Archiv für den Monat: November 2022

StPO III: Angeklagter hat Wohnsitz im EU-Ausland, oder: Zustellung an Zustellungsbevollmächtigten unwirksam

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Und im dritten Posting des Tages dann noch etwas vom LG Heilbronn. Es geht um die Wirksamkeit der Zustellung eines Strafbefehls.

Die Staatsanwaltschaft führt seit Januar 2021 ein Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gegen den Angeklagten. Im Zuge dessen benannte der Angeklagte am 24.01.2021 im Rahmen einer „Niederschrift über eine Sicherheitsleistung“ eine „Frau T., U-Str., AG S.“ als Zustellungsbevollmächtigte für den Gerichtsbezirk S. Wegen der Einzelheiten der „Benennung“ verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erläßt das AG dann am 17.04. 2021 einen Strafbefehl über ein am 24. 01.2021 vom Angeklagten begangenes unerlaubtes Entfernen vom Unfallort. Am selben Tag verfügte der zuständige Richter die Zustellung des Strafbefehls in russischer und lettischer Sprache an die Zustellungsbevollmächtigte, die den Empfang der übersetzten Strafbefehle am 04.06.2021 für beide Sprachen bestätigte.

Am 24.06.2021 legitimierte sich die Verteidigerin und erhob zugleich Einspruch gegen den Strafbefehl. Nach erhaltener Akteneinsicht beantragte die Verteidigerin durch Schreiben vom 02.07.2021 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zugleich erhob sie nochmals Einspruch gegen den Strafbefehl. Die Staatsanwaltschaft beantragte daraufhin am 02.09.2021, dem Angeklagten unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 14.05.2020 (Aktenzeichen C-615/18) Wiedereinsetzung zu gewähren. Mehrere daraufhin verfasste Sachstandsanfragen von Staatsanwaltschaft „(vom 13. Oktober 2021, 11. November 2021, 13. Januar 2022, 10. Februar 2022 und 09. März 2022) und der Verteidigerin (vom 24. September 2021) blieben vom Gericht ohne nennenswerte Reaktion. Erst am 2. März 2022 wurde die „Akte im Schrank beim Richter lose aufgefunden“. Auf weitere Anfragen der Staatsanwaltschaft vom 13. April 2022 und 20. April 2022 per Email erging letztlich am 23. Mai 2022 die angefochtene Entscheidung, mit der der Einspruch des Angeklagten als auch dessen Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig verworfen wurden. Dieser Beschluss wurde der Zustellungsbevollmächtigten am 24. Mai 2022 und der Verteidigerin am 15. Juni 2022 zugestellt.

Mit Schreiben hat die Verteidigerin sofortige Beschwerde eingelegt und hatte damit beim LG mit dem LG Heilbronn, Beschl. v. 14.11.2022 – 2 Qs 91/22 – Erfolg

„Die sofortige Beschwerde ist nach §§ 411 Abs. 1, 46 Abs. 3, 311 Abs. 2 StPO zulässig und in der Sache erfolgreich. Der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts S. vom 17. April 2021 ist mangels wirksamer Zustellung desselben nicht verfristet, sodass es auf eine Wiedereinsetzung vorliegend nicht ankommt.

1. Eine wirksame Zustellung des Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten wäre nach § 132 StPO zur Sicherung der Durchführung des Strafverfahrens dann möglich, wenn der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorliegen. Zuständig für diese Anordnung, die ausweislich der Niederschrift von Amtsanwältin H. angeordnet wurde, ist nach § 132 Abs. 2 StPO indes der Ermittlungsrichter, nur bei Gefahr im Verzuge sind auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) hierfür zuständig. Der Akte lässt sich nicht ansatzweise entnehmen, aus welchem Grund eine Eilzuständigkeit vorgelegen haben soll. Überdies ist weder ersichtlich, ob der gemäß § 162 Abs. 1 StPO zuständige Richter kontaktiert wurde bzw. aus welchem Grund dies unterlassen wurde. In Betracht käme hierbei beispielsweise, dass der Beschuldigte nicht gegen seinen Willen festgehalten werden kann und daher die mit Verzögerungen verbundene richterliche Anordnung meist zu spät käme (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, StPO § 132 Rn. 7). Die Anordnung der Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten durch die Staatsanwaltschaft ist daher rechtswidrig und hat die Unwirksamkeit einer späteren Zustellung an den Bevollmächtigten zur Folge (LG Dresden NStZ-RR 2013, 286), weil sie auf einer groben Verkennung der Voraussetzungen des Richtervorbehalts beruht (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, StPO § 132 Rn. 7).

2. Der Einspruch des Angeklagten wäre darüber hinaus aufgrund der Vorgaben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch nicht verfristet.

