Archiv für den Monat: November 2020

Strafzumessung II: „Du hast die Tat nicht abgebrochen und warst nicht einsichtig“, oder: Dauerbrenner

Smiley

Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 07.10.2020 – 4 StR 364/20. Eine „Dauerbrennerentscheidung“, denn man fragt sich auch hier: Wie oft muss der BGH die Fehler denn noch beanstanden? Es geht um Folgendes:

„4. Die Bemessung der in den Fällen II. 10 und 13 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen begegnet durchgreifenden revisionsrechtlichen Bedenken.

Die Strafkammer hat dem Angeklagten im Fall II. 10 der Urteilsgründe (vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis) vorgeworfen, dass die Fahrt durch mehrfaches Parken und Starten unterbrochen war und er deshalb die Möglichkeit gehabt habe, seine Handlungsweise zu überdenken. Diese Erwägung verstößt gegen § 46 Abs. 3 StGB. Denn damit wird dem Angeklagten zur Last gelegt, die Tat nicht abgebrochen, sondern in dem vorliegenden Umfang begangen zu haben. Die Tatbegehung als solche darf dem Täter aber nicht zusätzlich angelastet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2019 – 5 StR 467/19, Rn. 6 [unzulässiger Vorwurf der Tatvollendung]; Urteil vom 9. Oktober 2019 – 5 StR 299/19, Rn. 16 [energische Verfolgung des Tatziels]; Beschluss vom 15. Oktober 2003 – 2 StR 332/03 [mehrfache Gelegenheit, die Tat abzubrechen]; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 46 Rn. 76b mwN).

Im Fall II. 13 der Urteilsgründe (vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis) hat das Landgericht zum Nachteil des Angeklagten gewertet, dass er keine erkennbare Unrechtseinsicht gezeigt, sondern uneinsichtig betont habe, die Fahrschule abgebrochen zu haben, weil er schon fahren könne. Erkennbare Unrechtseinsicht kann sich zwar strafmildernd auswirken; ihr Fehlen berechtigt aber nicht ohne weiteres dazu, diesen Umstand zu Lasten des Täters zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. August 2018 . 4 StR 325/18, Rn. 5 [zum Fehlen verständlicher Motive]; Urteil vom 9. Oktober 2013 – 2 StR 119/13, NStZ-RR 2014, 45, 46 mwN).“

Strafzumessung I: Geständnis und Mittäter, oder: Wie oft denn noch?

© Fotomek – Fotolia.com

Ich habe länger keine Entscheidungen mirh zur Strafzumessung gebracht. Heute stelle ich dann mal wieder drei vor.

Zunächst kommt das der BGH, Beschl. v. 20.05.2020 – 2 StR 62/20. Das LG hat den Angeklagten wegen „unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln unter Mitsichführen einer Waffe“ verurteilt. Dagegen legt der Angeklagte Revision ein. Die hat wegen des Schuldspruchs einen Erfolg, aber wegen des Strafausspruchs greift sie durch:

„Rechtlich nicht unbedenklich erscheint bereits die Formulierung, ein Geständnis habe nicht berücksichtigt werden können, weil sich der Angeklagte „nicht eingelassen“ habe. Macht ein Angeklagter von seinem Schweigerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 2015 – 3 StR 11/15, NStZ 2016, 59). Durchgreifend rechtsfehlerhaft ist die Wertung der Strafkammer zulasten des Angeklagten, er habe „die Tat mit wenigstens einem Mittäter gemeinschaftlich begangen“. Allein der Umstand mittäterschaftlichen Handelns besagt noch nichts über das Maß der Tatschuld des einzelnen Beteiligten (vgl. Senat, Beschluss vom 7. September 2015 – 2 StR 124/15, NStZ-RR 2016, 74; BGH, Beschluss vom 5. April 2016 – 3 StR 428/15, NStZ 2016, 525; SSW-StGB/Eschelbach, 4. Aufl., § 46 Rn. 80).“

Zu beiden Punkten kann man sich nur fragen: Wie oft muss der BGH das eigentlich noch beanstanden?

