Und dann heute noch eine Sondermeldung, Nämlich zum OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2020, – Ws 962 – 963/20. Der ist gerade erst rein gekommen, für das letzte Posting hat es nicht mehr gereicht. Also schicke ich den Beitrag hinterher 🙂 .
Es geht um die nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers (im Strafvollstreckungsverfahren). Das OLG Nürnberg hat – Überraschung!! – die Beiordnung bejaht:
2. Die rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers für den Zeitraum ab Antragstellung (06.03.2020) ist vorliegend möglich, da die Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung für das Vollstreckungsverfahren zu diesem Zeitpunkt vorlagen und die Entscheidung über die Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. So hat das Landgericht erst am 12.05.2020 (nach Aufhebung der Widerrufsentscheidung vom 14.02.2020 durch den Senat am 09.04.2020) entschieden, den Senat erreichte die Beschwerdevorlage sogar erst am 19.10.2020.
Die Bestellung erfolgt für den Verfahrensabschnitt des Strafvollstreckungsverfahrens, welcher die Entscheidung über den Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft Passau vom 15.01.2020 betrifft.
a) Der Senat hat im Blick, dass die überwiegende Rechtsmeinung (zum Streitstand: Willnow in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl., § 141 Rn. 12 und Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 142 Rn. 19) die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers selbst dann für unzulässig erachtet, wenn die Entscheidung über den Antrag versäumt wurde. Dies mit der Begründung, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in der Zukunft diene. Eine Rückwirkung wäre auf etwas Unmögliches gerichtet und würde eine notwendige Verteidigung des Angeklagten in der Vergangenheit nicht gewährleisten. Eine Beiordnung erfolge insbesondere nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder um dem Verteidiger einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (so zuletzt OLG Brandenburg, Beschl. v. 09.03.2020, 1 Ws 19/20 u. 20/20, und OLG Bremen, Beschl. v. 23.09.2020, 1 Ws 120/20).
b) Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/EU ist die Annahme eines Rückwirkungsverbotes indes nicht mehr tragfähig.
Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/1919/EU (“PKH-Richtlinie“) haben die Mitgliedstaaten sicher zu stellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Mit „Prozesskostenhilfe“ wird hierbei die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann (Art. 3 der Richtlinie 2016/1919/EU). Über den rechtzeitigen und praktisch wirksamen Zugang zur Wahrnehmung der Verteidigerrechte hinaus (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU) regelt Art. 4 der Richtlinie 2016/1919/EU nunmehr also auch die finanziellen Grundlagen und zwar in der Weise, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden soll. Zweck und Ziel dieser Regelung kann – im Blick auf Fallkonstellationen wie die vorliegende – nur eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten sein. Diese würde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (so auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20).
Der Senat zieht hierbei die Wertungen der das Strafverfahren betreffenden Richtlinie 2016/1919/EU auch im Strafvollstreckungsverfahren heran, da sich ansonsten ein unüberbrückbarer Wertungswiderspruch innerhalb des Rechts der Pflichtverteidigung zwischen den Straf- und dem Strafvollstreckungsrecht ergäbe.
Gestützt wird die Rechtsauffassung des Senats auch durch das Unverzüglichkeitsgebot in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Mit dieser neuen Fassung der Vorschrift kommt der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sieht. Ebenso wurde im Zuge der gesetzlichen Neuregelung die bisher statthafte einfache Beschwerde durch die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO ersetzt. Die Bestellungsentscheidung – samt der mit dieser verbundenen Alimentierung des Verteidigers – muss also schnell fallen. Gerade die vorliegende, äußerst lange Verzögerung bis zur abschließenden Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung erst mit diesem Beschluss – acht Monate nach Antragstellung und lange nach Rücknahme des Widerrufsantrags – zeigt, dass die Annahme der bislang vorherrschenden Rechtsauffassung einer Erledigung des Bedarfs für die Pflichtverteidigerbestellung durch Zeitablauf nicht mit der Intention des Gesetzgebers vereinbar ist.
Somit ist vorliegend eine rückwirkende Bestellung des Rechtsanwalts pp. für das Strafvollstreckungsverfahren und hierbei das Verfahren über die Entscheidung des Widerrufsantrags der Staatsanwaltschaft Passau mit Wirkung der am 06.03.2020 erfolgten Antragstellung möglich.“
Hut ab, dass man sich dort nicht verbogen hat!