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-615/18 (UY) ergibt sich, dass die im Recht der Mitgliedstaaten festgelegten Modalitäten der Unterrichtung über den Tatvorwurf nicht das unter anderem mit Art. 6 der RL 2012/13 verfolgte Ziel beeinträchtigen dürfen, das, wie sich auch aus dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten (EuGH, Urteil vom 14.05.2020 – C-615/18 (UY) Rn. 49 m.w.N.). Dieses Ziel verlangt jedoch ebenso wie die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten, die allein verpflichtet sind, für die Zustellung gerichtlicher Entscheidungen einen Bevollmächtigten zu benennen, dass der Beschuldigte über die volle Frist von zwei Wochen verfügt, um gegen einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einspruch einzulegen (EuGH a.a.O., Rn. 50, m.w.N.). Daher muss der Beschuldigte ab dem Zeitpunkt, zu dem er von einem solchen Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, so weit wie möglich in die gleiche Lage versetzt werden, als sei ihm der Strafbefehl persönlich zugestellt worden, und er muss insbesondere über die volle Einspruchsfrist verfügen (EuGH a.a.O., Rn. 51). Mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens ist es nicht zu vereinbaren, den Angeklagten auf die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verweisen, da in diesem Fall die zweiwöchige Einspruchsfrist in eine einwöchige Frist zur Anbringung eines Wiedereinsetzungsantrags halbiert würde. Die mit einem Wiedereinsetzungsantrag verbundenen Nachweispflichten sind ebensowenig mit den Anforderungen vereinbar, die sich aus Art. 6 der RL 2012/13 ergeben (EuGH a.a.O., Rn. 55 und 57).

Soll die unmittelbare Richtlinienwirkung bei fehlender oder – wie vorliegend gegeben – mangelhafter Umsetzung tatsächlich zum Zuge kommen, muss ein umfassender Anwendungsvorrang des Unionsrechts bestehen (Frenz, Handbuch Europarecht Band V, § 4 Rn. 1131, 1133 m.w.N.). Die Pflicht, entgegenstehende nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, besteht zudem unabhängig von der Evidenz des Verstoßes gegen das Europarecht (Burger DVBl. 2011, 985 (988)). Da dem Angeklagten nach deutschem Recht (§ 410 Abs. 1 StPO) eine Frist von zwei Wochen zugebilligt wird, binnen derer er schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Einspruch einlegen kann, muss aufgrund des Vorrangs des Europarechts eben diese – im Gegensatz zum Wiedereinsetzungsverfahren – an keinerlei besondere Nachweispflichten gekoppelte Einspruchseinlegung auch für den Beschuldigten bis zu zwei Wochen nach seiner Kenntnisnahme von dem Strafbefehl möglich sein. Er darf aufgrund der Darlegungs- und Nachweiserfordernisse sowie der kürzeren Frist nicht auf die Möglichkeit eines Wiedereinsetzungsantrags verwiesen werden.

Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist von einer fristgerechten Einspruchseinlegung auszugehen. Da ein konkreter Zugangsnachweis an den Beschuldigten nicht vorhanden ist und dieser (deshalb unwiderlegbar) vorgetragen hat, erst am 22. Juni 2021 Kenntnis von dem Strafbefehl erhalten zu haben, erfolgte die bereits 2 Tage später am 24. Juni 2021 erfolgte Einspruchseinlegung innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 410 Abs. 1 StPO.

3. Die Kammer regt aufgrund der erheblich verzögerten Bearbeitung des Verfahrens durch das Amtsgericht S. an, eine Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO in Erwägung zu ziehen.“

StPO II: Vollmachtsvorlage durch den Verteidiger, oder: Zustellung an den Betroffenen wirksam?

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Die zweite Entscheidung kommt dann ebenfalls vom OLG Brandenburg. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Gegen die Betroffene ergeht am 10.02.2021 ein Bußgeldbescheid wegen Verstoßes gegen die Wartepflicht an einem Bahnübergang als Führerin eines Kraftfahrzeuges gemäß §§ 24, 25 StVG, §§ 19 Abs. 2, 49 StVO, § 4 BKatV, Ziff. 89b2 BKat. Mit Schriftsatz vom 24.02.2021 meldet sich Rechtsanwalt K.  unter Vorlage einer Vollmachtsurkunde vom selben Tag als Verteidiger und legt gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt.

Durch Urteil vom 04.04. 2022 wird de rEinspruch der Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Mit Verfügung vom 04.04.2022 wird die förmliche Zustellung des Verwerfungsurteils an die Betroffene verfügt, nicht hingegen an den bevollmächtigten Rechtsanwalt. Das Urteil wird der Betroffenen am 08.04.022 zugestellt. Mit dem bei Gericht am 14.04.2022 eingegangenen Schreiben legte die Betroffene gegen das Verwerfungsurteil „Beschwerde“ ein.

