeben sich vorliegend keine Einschränkungen dieser Berechtigung.

Nach § 28 Abs. 4 Nr. 2 gilt der Anerkennungsgrundsatz nicht für Fahrer, die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der polnische Führerschein des Angeklagten weist als Wohnort seine angemietete Adresse in Stettin aus. Es liegen auch keine unbestreitbaren Informationen des Ausstellungsstaats vor, aus denen sich ergibt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Führerscheinerteilung seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hatte. Unbestreitbar sind die Informationen nur dann, wenn sie von einer Behörde des Ausstellermitgliedstaats stammen und das Fehlen eines Wohnsitzes so wahrscheinlich ist, dass kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt (vgl; Zwerger, in ZfSch 2015, 184 rn.w.N.).

Soweit die von der Kammer an die polnischen Behörden gerichtete EEA Anfrage dahingehend beantwortet wurde, dass der Angeklagten zu keinem Zeitpunkt in Polen gemeldet war, lässt dies nicht mit der hinreichenden Sicherheit den Rückschluss zu, dass der Angeklagte auch seinen Lebensmittelpunkt nicht in Polen hat. Die Auskunft der polnischen Behörden vermag daher die vom Führerschein ausgehende Vermutungswirkung, dass das Wohnsitzerfordernis erfüllt war, nicht zu widerlegen.

§ 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV findet aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Anwendung (vgl. EuGH, 26.04.2012 C-419/10; EuGH, 01.03.2012 — C-467/10). Dies gilt auch für die sogenannte Verzichtsvariante, wenn also die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil der Betroffene zwischenzeitlich auf sie verzichtet hat (so auch: OLG Koblenz, Beschluss vom 15.08.2005 — 7 B 11021/05; OLG Nürnberg, Urteil vorn 16.01.2007 23 St OLG Ss 286/06; Halecker/Scheffler, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltkommentar StGB, 3. Auflage 2020, § 69b Rn. 22; Weidig, in: Münchener Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2016, § 21 StVG Rn. 15; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage § 21 StVG Rn. 2a; Zwerger, Europäischer Führerscheintourismus — Rechtsprechung des EuGH und nationale Rechtsgrundlagen, ZfSch 2015, 184; offen gelaSsen durch: Heinz-Georg-Kerkmann in: Haus/Krumm/Quarch,.Gesamtes erkehrsrecht, 2.* Auflage 2017, § 21 SIVG Rn. 69).

Soweit das OLG Hamburg ‚dies in einem Beschluss vom 29.09.2011 (Az.: – 3- 44/11) noch anders gesehen hatte, ist dieser Entscheidung durch die nachfolgenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs, wie oben ausgeführt, die Grundlage entzogen worden.“

Verkehrsrecht II: Einziehung nach verbotenem Rennen, oder: Man muss nicht Eigentümer des Pkw sein

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Die zweite Entscheidung des Tages, der AG Nienburg (Weser), Beschl. v. 02.02.2022 – 4 Ds 370 Js 26085/21 (142/21) – schon etwas älter, aber ich habe ihn jetzt erst gefunden – äußert sich noch einmal zu einer Problematik in Zusammenhang mit einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen. Es geht aber nicht um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 315d StGB, sondern um die Rechtsfolgen, und zwar um die Einziehung des Pkw nach § 315f StGB.

Der Angeschuldigte hatte einen Antrag auf Aufhebung eines „Einziehungsbeschlusses“ gestellt. Das AG hat den Antrag abgelehnt:

„Gem. § 315f S. 1 StGB können Kraftfahrzeuge, auf die sich eine Tat nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 oder 3, Abs. 2, 4 oder 5 StGB bezieht, eingezogen werden. Diese Voraussetzungen liegen vor, da der Angeklagte verdächtig ist, am 13.06.2021 in N., B. Ring mit dem vorgenannten Pkw am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen und auf der Flucht vor der Polizei sein Fahrzeug grob verkehrswidrig und rücksichtslos mit nicht angepasster Geschwindigkeit geführt zu haben, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen.

Diese Handlung ist mit Strafe bedroht gemäß § 315 d StGB.

Der Tatverdacht beruht auf den Angaben der eingesetzten Polizeibeamten.

Aufgrund des gegen den Angeklagten begründeten Tatverdachts bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass bzgl. des Pkw die Einziehung angeordnet werden wird, §§ 315f S. 2, 74a StGB.

