Revision I: Revisionsverwerfung ohne HV zulässig?, oder: BVerfG hat (bei B.Zschäpe) keine Bedenken

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Ich stelle heute drei Entscheidungen zur Revision im Strafverfahren vor, also StPO-Entscheidungen.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BVerfG, Beschl. v. 30.09.2022 – 2 BvR 2222/21. Das ist die Entscheidung des BVerfG von B. Zschäpe zur Vewerfung ihrer Revision gegen ihre Verurteilung  durch das OLG München. Der BGH hatte nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Dagegen hatte B. Zschäpe die Verletzung ihres Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs, eine willkürliche Anwendung des § 349 Abs. 2 StPO und eine Verletzung ihres Rechts auf die Entscheidung durch den gesetzlichen Richter gerügt. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Das hat es m.E. recht ausführlich begründet, was es sonst bei Nichtannahmebeschlüssen ja nicht immer tut. Es führt zu § 349 Abs. 2 StPO, der ja in der Praxis des BGH eine große Rolle spielt, aus:

„1. Eine Verletzung ihres Prozessgrundrechts auf die Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf.

a) aa) Rechtliches Gehör ist das prozessuale Urrecht des Menschen sowie ein objektiv-rechtliches Verfahrensprinzip, das für ein gerichtliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar ist (vgl. BVerfGE 55, 1 <6>; 107, 395 <408>). Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 9, 89 <95>; 107, 395 <409>). Art. 103 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern (vgl. BVerfGE 1, 418 <429>). An einer solchen Gelegenheit fehlt es, wenn ein Beteiligter nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten (vgl. BVerfGE 10, 177 <182 f.>; 19, 32 <36>; 84, 188 <190>). Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 11, 218 <220>; 21, 191 <194>; 96, 205 <216>; BVerfGK 10, 41 <45>). Die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG beschränkt sich dabei nicht darauf, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern, sondern verbürgt dem Verfahrensbeteiligten auch das Recht, sich zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 <210>; 64, 135 <143>; 86, 133 <144>; BVerfGK 15, 116 <118 f.>).

Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet aber nicht, dass das Gericht der Argumentation des Rechtsschutzsuchenden inhaltlich folgt (vgl. BVerfGE 64, 1 <12>; 80, 269 <286>; 87, 1 <33>; 115, 166 <180>). Des Weiteren ist das Gericht nicht gehalten, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden; ein Gehörsverstoß ist daher nur feststellbar, wenn er sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt (vgl. BVerfGE 22, 267 <274>; 88, 366 <375 f.>; 96, 205 <217>; 134, 106 <117 f. Rn. 32>). Grundsätzlich besteht keine verfassungsrechtliche Begründungspflicht für mit ordentlichen Rechtsbehelfen nicht mehr angreifbare Entscheidungen (vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.>; 65, 293 <295>; 81, 97 <106>; 86, 133 <146>; 94, 166 <210>; 118, 212 <238>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 14; vgl. auch EGMR, John v. Germany, Entscheidung vom 13. Februar 2007, Nr. 15073/03, juris, § 50; Arribas Antón v. Spain, Urteil vom 20. Januar 2015, Nr. 16563/11, § 47, NVwZ 2016, S. 519 <520 f.>; Harisch v. Germany, Urteil vom 11. April 2019, Nr. 50053/16, § 35, NJW 2020, S. 1943 <1944>).

bb) An der Gelegenheit, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern, fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten (vgl. BVerfGE 10, 177 <182 f.>; 19, 32 <36>; 84, 188 <190>). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt überdies voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Es kommt im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrages gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>; 96, 189 <204>; 98, 218 <263>; 108, 341 <345 f.>).

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet ein Gericht allerdings grundsätzlich nicht zu einem Rechtsgespräch (vgl. BVerfGE 31, 364 <370>) oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung (vgl. BVerfGE 54, 100 <117>; 66, 116 <147>; 67, 90 <96>; 74, 1 <5>; 84, 188 <190>; 86, 133 <145>). Ihm ist zudem keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen (vgl. BVerfGE 66, 116 <147>; 84, 188 <190>). Ein Verfahrensbeteiligter ist gehalten, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht zu ziehen und seinen Vortrag darauf einzustellen.

cc) Weiter garantiert das Prozessgrundrecht des Art. 103 1 GG einen angemessenen Ablauf des Verfahrens (vgl. BVerfGE 107, 395 <409>; 119, 292 <296>). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt jedoch nicht unmittelbar ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 6, 19 <20>; 15, 249 <256>; 15, 303 <307>; 21, 73 <77>; 25, 352 <357>; 36, 85 <87>; 60, 175 <210 f.>; 89, 381 <391>; 112, 185 <206>). Es ist Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, in welcher Weise rechtliches Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 60, 175 <210 f.>; 89, 381 <391>; 119, 292 <296>).