Das AG verwirft als unzulässig, da nicht fristgemäß. Gegen den dem Verteidiger 15.06.2022 förmlich und der Betroffenen formlos zugestellten Beschluss hat die Betroffene am 2106.2022 eingegangenen Schreiben „erneute Beschwerde“ eingelegt. Die ist erfolglos geblieben.

Das OLG führt im OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.09.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 399/22 – aus:

„a) Die von der Betroffenen erhobene „Beschwerde“ ist gem. § 300 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG als „Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ gemäß § 346 Abs. 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 2 OWiG als der einzig statthafte Rechtsbehelf auszulegen. Dieser ist im Übrigen form- und fristgerecht eingelegt worden.

b) In der Sache hat der Rechtsbehelf jedoch keinen Erfolg.

aa) Die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde beträgt bei einem Abwesenheitsurteil – wie im vorliegenden Fall – gemäß § 341 Abs. 1, 2 iVm. 79 Abs. 3 OWiG eine Woche ab Zustellung der Entscheidung. Dem schließt sich die Begründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG an, die einen Monat beträgt.

Im vorliegenden Fall wurde das Urteil des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 4. April 2022 der Betroffenen am 8. April 2022 wirksam förmlich zugestellt. Die Zustellungsurkunde weist dies gem. § 1 Brb VwZG iVm. §§ 2, 3 VwZG und § 182 ZPO nach. Sie ist eine öffentliche Urkunde gem. § 415 ZPO, die volle Beweiskraft gem. § 418 ZPO entfaltet. Soweit nach § 415 Abs. 2 ZPO der Nachweis der Unrichtigkeit der durch zu Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen möglich ist, ist ein solcher Nachweis nicht geführt worden. Auch erfolgte die Zustellung auf Anordnung der Gerichtsvorsitzenden (§ 36 Abs. 1 S. 1 StPO iVm. § 71 OWiG). Mithin endete die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde gemäß § 43 Abs. 1, 2 StPO iVm. § 71 OWiG mit Ablauf des 15. April 2022 und die Monatsfrist zur Begründung der Rechtsbeschwerde mit Ablauf des 16. Mai 2022, da der 15. Mai 2022 auf einen Sonntag fiel.

Zwar erfolgte die Einlegung der Rechtsbeschwerde durch die Betroffene am 14. April 2022, fristgerecht, jedoch ist eine Begründung der Rechtsbeschwerde weder frist- noch formgerecht bei Gericht eingegangen. Das am 21. Juni 2022 bei Gericht eingegangene, selbst verfasste Schreiben der Betroffenen erfolgte nicht innerhalb der Begründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG und auch nicht in der Form des § 345 Abs. 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG, wonach die Begründung in einer von einem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgen muss. Zweck dieser Zulässigkeitsvoraussetzung für die Rechtsbeschwerde ist, dass die Anträge und die Begründung von sachkundiger Seite stammen und daher gesetzmäßig und sachgerecht sind; die Rechtsbeschwerdegerichte, mithin die Oberlandesgerichte, sollen dadurch vor Überlastung durch unsachgemäßes Vorbringen Rechtsunkundiger bewahrt werden (vgl. BVerfGE 46, 135, 152; BGHSt 25, 272, 273; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 345 Rdnr. 10).

bb) Die förmliche Zustellung des Verwerfungsurteils an die Betroffene ist auch wirksam. Zwar hatte der Verteidiger der Betroffenen bereits im Verwaltungsverfahren eine Vollmachtsurkunde zu den Akten gereicht, so dass er gemäß § 145a Abs. 1 StPO iVm. § 71 OWiG als ermächtigt gilt, Zustellungen im Empfang zu nehmen. Von daher wäre das Bußgeldgericht gehalten gewesen, das Urteil dem Verteidiger zuzustellen und die Betroffene davon formlos zu unterrichten (vgl. § 145a Abs. 3 Satz 1 StPO, Nr. 154 Abs. 1 RiStBV). Die Vorschrift des § 145a Abs. 1 StPO ist jedoch eine bloße Ordnungsvorschrift und begründet keine Rechtspflicht, Zustellungen für die Betroffene an deren Verteidiger zu bewirken (allgemeine Ansicht, statt vieler: vgl. KG, Beschluss vom 27. November 2020, (5) 161 Ss 155/20 (47/20), in: StraFo 2021, 69 ff.; OLG Hamm, Beschluss vom 8. Mai 2007, 4 Ws 210/07). Daher sind auch an die Betroffene vorgenommene Zustellungen wirksam und setzen Rechtsmittelfristen in Gang (vgl. BVerfG NJW 2001, 2532; BGHSt 18, 352, 354; BayObLG VRS 76, 307; OLG Düsseldorf NStZ 1989, 88; OLG Frankfurt StV 1986, 288; OLG Karlsruhe VRS 105, 348; OLG Köln VRS 101, 373; KG a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 145a Rn 6). Die Rechtsbeschwerde ist daher unzulässig, weil Rechtsbeschwerdebegründung verfristet und nicht formgerecht eingelegt worden ist. Mithin hat das Amtsgericht das Rechtsmittel zu Recht nach § 346 Abs. 1 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG verworfen.