Der Umstand, dass der Pkw des Angeklagten mglw. nicht in dessen Eigentum steht, ist unerheblich. Denn bei § 315f S. 2 StGB handelt es sich um eine Rechtsfolgenverweisung, sodass die Voraussetzungen des § 74a StGB nicht vorliegen müssen (Bleckat NStZ 2020, 715, 716). Die Auslegung des § 315f StGB als Rechtsgrundverweisung würde den Sinn und Zweck, den der Gesetzgeber mit der Einführung des § 315f StGB verfolgt hat, namentlich die Mitglieder der „Raser-Szene“ nachhaltig durch die Einziehung der von ihnen gefahrenen Kraftfahrzeuge zu beeindrucken, völlig konterkarieren. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der auf deutschen Straßen geführten Fahrzeugen nicht im Eigentum der Fahrer stehen (Bleckat aaO mwN.), sodass der Anwendungsbereich der Vorschrift nicht unerheblich eingeschränkt werden würde.

Selbst wenn man – anders als hier – § 315f S. 2 StGB als Rechtsgrundverweisung auslegen würde, wäre die Einziehung des Pkw trotz mglw. bestehenden Dritteigentums gem. § 315f S. 2, 74b Abs. 1 Nr. 2 StGB möglich. Denn auch die Voraussetzungen des § 74b Abs. 1 Nr. 2 StGB liegen vor. Diese Vorschrift, die trotz des Verweises des § 315f S. 2 StGB (nur) auf § 74a StGB anwendbar ist (BeckOK StGB/Kulhanek Stand: 01.11.2021, § 315f Rn. 5), bestimmt Folgendes:

Gefährden Gegenstände nach ihrer Art und nach den Umständen die Allgemeinheit oder besteht die Gefahr, dass sie der Begehung rechtswidriger Taten dienen werden, können sie auch dann eingezogen werden, wenn die Gegenstände einem anderen als dem Täter oder Teilnehmer gehören oder zustehen.

Bei dem vorgenannten Fahrzeug handelt es sich um einen sog. individuell gefährlichen Gegenstand. Ein solcher liegt dann vor, wenn er zwar seiner Art nach ungefährlich oder gefahrneutral ist, aber unter besonderen Umständen wie der Art seiner Verwendung, iVm anderen Tatmitteln oder aufgrund der verbrecherischen Neigung oder der Nachlässigkeit ihres Inhabers zu einer Gefahrenquelle werden kann (BeckOK StGB/Heuchemer aaO. § 74b Rn. 3). Gegen den Angeklagten besteht, wie das LG Verden – Beschl. v. 09.09.2021 – 4 Qs 88/21 – (Bl. 49 ff. dA) bereits ausführlich dargelegt hat, ein dringender Tatverdacht bzgl. der tateinheitlichen Verwirklichung der §§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG. Auf diese Ausführungen wird Bezug genommen. Daher besteht die Gefahr, dass der Pkw erneut zur Begehung rechtswidriger Taten dienen wird.

Die Anordnung der Beschlagnahme ist gemäß § 111b Abs. 1 StPO erforderlich und auch verhältnismäßig. Ergänzend nimmt das Gericht Bezug auf die Ausführungen des LG Verden aaO. zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die sich das Gericht vollständig zu eigen macht. Aus dem Schriftsatz des Verteidigers vom 2022 folgt nichts Abweichendes.

Einer Einziehung lediglich des Anwartschaftsrechts des Angeklagten auf den Erwerb des vorgenannten Pkw (so noch BGH NStZ-RR 1999, 11) bedarf es nach der nunmehr geltenden Rechtslage nicht mehr.“

Verkehrsrecht I: Sachschaden bei der Unfallflucht, oder: „Klatsche“ für StA, AG und LG vom VerfGH

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Und heute kommt dann das Programm, was ich eigentlich schon gestern bringen wollte, nämlich noch einmal Entscheidungen mit verkehrsrechtlichem „Einschlag“.

Ich beginne mit dem VerfGH Saarland, Beschl. v. 08.11.2022 – Lv 13/22 -, den mir der Kollege Gratz, der den Beschluss „erstritten“ hat, geschickt hat (hier „geht“ es zu dem Kollegen).

Ergangen ist der Beschluss in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Mandanten des Kollegen durch einen Beschluss des AG. Die gegen den Beschluss erhobene Beschwerde hat das LG. Dagegen ist Verfassungsbeschwerde erhoben. Folgender Sachverhalt:

Der beruflich als Busfahrer und in der Freiwilligen Feuerwehr seines Heimatortes ehrenamtlich tätige Angeschuldigte fuhr mit einem von ihm gesteuerten Linienbus. Er soll einen an einer verengten Straßenstelle verbotswidrig geparkten PKW bei einem Rangiermanöver im Bereich der linken hinteren Stoßstange gestreift und sich sodann vom Unfallort entfernt haben. An dem angeblich hierdurch beschädigten Wagen wurde im Bereich der Ecke des rechten hinteren Kotflügels und des Radkastens ein rund 40 cm hoher Streifschaden festgestellt. Lackanhaftungen fehlten. Nach den polizeilichen Feststellungen fanden sich dort lediglich „aufgrund der regennassen Witterung Schmutzanhaftungen“. Eine Spurensicherung wurde nicht durchgeführt. Der Sachschaden wurde polizeilich auf 3.000 EUR geschätzt. Die geschädigte Halterin wurde benachrichtigt. Sie meldete sich nach drei Wochen bei der Polizei und gab als Information über das vermeintliche Geschehen an, sie werde ihren Wagen in einer Werkstatt reparieren lassen und – was bislang auch auf Nachfrage hin nicht geschehen ist – die Reparaturrechnung nachreichen.