Verkehrsrecht III: Vorläufige Entziehung der FE, oder: Wie geht das nochmal mit den Rechtsmitteln?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

In der dritten Entscheidung, dem KG, Beschl. v. 19.10.2020 – 3 Ws  241/20, – geht es auch noch einmal um ein verfahrensrechtliches Problem. Es geht um die Frage der Rechtsmittel gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis.

In einem Ermittlungsverfahren wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens (§ 315d StGB) ist der Führerschein des Beschuldigten am 31.03.2020 beschlagnahmt worden. Auf den Widerspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 11.06.2020 dem Beschuldigten gemäß § 111a Abs. 1 StPO die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen vorläufig entzogen und die Beschlagnahme des Führerscheins bestätigt.

Am 29.06.2020 hat die zuständige Polizeidienststelle weitere Ermittlungsergebnisse zu den Akten übersandt, unter anderem von Zeugen ausgefüllte Fragebögen sowie Schlussberichte. Mit Schriftsatz vom 17.08,2020 hat der Verteidiger des Beschuldigten eine schriftliche Stellungnahme zum Tatvorwurf zu den Akten übermittelt. Er hat eingangs wörtlich beantragt, „die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a Abs.1 StPO…nach § 111a Abs.2 StPO (Unterstreichung im Schriftsatz) aufzuheben sowie den beschlagnahmten Führerschein …herauszugeben“. Außerdem hat er eine Einlassung für den Beschuldigten abgegeben, Ausführungen zu dem seiner Ansicht nach nicht bestehenden hinreichenden Tatverdacht unter Würdigung des aktuellen Ergebnisses der. Ermittlungen gemacht und die Ansicht vertreten, das Verfahren sei nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen. Auf die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft, die einer Aufhebung des Beschlusses entgegengetreten ist, hat der zuständige Amtsrichter mit Verfügung vom 21.08.2020 vermerkt, dass der Vortrag des Beschuldigten vorn 17.08.2020 als Beschwerde anzusehen sei, der er nicht abhelfe. Mit Beschluss vom 03. 09.2020 hat das Landgericht Berlin die Beschwerde des Beschuldigten aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung des AG vom 11.06.2020 verworfen.

Dagegen die Beschwerde des Beschuldigten, die beim KG Erfolg hatte:

„1. Die Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und nicht gemäß § 310 Abs. 2 StPO ausgeschlossen, denn es handelt sich nicht um eine weitere Beschwerde im Sinne dieser Vorschrift.

a) Gemäß § 310 Abs. 2, Abs. 1 StPO findet eine weitere Anfechtung einer auf eine Beschwerde ergangenen Entscheidung nur in den in Absatz 1 genannten Fällen statt, die hier nicht vorliegen. Gleichwohl ist die Beschwerde hier statthaft, weil das Landgericht, dessen Entscheidung mit der Beschwerde angefochten wird, nicht auf eine Beschwerde hin entschieden hat, sondern eine erstinstanzliche Entscheidung getroffen hat. Die Entscheidung des Landgerichts, das rechtsirrig annimmt, der Beschuldigte habe Beschwerde eingelegt, wird dadurch noch nicht zu einer — der weiteren Anfechtung entzogenen — Beschwerdeentscheidung (Senat, Beschluss vom 8. Februar 2017 — 3 Ws 39/17 —, juris; KG, Beschluss vom 27. März 2009 — 4 Ws 31/09 -, BeckRS 2009, 12737; Matt in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 310 Rn. 6).

Der Antrag des Beschuldigten aus dem Schriftsatz vom 17. August 2020 war in Anbetracht seines eindeutigen Wortlauts als Antrag gemäß § 111a Abs. 2 StPO zu behandeln und der Auslegung gemäß § 300 StPO als (hilfsweise) Beschwerde bereits nicht zugänglich.

Zwar gilt eine Erklärung eines Verfahrensbeteiligten nicht erst dann als Beschwerde, wenn sie subjektiv als Beschwerde gemeint war, sondern bereits dann, wenn sie aufgrund einer vertretbaren Auslegung des Gerichts als Beschwerde gelten kann (vgl. OLG Braunschweig NZV 1996, 122). Eine solche Auslegung war hier jedoch nicht angezeigt, weil, wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausführt, schon mit der Unterstreichung des § 111a StPO in den vorangestellten Anträgen im Schriftsatz vom 7. August 2020 klargestellt worden ist, dass nur diese Anträge (nach § 111a Abs. 2 StPO sowie Herausgabe des Führerscheins) gestellt werden.