cc) Es besteht auch keine Veranlassung, der Betroffenen von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zwar kann die unterlassene Zustellung der Entscheidung oder das Unterlassen einer entsprechenden Benachrichtigung von der Zustellung an den Betroffenen oder Verteidiger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen, wenn die Fristversäumung auf diesem Unterlassen beruht und nicht besondere Umstände vorliegen, die der Betroffenen Anlass geben mussten, für die Einhaltung der Frist auch selbst Sorge zu tragen (vgl. KG a.a.O.), jedoch hatte der Verteidiger spätestens mit der Zustellung des Beschlusses vom 23. Mai 2022, die 15. Juni 2022 erfolgt ist, von dem Verwerfungsurteil vom 4. April 2022 Kenntnis, was wiederum die Wiedereinsetzungsfrist des § 45 Abs. 1 StPO ausgelöst hat, innerhalb der gemäß § 45 Abs. 2 Satz StPO die versäumte Handlung in der gesetzlichen Form nachzuholen gewesen wäre, was nicht geschehen ist.“

StPO I: Wo ist nach Zustellung das Verteidiger-EB?, oder: Akte nach Einsichtnahme „dankend zurückgereicht“

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Heute mache ich zur Wochenmitte einen „Zustellungstag“, also StPO-Entscheidungen, die sich mit mit der Wirksamkeit einer Zustellung befassen.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 14.09.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 394/22. Folgender Ablauf: Das AG verurteilt die Betroffene am 13. April 2022 wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße. Gegen das Urteil hat die Betroffene mit einem bei Gericht am 19.04.2022 angebrachten Anwaltsschriftsatz Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt.  Das mit Gründen versehene schriftliche Urteil gelangte am 10.05.2022 zu den Akten. Am selben Tag verfügte der Bußgeldrichter die förmliche Zustellung des Urteils sowohl an die Betroffene als auch an deren Verteidiger, dessen Vollmachtsurkunde sich bei den Akten befindet. Ausweislich des Vermerks der Geschäftsstelle wurde die Verfügung noch am 10.05.2022 ausgeführt. Die Zustellung an die Betroffene, die zunächst erfolglos blieb, erfolgte ausweislich der Postzustellungsurkunde schließlich am 19.05.2022; ein Nachweis hinsichtlich der Zustellung an den Verteidiger befindet sich nicht bei den Akten.

Zugleich mit der Verfügung vom 10.05. 2022 wurde dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt. Mit Anwaltsschriftsatz vom 13.05.2022 wurde die Akte „nach erfolgter Einsichtnahme dankend zurückgereicht“; am 23. Mai 2022 ist die Akte wieder bei Gericht eingegangen (Bl. 102 R, 103 d.A.).

Das AG hat dann mit Beschluss vom 23.06.2022 den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 346 Abs. 1 StPO iVm. § 80 Abs. 3, Abs. 4 OWiG als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel nicht gemäß innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1, 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, Abs. 4 OWiG begründet worden sei.

Dagegen der Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts und der Wiedereinsetzungsantrag. Beides hatte keinen Erfolg:

„a) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 346 Abs. 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 2 OWiG ist form- und fristgerecht eingelegt worden.

In der Sache hat der Rechtsbehelf jedoch keinen Erfolg.

aa) Die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde beträgt nach § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG einen Monat ab Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe.

Im vorliegenden Fall wurde das Urteil des Amtsgerichts Zossen vom 13. April 2022 der Betroffenen am 19. Mai 2022 wirksam förmlich zugestellt. Die Zustellungsurkunde weist dies gem. § 1 BrbVwZG iVm. §§2, 3 BrbVwZG und §182 ZPO nach. Sie ist eine öffentliche Urkunde gem. §415 ZPO, die volle Beweiskraft gem. §418 ZPO entfaltet. Soweit nach §415 Abs.2 ZPO der Nachweis der Unrichtigkeit der durch zu Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen möglich ist, ist ein solcher Nachweis nicht geführt worden. Auch erfolgte die Zustellung auf Anordnung des Gerichtsvorsitzenden (§ 36 Abs.1 S.1 StPO iVm. §71 OWiG). Mithin endete die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags bzw. der Rechtsbeschwerde gemäß § 43 Abs. 1, 2 StPO iVm. § 71 OWiG mit Ablauf des 20. Juni 2022, da der 19. Juni 2022 auf einen Sonntag fiel. Eine Begründungsschrift ist bisher nicht bei Gericht eingegangen, so dass das Amtsgericht Zossen zutreffend den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 23. Juni 2022 als unzulässig verworfen hat.