Zeuginnen und Zeugen haben angegeben, das Unfallereignis akustisch und optisch bemerkt und gesehen zu haben, dass sich der Beschwerdeführer aus dem Busfenster in Richtung des geparkten Fahrzeugs gebeugt habe, dann jedoch weitergefahren sei. Rund eine Stunde später wurde der Beschwerdeführer festgestellt. An dem Linienbus wurde ein – längerer, aus der Farbbildaufnahme allerdings nicht klar zu erkennender – Streifschaden festgestellt. Der Beschwerdeführer bestritt, einen Zusammenstoß mit dem geparkten Fahrzeug bemerkt zu haben.

Die Staatsanwaltschaft hat — zunächst ohne Angabe eines bestimmten Strafzumessungsantrags, was später auf richterliche Beanstandung hin korrigiert wurde — den Erlass eines Strafbefehls wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und zugleich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt. Das Amtsgericht Saarbrücken hat beiden Anträgen stattgegeben. Der Beschwerdeführer hat gegen den ihm zugestellten Strafbefehl Einspruch erhoben. Die gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erhobene Beschwerde hat das Landgericht Saarbrücken mit der Begründung verworfen, es sei „nichts dagegen zu erinnern, dass das Amtsgericht bei seiner, zum jetzigen Zeitpunkt zwangsweise vorläufigen Betrachtung die von der Polizei geschätzte Schadenshöhe von 3.000 € seiner Entscheidung zugrunde gelegt“ habe. Die Staatsanwaltschaft betreibt nunmehr die Vollstreckung des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis.

Der VerfGH Saarland hat auf die Verfassungsbeschwerde hin eine einstweilige Anordnung erlassen und die Wirksamkeit der Beschlüsse des AG und LG ausgesetzt. Das begründet es u.a. wie folgt:

„b) Nach § 111a Abs. 1 S. 1 StPO darf eine Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werden, wenn „dringende Gründe“ für die Annahme vorliegen, dass die Fahrerlaubnis — im Streitfall nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB wegen des Nach-weises eines unerlaubten Entfernens vom Unfallort bei Verursachung eines bedeutenden Sachschadens — entzogen werden wird.

Das Vorliegen dieser Voraussetzungen haben Staatsanwaltschaft, Amtsgericht und Landgericht nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise geprüft. Denn auch vorläufige Eingriffe in Freiheitsrechte können nicht mit vagen Annahmen und nicht näher plausibilisierten oder angreifbaren Schätzungen von Strafverfolgungsbehörden gerechtfertigt werden, sondern bedürfen einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage.

Deren Nachprüfung ist zwar grundsätzlich Sache tatrichterlicher Würdigung. Fehlen aber valide Feststellungen oder werden in einem frühen Stadium eines Ermittlungs- und Strafverfahrens notwendigerweise unsichere Einschätzungen einem Grundrechtseingriff zugrunde gelegt, so müssen sie nicht nur einfachrechtlich, sondern auch von Verfassungs wegen auf feststehenden hinreichenden oder, wie in den Fällen des § 111a StPO „dringenden“ Verdachtsgründen beruhen. Zugleich müssen — auch in der Begründung staats-anwaltschaftlicher Anträge und gerichtlicher Entscheidungen — feststehende Umstände gewürdigt werden, die die Überzeugungskraft vorläufiger und ungewisser Annahmen einer zu erwartenden Maßregel zu erschüttern geeignet sind (vgl. zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis BVerfG 08.11.2017 2 BvR 2129/16). Dem werden die angegriffenen Entscheidungen — im Verfahren und nach gegenwärtigem Sachstand auch im Ergebnis — nicht gerecht.