Dies gilt umso mehr, als dieses Schreiben von einem Rechtsanwalt gefertigt worden ist. Für die Auslegung des Anfechtungswillens kann die Person des Erklärenden von Bedeutung sein; bei Rechtskundigen ist eher auf den gewählten Wortlaut abzuheben als bei Rechtsunkundigen (Paul in KK StPO 8. Aufl., § 300. Rn. 2). Festzustellen ist, dass der Verteidiger, der den Begriff der „Beschwerde“ an keiner Stelle des dreieinhalbseitigen Schriftsatzes verwendet hat, umfangreiche Ausführungen zu einer Einlassung des Beschuldigten und (neuen) Ermittlungsergebnissen gemacht und schließlich eine Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO für angezeigt gehalten hat. Im Hinblick auf diesen Vortrag zur Sache, aber auch die Tatsache, dass mit der Entscheidung vom 11. Juni 2020 die Einlassung des Beschuldigten sowie die neuen Ermittlungsergebnisse noch nicht gewürdigt worden waren, war davon auszugehen, dass der Beschuldigte ausschließlich eine neue Sachentscheidung gemäß §.111a Abs. 2 StPO begehrte, weil er der Ansicht war, der Grund für die Anordnung sei weggefallen.

b) Auch die Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts vom 21: August 2020 stellt keine beschwerdefähige Entscheidung dar. Sie lässt sich nicht in eine solche umdeuten, weil sie nur in Form eines Vermerks ergangen und nicht mit einer Begründung versehen ist. Im Übrigen wäre auch bei einer entsprechenden Umdeutungsmöglichkeit das Landgericht erst dann zu einer Entscheidung berufen gewesen, wenn der Beschuldigte gegen den Nichtabhilfebeschluss Beschwerde eingelegt hätte, sich sein Anfechtungs-wille also gerade auf diese Entscheidung bezogen hätte, was hier schon mangels Bekanntgabe des Nichtabhilfevermerks nicht angenommen werden kann (vgl. KG, Be-schluss vom 15. August 2016 — 5 Ws 124/16 -, juris m.w.N.).

2. Die Beschwerde ist begründet.

Der Umstand, dass das Landgericht keine Nichtabhilfeentscheidung gemäß § 306 Abs. 2 StPO getroffen hat, hindert den Senat nicht an einer Entscheidung in der Sache. Denn es ist anerkannt und entspricht der Rechtsprechung des Kammergerichtes (vgl. KG, Beschluss vom 13. Januar 2020 — 2 Ws 202 – 203/19 —, juris m.w.N.), dass dann, wenn das Gericht, dessen Entscheidung mit der Beschwerde angegriffen wird, keine Abhilfeentscheidung im Sinne von § 306 Abs. 2 StPO getroffen hat, das über die Beschwerde befindende Gericht unter Berücksichtigung seiner Pflicht zur schnellen und wirtschaftlichen Erledigung der Sache nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden hat, ob es selbst entscheiden oder dem Erstbeschwerdegericht Gelegenheit geben will, eine unterlassene Entscheidung über die Abhilfe ordnungsgemäß nachzuholen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 27. Dezember 2002 — 2 Ws 475/02 —, juris m.w.N.). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung (vgl. KG, Beschluss vom 2. Juni 2020 — 4 Ws 21/20 —) scheidet die Rückgabe der Akten aus, wenn das mit der Beschwerde befasste Gericht —wie hier — selbst sofort entscheiden kann, weil das Abhilfeverfahren für dessen Entscheidung keine Verfahrensvoraussetzung darstellt (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Januar 2015 — 3 Ws 12/15 —; Matt in Löwe-Rosenberg StPO 26. Aufl., § 306 Rn. 21).