bb) Der Umstand, dass das Empfangsbekenntnis des Verteidigers nicht zu der Akte gelangt ist, wobei jedoch die förmliche Zustellung an den Verteidiger richterlich verfügt, auch ausgeführt wurde, kann im vorliegenden Fall nicht den Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, Abs. 4 OWiG auf Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses begründen. Denn ausweislich der richterlichen Verfügung vom 10. Mai 2022 wurde dem Verteidiger der Betroffenen zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die schriftlichen Urteilsgründe bereits bei der Akte befanden, Akteneinsicht für die Dauer von 3 Tagen gewährt (Bl. 102 d.A.). Mit Anwaltsschriftsatz vom 13. Mai 2022 wurde – wie oben dargelegt – die Akte „nach erfolgter Einsichtnahme dankend zurückgereicht“; am 23. Mai 2022 ist die Akte wieder bei Gericht eingegangen. Mithin hatte der Verteidiger noch vor der Betroffenen Kenntnis von dem schriftlichen Urteil. Wenn die Akte mit dem schriftlichen Urteil nach Akteneinsicht, „nach erfolgter Einsichtnahme“, durch den Verteidiger dem Gericht zurückgereicht wird, kann sich die Betroffene bzw. deren Verteidiger nicht darauf berufen, dass sich das Empfangsbekenntnis nicht bei den Akten befindet; dies wäre rechtsmissbräuchlich.

cc) Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass eine förmliche Zustellung des Urteils vom 13. April 2022 an die Betroffene erfolgt ist.

Zwar hatte der Verteidiger der Betroffenen bereits im Verwaltungsverfahren eine Vollmachtsurkunde zu den Akten gereicht, so dass er gemäß §145a Abs.1 StPO iVm. §71 OWiG (Nr. 154 Abs. 1 RiStBV) als ermächtigt gilt, Zustellungen im Empfang zu nehmen. Von daher wäre das Bußgeldgericht gehalten gewesen, vor Erlass des Verwerfungsbeschlusses das Empfangsbekenntnis als Zustellungsnachweis einzufordern. Die Vorschrift des §145a Abs.1 StPO ist jedoch eine bloße Ordnungsvorschrift und begründet keine Rechtspflicht, Zustellungen für die Betroffene an deren Verteidiger zu bewirken (allgemeine Ansicht, statt vieler: vgl. KG, Beschluss vom 27. November 2020, (5) 161 Ss 155/20 (47/20), in: StraFo 2021, 69 ff.; OLG Hamm, Beschluss vom 8. Mai 2007, 4 Ws 210/07; siehe auch Senatsbeschluss vom 19. September 2019, (1 B) 53 Ss-OWi 438/19 (266/19), zit. n. juris, dort Rn 18). Daher sind auch an die Betroffene vorgenommenen Zustellungen wirksam und setzen Rechtsmittelfristen sowohl hinsichtlich der Einlegung als auch hinsichtlich der Begründung in Gang (vgl. BVerfG NJW 2001, 2532; BGHSt 18, 352, 354; BayObLG VRS 76, 307; OLG Düsseldorf NStZ 1989, 88; OLG Frankfurt StV 1986, 288; OLG Karlsruhe VRS 105, 348; OLG Köln VRS 101, 373; KG a.a.O.; Senatsbeschluss a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 145a Rn 6). Wenn aber schon die unterlassene förmliche Zustellung des Urteils an den Verteidiger im vorliegenden Fall nicht maßgeblich sein kann, muss dies erst Recht für die unterlassene Anforderung des Empfangsbekenntnisses gelten. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als der Verteidiger – wie oben ausgeführt – infolge der gewährten Akteneinsicht spätestens am 13. Mai 2022 Kenntnis von dem angefochtenen Urteil hatte, mag auch die bloße Aktenübersendung die Rechtsmittelfrist nicht in Gang gesetzt haben (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 19. September 2019, (1 B) 53 Ss-OWi 438/19 (266/19), zit. n. juris, dort Rn 15), sondern die Zustellung an die Betroffene.