Daher begegnet die Möglichkeit, im strafrechtlichen Revisionsverfahren eine Revision nach § 349 Abs. 2 StPO durch Beschluss – also ohne vorherige Durchführung einer mündlichen Verhandlung – zu verwerfen, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Im Verfahren der strafrechtlichen Revision hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass der Revisionsführer in seiner Revisionsbegründung (§ 344 StPO) und in der Gegenerklärung zum Antrag des Generalbundesanwalts (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) Gelegenheit bekommt, sich umfassend zu äußern, wodurch seinem Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs ausreichend Rechnung getragen wird (vgl. BVerfGE 112, 185 <206>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 8).

dd) Diese Maßstäbe stehen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.>; 128, 326 <366 ff.>; 148, 296 <351 Rn. 128>; 149, 293 <328 Rn. 86>; 158, 1 <36 Rn. 70>). Eine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention ist allerdings nicht verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 <366, 392 f.>; 156, 354 <397 Rn. 122>). Bei der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention sind  die Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen, denn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zu (vgl. BVerfGE 111, 307 <320>; 128, 326 <368>; 148, 296 <351 f. Rn. 129>). Die Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe gemäß Art. 1 2 GG über den Einzelfall hinaus dient dazu, den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen, und kann darüber hinaus helfen, Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu vermeiden (vgl. BVerfGE 128, 326 <369>; 148, 296 <352 f. Rn. 130>).

Die Möglichkeit, eine Revision im Beschlussverfahren nach § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen, begegnet keinen konventionsrechtlichen Bedenken (vgl. schon BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 20 ff.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar grundsätzlich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 62). In Rechtsmittelverfahren gilt dieser Grundsatz aber nicht uneingeschränkt. Hat in der ersten Instanz eine öffentliche Verhandlung stattgefunden, kann es aufgrund der Besonderheit des betreffenden Verfahrens gerechtfertigt sein, dass in der zweiten oder dritten Instanz von einer mündlichen Verhandlung abgesehen wird (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 63; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 54; Stober v. Germany, Entscheidung vom 11. Dezember 2006, Nr. 39485/03, juris, § 37). Betrifft das Rechtsmittelverfahren nur Rechtsfragen, kann – je nach Ausgestaltung des Verfahrensrechts – von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden (vgl. EGMR, Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 50). Berücksichtigung finden können weiter die offensichtliche Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels sowie die Notwendigkeit, den Geschäftsanfall zu bewältigen und innerhalb angemessener Zeit zu entscheiden (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 63; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 49). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte respektiert insoweit die unterschiedliche Ausgestaltung der Rechtsmittelzüge in den Vertragsstaaten, die entweder eine vorgelagerte Annahmeentscheidung voraussetzen, für die der Öffentlichkeitsgrundsatz ohnehin nicht gilt, oder eine andere, vergleichbare Möglichkeit zur vereinfachten Erledigung aussichtsloser Rechtsmittel vorsehen (vgl. EGMR, Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 52). Auch bei einer Kompetenz des Rechtsmittelgerichts zur Befassung mit Sachverhaltsfragen muss nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht zwingend eine öffentliche mündliche Hauptverhandlung durchgeführt werden (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 63; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, §§ 49 f.). Es kommt maßgeblich darauf an, ob sich die aufgeworfenen Fragen allein auf der Grundlage der Verfahrensakten angemessen entscheiden lassen (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, juris, § 64; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, § 50).

Nach diesen Kriterien ist die den Revisionsgerichten eingeräumte Möglichkeit, im Verfahren nach § 349 Abs. 2 StPO auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten, mit dem Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 24). Ohne Revisionshauptverhandlung ist es dem Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren nur möglich, das erstinstanzliche Urteil, das auf einer öffentlichen mündlichen Verhandlung beruht, nach § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und zugunsten des Beschwerdeführers zu entscheiden oder aber das Urteil durch eine Revisionsverwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO rechtskräftig werden zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. August 2005 – 2 BvR 1066/05 -, juris, Rn. 4; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2006 – 2 BvR 1401/05 -, Rn. 4). Andernfalls hat das Revisionsgericht nach § 349 Abs. 5 StPO durch Urteil, das heißt nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu entscheiden. Ein Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO kann nur bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit der Revision ergehen und setzt Einstimmigkeit voraus (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 -, Rn. 24). Des Weiteren ist die Revision auf die Prüfung von Rechtsfragen beschränkt, die sich regelmäßig nach Aktenlage entscheiden lassen; eine Beweisaufnahme über Tatfragen ist nicht statthaft, das Revisionsgericht ist an die Feststellungen des Tatgerichts gebunden (vgl. BVerfGE 54, 100 <116>). Überdies dient § 349 Abs. 2 StPO der Schonung der Ressourcen der Justiz, damit sich diese zügig aussichtsreichen Rechtsmitteln zuwenden kann, und folglich der Verwirklichung des durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Beschleunigungsgrundsatzes.

b) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist eine Gehörsverletzung weder dargetan noch aus sich heraus ersichtlich……“

Rest dann bitte im verlinkten Volltext selbst lesen. M.E. bringt der Beschluss des BVerfG nichts wesetnlich Neues, aber er fasst die Rechtsprechung zum rechtlichen Gehör und zu § 349 Abs. 2 StPO noch einmal schön zusammen.

2 Gedanken zu „Revision I: Revisionsverwerfung ohne HV zulässig?, oder: BVerfG hat (bei B.Zschäpe) keine Bedenken

  1. Glockenherr

    Frau Zschäpe scheint nicht glücklich zu sein mit ihrer Verurteilung.
    Das sei dieser Verbrecherin herzlichst gegönnt.

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