Es ist nicht erkennbar, dass Staatsanwaltschaft, Amts- und Landgericht solchen sich aus den Akten ergebenden offenkundigen Zweifeln nachgegangen sind und bestehende, nahe liegende und bessere Erkenntnismöglichkeiten einer Prüfung der entscheidenden Schadenhöhe genutzt hätten. Vielmehr stützen sich die Grundrechtseingriffe allein auf eine nicht näher begründete polizeiliche Schätzung. Eine solche, meist auf vielfältigen Erfahrungswerten beruhende Schätzung zugrunde zu legen ist zwar nicht unzulässig. Das ist indessen anders, wenn die Schätzung im Grenzbereich der Annahme eines bedeutenden Sachschadens — dessen Bestimmung in den Grenzen willkür-freien Verhaltens fachgerichtliche Aufgabe ist — liegt, oder wenn — zum Zeitpunkt der Beantragung oder des Erlasses des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis — Anhaltspunkte vorliegen, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen auf die Hand legen. Aus welchen Gründen sich die Staatsanwaltschaft mit dem Ausbleiben einer solchen — zunächst angeordneten — Feststellung begnügt hat, ist unerfindlich.

Insoweit kann dahinstehen, ob sich aus den Lichtbildern des Busses überhaupt ein kompatibler Streifschaden ergibt und wie die Divergenzen der Schadenbereichshöhen — 40 bis 74 cm bei dem PKW, 44 bis 80 cm bei dem Bus — zu erklären sein können. Es kann auch dahinstehen, was mit „Schmutzanhaftungen infolge der regennassen Witterung“ gemeint sein soll und wie sich innerhalb der kurzen Zeit zwischen dem (angezeigten) Unfall-geschehen und der polizeilichen Feststellung „Verschmutzungen“ eines frischen Blechschadens durch „Regen“ ergeben haben können.

Nicht ohne Weiteres erklärlich ist auch, dass bei einem Blechschaden dieses angeblichen Schadenausmaßes mit — soweit ersichtlich — Lackabschürfungen auf einer Höhe von 34 cm keinerlei Lackanhaftungen des überwiegend rot lackierten Busses verblieben sein sollen.

Nicht ohne Weiteres erklärlich ist auch, warum sich die Geschädigte über nunmehr mehr als ein halbes Jahr hinweg nicht gemeldet und die Reparatur-rechnung vorgelegt hat.

Vor allem nämlich haben die Strafverfolgungsbehörden auf der Hand liegen-de Ermittlungen unterlassen, die ihren Grundrechtseingriff hätten rechtfertigen — oder untersagen — können: Die Staatsanwaltschaft hat zwar die zu-ständige Polizeibehörde unter Hinweis auf die Möglichkeit zwangsweiser Vorführung aufgefordert, die Zeugen nachzuvernehmen, sich dann aber da-mit begnügt, dass die Geschädigte sich nicht gemeldet habe und, was nicht näher erläutert ist, nicht erreichbar gewesen sein soll. Vor allem aber hätte mehr als nahe gelegen, die Halterin und Selbstversichererin des Linienbusses, die a GmbH, die — bislang nicht beschieden — Akteneinsicht erbeten hatte, zu befragen, ob dort eine Schadenanzeige und ein Verlangen nach Übernahme näher belifferter Instandsetzungskosten eingegangen ist. Dazu hätte ein Telefonat genügt. Vor diesem Hintergrund liegt — beim gegenwärtigen Stand der Dinge — ein verfassungswidriger Grundrechtseingriff durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eher nahe.

3. Die somit gebotene Abwägung der Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung mit jenen, die bei ihrem Ausbleiben einträten, fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus.

Im letzteren Fall wäre dem Beschwerdeführer für eine geraume Zeit die Erlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr entzogen. Er würde damit voraussichtlich die Möglichkeit beruflicher Betätigung als Busfahrer und voraussichtlich auch Möglichkeiten zur Fortführung seines — gemeinwohlwichtigen — Ehrenamtes verlieren, ohne dass das rückwirkend auszugleichen wäre. Sollte sich die Verfassungsbeschwerde als unbegründet erweisen, könnten sowohl die vorläufige als auch eine etwaige endgültige Maßregel weiterhin ergriffen werden, Eine Gefährdung der Sicherheit des Straßenverkehrs durch zwischenzeitliche schwere Verkehrsverstöße des Beschwerdeführers ist anders als in Fällen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Fahrens in fahruntüchtigem Zustand — nicht zu befürchten; Feststellungen zu einer verkehrsrechtlichen einschlägigen Auffälligkeit des Beschwerdeführers fehlen. Es kommt hinzu, dass § 142 Abs. 1 StGB im Wesentlichen dem privaten Interesse an der Sicherung von Schadenersatzansprüchen dient, das, wie das Verhalten der angeblich Geschädigten zeigt, im Streitfall nicht besonders schutzwürdig erscheint.“

Nicht so schön für StA, AG und LG, oder: Es zeichnet sich eine Klatsche ab. Und für den Verteidiger ein schöner Erfolg, der zeigt, dass man eben die Flinte nicht zu früh ins Korn werden darf. Allerdings: In Fällen der Entziehung wegen einer Trunkenheitsfahrt besteht wohl wenig(er) Aussicht auf einen solchen Erfolg. Aber immerhin. Man kann es ja mal versuchen.