Der Zulassungsantrag bzw. die Rechtsbeschwerde ist daher unzulässig, weil sie verfristet und nicht formgerecht begründet worden ist. Mithin hat das Amtsgericht das Rechtsmittel zu Recht nach § 346 Abs. 1 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG verworfen.

b) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags bzw. der Rechtsbeschwerde ist zurückzuweisen. Weder die Betroffene noch deren Verteidiger waren gemäß § 44 StPO iVm. § 46 OWiG „ohne Verschulden“ gehindert, die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde einzuhalten; der Betroffenen wurde das Urteil vom 13. April 2022 förmlich zugestellt, der Verteidiger hatte infolge gewährter Akteneinsicht Kenntnis von dem angefochtenen Urteil. Überdies ist innerhalb der Antragsfrist des § 45 Abs. 1 StPO iVm. § 46 OWiG die versäumte Handlung nicht nachgeholt worden, denn infolge der Einsichtnahme in die Akten wäre es dem Verteidiger der Betroffenen möglich gewesen, das Rechtsmittel mit Anträgen zu versehen und zu begründen.“

Termin III: „.. nimm doch einen anderen Verteidiger“, oder: Auch im OWi-Verfahren Anwalt des Vertrauens

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Und dann als dritte Entscheidung noch der LG Wuppertal, Beschl. v. 11.11.2022 – 26 Qs 230/22 (523 Js 644/22). Der stammt zwar aus dem Bußgeldverfahren, die Fragen der Terminierung bzw. der Terminsverlegung spielen aber auch da eine große Rolle.

Hier hatte die Amtsrichterin eine Terminsverlegung (mal wieder) mit der Begründung abgelehnt, der Betroffene könne ja einen anderen Verteidiger wählen. Das LG ist dem nicht gefolgt:

„Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Auch in einem Bußgeldverfahren hat der Betroffene regelmäßig das Recht, sich durch einen Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu lassen. Diese Gewährleistung ist Ausdruck seines von Art. 20 Abs. 3 GG geschützten Anspruchs auf ein faires Verfahren (BayObLG, BeckRS 2020, 35554; OLG Brandenburg, BeckRS 2020, 35233; OLG Köln, BeckRS 2005, 13580; BayObLG, BeckRS 2001, 8950). Die Terminierung ist zwar Sache der Vorsitzenden. Die Vorsitzende ist aber gehalten, über Terminsverlegungsanträge nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (BayObLG, BeckRS 2020, 35554; OLG Brandenburg, BeckRS 2020, 35233; OLG Bamberg, Beschluss vom 04.03.2011, Az. 2 Ss OWi 209/11). In die Abwägung einzustellen sind insbesondere die Bedeutung der Sache, die Lage des Verfahrens bei Eintritt des Verhinderungsfalles, der Anlass, die Voraussehbarkeit und die voraussichtliche Dauer der Verhinderung, die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und damit zusammenhängend die Fähigkeit des Betroffenen, sich selbst zu verteidigen und das Gebot der Verfahrensbeschleunigung.

Gemessen an diesen Anforderungen leidet die Entscheidung hier an einem Ermessensfehler. Denn das Amtsgericht hat sich bei Ablehnung der Terminsverlegung maßgeblich darauf gestützt, dass der Termin bereits mehrfach verlegt worden sei und der Betroffene einen anderen Verteidiger wählen könne. Vorliegend ist der Betroffene durch den Bußgeldbescheid nicht nur mit einem Bußgeld, sondern auch mit einem Punkt im Fahreignungsregister belegt worden, was keine ganz unerhebliche Sanktion darstellt. Zudem droht dem Betroffenen hierdurch der (erneute) Verlust der Fahrerlaubnis, da er bereits mehrfach einschlägig vorbelastet ist. In dieser Lage kann dem Betroffenen nicht verwehrt werden, sich von dem Verteidiger seines Vertrauens, der ihn bereits seit längerer Zeit vertritt, vertreten zu lassen. Auch ist keine auf Prozessverschleppung ausgerichtete Verteidigungsstrategie erkennbar, da der Verteidiger ausdrücklich eine telefonische Terminsabsprache angeboten hat, das Amtsgericht diese Möglichkeit jedoch nicht in Betracht gezogen hat. Eine Verjährung droht — auch vor dem Hintergrund einer nicht näher dargelegten „angespannten Terminslage“ des Amtsgerichts – ebenfalls noch nicht, da eine absolute Verjährung erst im Februar 2024 eintreten kann.

Da die Vorsitzende somit von dem ihr zustehenden pflichtgemäßen Ermessen keinen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, waren der angefochtene Beschluss und der Hauptverhandlungstermin vom 01.12.2022 aufzuheben. Da vorliegend aufgrund der Terminskollision des Wahlverteidigers nur eine Aufhebung bzw. Verlegung des Termins vom 01.12.2022 in Betracht kommt, kann die Kammer als Beschwerdegericht diese Entscheidung auch selbst treffen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O.).“

Termin II: Ermessensausübung beim Terminieren, oder: Anspruch auf den Verteidiger des Vertrauens

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.09.2022 – 4 Ws 403/22 – geht es um Terminierungsfragen und die Ausübung des Vorsitzendenermessen bei der Terminierung.

Ergangen ist der Beschluss in einem gegen den Angeklagten pp. sowie gegen zwei weitere Angeklagte laufenden Verfahrens wegen des Verdachts des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u. a. geführt. Das LG hat nach Eingang Anklageschrift am 29.07.2022 mit der Pflichtverteidigerin des Angeklagten, Rechtsanwältin E sowie mit den Verteidigern der beiden Mitangeklagten mögliche Hauptverhandlungstermine abgestimmt.

Vor dem Eingang der Anklageschrift beim LG hatte sich am 25.07.2022 Rechtsanwalt B. gegenüber der Staatsanwaltschaft für den Angeklagten pp. legitimiert und Akteneinsicht beantragt. Eine Weiterleitung des Schriftsatzes an das LG im Nachgang zur Anklage durch die Staatsanwaltschaft ist nicht erfolgt. Auch wurden weder Rechtsanwalt B. noch der Angeklagte auf die bereits erhobene Anklage hingewiesen. Infolgedessen blieb Rechtsanwalt B. bei der Abstimmung der möglichen Hauptverhandlungstermine mit den Verfahrensbeteiligten unberücksichtigt.

Mit Verfügung vom 22.08.2022 hat der Vorsitzende für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens Hauptverhandlungstermine auf den 8. , 14. und 17.11. sowie weitere Fortsetzungstermine bestimmt. Tags darauf hat sich Rechtsanwalt B. telefonisch an die Geschäftsstelle des Landgerichts gewandt und in der Folge per Fax seine verfügbaren Termine übermittelt. Am 24.08.2022 hat der Vorsitzende Rechtsanwalt B. mitteilen lassen, dass die Kammer für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens bereits vor dem Erhalt seines Schreibens vom Vortag Termine bestimmt habe. Sein Legitimationsschreiben habe sich nicht bei der Akte befunden. Ebenfalls am 24.08.2022 hat das LG die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen.

Gegen die Terminsverfügung des Vorsitzenden hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Die hatte beim OLG Erfolg. Das OLG sieht die Beschwerde als zulässig an – insoweit bitte selbst lesen. Zur Begründung führt es aus:

„2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der Vorsitzende hat das ihm im Rahmen der Terminierung zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Die Terminsverfügung ist deshalb rechtsfehlerhaft.

a) Zwar liegt die Terminshoheit beim Vorsitzenden (§ 213 StPO). Sowohl der Angeklagte als auch der Verteidiger haben keinen allgemeinen Rechtsanspruch auf die Anberaumung eines „Wunschtermins“, und aus seinem Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, folgt auch nicht, dass bei jeder Ver-hinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden könnte (BGH, NStZ 2007, 163, 164). Der Angeklagte hat im Falle einer Verhinderung seines Verteidigers auch kein Recht, die Aussetzung einer Hauptverhandlung zu verlangen (§ 228 Abs. 2 StPO). Die Entscheidung des Vorsitzenden ist überdies nur eingeschränkt dahingehend überprüfbar, ob die rechtlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens eingehalten und ob das ihm zustehende Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt wurde.

b) Eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass der Vorsitzende neben der Belastung des Gerichts auch berechtigte Wünsche der Prozessbeteiligten, insbesondere des Verteidigers, berücksichtigt. Insbesondere muss er sich ernsthaft bemühen, dem Recht des Angeklagten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen (Art. 6 Abs. 3c EMRK, § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO), soweit wie möglich Geltung zu verschaffen und einem nachvollziehbaren Begehren dieses Verteidigers bezüglich der Terminierung im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten der Strafkammer und anderer Verfahrensbeteiligter sowie des Gebots der Verfahrensbeschleunigung Rechnung zu tragen (BGH, Beschluss vom 21. März 2018 — 1 StR 415/17).

Von dieser Verpflichtung wurde der Vorsitzende vorliegend nicht deshalb frei, weil der Angeklagte in der Hauptverhandlung durch seine Pflichtverteidigerin vertreten sein wird. Die terminliche Verfügbarkeit von Rechtsanwalt B, ist deshalb nicht irrelevant, zumal dessen Mandatierung als Wahlverteidiger auch Anlass gibt, eine Aufhebung der Bestellung gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO zu prüfen.

c) Ein derartiges Bemühen des Vorsitzenden ist vorliegend weder bei der Bestimmung der Hauptverhandlungstermine noch hinsichtlich des nachfolgenden Schreibens von Rechtsanwalt B. noch im Rahmen der Entscheidung über die Nichtabhilfe ersichtlich. Auch erscheint eine anderweitige Terminierung nicht von vornherein ausgeschlossen, nachdem die übrigen Verteidiger an den von Rechtsanwalt B. vorgeschlagenen Hauptverhandlungsterminen jedenfalls nicht allesamt und nicht durchgängig verhindert sind.

aa) Dabei hat der Senat nicht übersehen, dass die Verhinderungen von Rechtsanwalt B. bei der Anberaumung der Hauptverhandlungstermine vom Vorsitzenden nicht berücksichtigt werden konnte, da ihm der Legitimierungsschriftsatz vom 25. Juli 2022 zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vorlag und eine ordnungsgemäße Ermessensausübung schon deshalb nicht möglich war. Dies ist indes weder dem Angeklagten noch Rechtsanwalt B, der von der zwischenzeitlich erfolgten Erhebung der Anklage keine Kenntnis hatte und seine Verteidigungsanzeige deshalb zwingend an die Staatsanwaltschaft richten musste, anzulasten.

Vielmehr hätte es der Staatsanwaltschaft oblegen, die Verteidigungsanzeige im Nachgang zur Anklageschrift unmittelbar an das Landgericht weiterzuleiten. Dies ist aus ersichtlich nicht vom Angeklagten oder dessen Verteidigung zu vertretenden Gründen nicht erfolgt. Auch bestand ersichtlich keine Verpflichtung für Rechtsanwältin E. die Strafkammer von der Mandatierung eines zweiten Verteidigers zu informieren und so das Versäumnis der Staatsanwaltschaft auszugleichen.

bb) Es ist jedoch auch nicht erkennbar, dass die berechtigten Belange des Angeklagten im Hinblick auf eine Vertretung (auch) durch Rechtsanwalt B. in der Hauptverhandlung im weiteren Verlauf des Verfahrens oder im Rahmen der Nichtabhilfeentscheidung Berücksichtigung gefunden hätten. Stattdessen wird dort lediglich ausgeführt, dass eine nachträgliche Berücksichtigung der von Rechtsanwalt B. mitgeteilten freien Termine nicht möglich gewesen wäre und die Sache eilbedürftig sei, obwohl die Hauptverhandlung erst in knapp zwei Monaten beginnen soll. Ein deutlich früherer Beginn wurde nicht erwogen, bei den Verteidigern wurden Termine erst ab dem 31. Oktober 2022 abgefragt.

Zudem hätten etwa am 7. November 2022 sämtliche Verteidiger zur Verfügung gestanden, Rechtsanwältin E. und Rechtsanwalt U jeweils ganztags, Rechtsanwalt K zumindest vormittags. Dennoch ist nicht ersichtlich, dass eine anderweitige Terminierung auch nur erwogen wurde, eine Ermessensausübung fand weiterhin nicht statt. Dies zwingt zur Aufhebung der Terminsverfügung im Umfang der Anfechtung.

3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass der Vorsitzende trotz der nunmehr erfolgten Terminsaufhebungen nicht gezwungen ist, mit der Hauptverhandlung erst Ende November oder gar zu einem noch späteren Zeitpunkt zu beginnen. Auch ist es aufgrund der Entscheidung des Senats nicht von vornherein ausgeschlossen, erneut Hauptverhandlungstermine auf den 8., 14. und 17. November 2022 anzuberaumen.

Denn der Vorsitzende ist lediglich gehalten, sich nach Kräften zu bemühen, eine Verteidigung aller Angeklagter durch die jeweils von ihnen gewünschten Verteidiger zu gewährleisten. Sollte es trotz solcher – bislang gegenüber Rechtsanwalt B. nicht erfolgter – Bemühungen nicht gelingen, Terminkollisionen zu beheben und Alternativtermine abzustimmen, an denen alle vier an dem Verfahren beteiligten Verteidiger zur Verfügung stehen, ohne dass dies zu Verfahrensverzögerungen führen würde, wird im Rahmen der Ermessensausübung insbesondere das Beschleunigungsgebot zu berücksichtigen sein. Dieses steht nicht zur Disposition des Angeklagten (OLG Stuttgart, NStZ 2016, 436). Insoweit wird der Vorsitzende auch bemüht sein — sollte der Senat nach Abschluss der noch ausstehenden Haftprüfung gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO Haftfortdauer anordnen — eine nochmalige Vorlage nach neun Monaten Untersuchungshaft zu vermeiden.

Darüber hinaus kann im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden, ob an den in Betracht kommenden Hauptverhandlungstagen bei mehreren Verteidigern Terminkollisionen vorliegen oder etwa nur bei einem Verteidiger, zumal wenn dessen Mandant anderweitig anwaltlich vertreten ist.

Soweit an möglichen Terminstagen bereits anderweitige, ebenfalls dem Beschleunigungs-gebot unterliegenden Haftsachen anberaumt sind, kann dies im Rahmen der Ermessens-ausübung ebenfalls in die Erwägungen einbezogen werden.“

Irgendwie hat man den Eindruck, dass der Vorsitzende „nicht so richtig wollte“, wie es das OLG gern gesehen hätte.