Der Beschluss des Landgerichts war aufzuheben, weil er demnach ohne prozessualen Anlass ergangen ist (vgl. OLG Braunschweig a.a.O. m.w.N.). Der Aufhebungsantrag vom 17. August 2020 ist noch nicht beschieden, was der Ermittlungsrichter (Az.: 433 Gs 6/20 Jug) oder im Fall der Anklageerhebung der zuständige Jugendrichter (vgl. Hauck in Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl., § 111a Rn. 45f) nachzuholen hat. Dement-sprechend war die Sache zur Entscheidung an das Amtsgericht zurückzugeben.“

 

Verkehrsrecht II: Fahren ohne Fahrerlaubnis, oder: Die Grundsätze zur Anklage bei Serientaten gelten nicht

entnommen wikimedia.org
Urheber Bundesrepublik Deutschland, Bundesministerium des Innern

In der zweiten Entscheidung geht es auch um Fahren ohne Fahrerlaubnis und erneut in Zusammenhang mit der Anklage.

Das AG hat den Angeklagten u.a. wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in acht Fällen verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten hat das LG diese Verurteilung „gehalten“. Dagegen die Revision des Angeklagten. Das OLG Celle geht im OLG Celle, Beschl. v. 05.10.2020 – 3 Ss 42/20 – von folgenden Feststellungen aus:

„Nach den Feststellungen fuhr der Angeklagte, ohne im Besitz einer Fahrerlaubnis zu sein, am 16. und 19. Oktober 2017 jeweils mit dem Pkw … seiner Lebensgefährtin von seinem Wohnort E.. nach B. M., um dort auf dem Grundstück des Zeugen B. Arbeiten im Garten durchzuführen (Fälle III. 1 und 2). Weiterhin fuhr der Angeklagte mit dem besagten Pkw in dem Zeitraum von Februar bis Mitte April 2018 an mindestens drei Tagen von seinem Haus in E. zu dem Bauernhof der Eheleute H. und T. in D., um dort zu arbeiten, und anschließend wieder zurück (Fälle III. 3 bis 5). Am 15., 16. und 18. Mai 2018 lieh sich der Angeklagte jeweils den Pkw … der Eheleute aus, steuerte diesen vom Hof und brachte ihn an den genannten Tagen später wieder zurück, wobei er auch bei den Rückfahrten am Steuer des Fahrzeugs saß (Fälle III. 6 bis 8). Schließlich hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte im März 2018 von der Zeugin H. 250 € in bar erhielt, um an einem Pferdeanhänger anstehende Reparaturen und anschließend die fällige TÜV-Abnahme durchführen zu lassen. Nachdem der Angeklagte am 14. März 2018 den Pferdeanhänger ohne vorherige Reparatur zur TÜV-Abnahme vorgestellt hatte und die Plakette nicht erteilt worden war, entschloss er sich, den nach Begleichung der Gebühr verbleibenden Betrag von 176,88 € für sich zu behalten und den Eheleuten H. eine Reparatur und erfolgreiche TÜV-Abnahme vorzuspiegeln. Zu diesem Zweck brachte er eine von einem anderen Fahrzeug abgelöste TÜV-Plakette mit einer Laufzeit bis Dezember 2018 an dem Pferdeanhänger an (Fall III. 9).“

Die  Revision des Angeklagten hat zum Teil Erfolg. Das OLG hat, soweit der Angeklagte in den Fällen III. 3 bis 5 der Urteilsgründe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden ist, das Urteil aufgehoben und das Verfahren gemäß § 354 Abs. 1 StPO eingestellt. Grund: Nicht behebbares Verfahrenshindernis der Unwirksamkeit von Anklage und Eröffnungsbeschluss:

„Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren entsprechenden Antrag wie folgt begründet:

„Es fehlt an der Prozessvoraussetzung einer wirksamen Anklage, soweit es die in der Anklageschrift unter Ziffer 4. – 7. aufgeführten Taten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, wobei das Verfahren in der Hauptverhandlung in Bezug auf eine von Ihnen gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurde (Bl. 102 Bd. I d.A.), und die diesen entsprechenden Taten 3. – 5. des Urteils betrifft. Hier war lediglich ein Zeitraum von Februar 2018 bis 12.05.2018 angegeben, in dem der Angeklagte die Fahrten „mindestens einmal monatlich“ unternommen haben soll. Die Anklageschrift hat die zur Last gelegte Tat sowie Ort und Zeit ihrer Begehung aber so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist. Die Tat muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen, die derselbe Täter möglicherweise auch begangen hat, unterscheiden lassen. Es darf nach der Anklageschrift nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Fehlt es hieran, ist die Anklage unwirksam (BGH, Beschl. v. 15.12.1995 – 2 StR 501/95; zit. nach beck-online; Schmitt in Meier-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., 2020, § 200 Rn. 7). Diesen Anforderungen an die Konkretisierung der Taten wird die vorliegende Anklageschrift für die dort unter Ziffer 4. – 7.genannten Taten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis im Hinblick auf den angegebenen weiten Tatzeitraum von mehr als drei Monaten und den unbestimmten Tattag nicht gerecht; sie ist insoweit unwirksam. Die Taten lassen sich gerade nicht hinreichend von anderen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, die der Angeklagte möglicherweise ebenfalls in dem angegebenen Tatzeitraum mit dem genannten Fahrzeug zwischen den angegebenen Orten begangen hat, was bereits durch das „mindestens einmal monatlich“ nahegelegt wird, unterscheiden.

Da die insoweit unwirksame Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde (Bl. 59 Bd. I d.A.), hat dies auch die Unwirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses für die unter Ziffer 4. – 7. der Anklage genannten Taten zur Folge (Schmitt in Meier-Goßner/Schmitt, § 200 Rn 26).

Wegen des bestehenden Verfahrenshindernisses ist das angefochtene Urteil, soweit es die Taten zu 3. – 5. betrifft, aufzuheben und das Verfahren gemäß § 354
Abs. 1 StPO einzustellen. Weil das Verfahrenshindernis bereits bei Entscheidung des Tatgerichts vorlag, kommt eine Einstellung nach § 206a StPO nicht in Betracht (OLG Celle, Beschluss vom 22.07.2007 – 32 Ss 20/07 –; zit. nach beck-online).“

Dem tritt der Senat bei.

Die Tatbeschreibung in der Anklage muss umso konkreter sein, je größer die allgemeine Möglichkeit ist, dass der Angeklagte verwechselbare weitere Straftaten gleicher Art verübt hat (BGH, Urteil vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649 mwN).

Zwar erfüllt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Anklageschrift in bestimmten Fällen von Serienstraftaten bereits dann ihre Umgrenzungsfunktion, wenn sie den Verfahrensgegenstand durch den zeitlichen Rahmen der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, das Tatopfer und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bezeichnet (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2013 – 5 StR 297/13, NStZ 2014, 49 m. Anm. Ferber; vom 11. Januar 1994 – 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44; vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153). Diese Rechtsprechung ist indes für Fälle einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegenüber Kindern entwickelt worden, die häufig erst nach längerer Zeit angezeigt werden und deshalb oftmals aufgrund von Erinnerungsproblemen eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf nicht ermöglichen. Sie hat Ausnahmecharakter und ist auf Fälle beschränkt, in denen „typischerweise“ bei einer Serie gleichartiger Handlungen einzelne Taten etwa wegen Zeitablaufs oder wegen Besonderheiten in der Beweislage nicht mehr genau voneinander unterschieden werden können und es anderenfalls zu „gewichtigen“ oder „erheblichen Lücken in der Strafverfolgung“ kommen würde (so BGH, Beschluss vom 12. Januar 2011 – GSSt 1/10, BGHSt 56, 109; Urteil vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649; Beschluss vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153; gegen Ausnahmecharakter: Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 243 Rn. 43). Diese Rechtsprechung kommt auch bei Betäubungsmitteldelikten zur Anwendung (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 1995 – 3 StR 48/95, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 15; OLG Hamm, Urteil vom 22. November 2000 – 2 Ss 908/00, StraFo 2001, 92).

Auf Fälle des Fahrens ohne Fahrerlaubnis ist sie indes nicht zu übertragen (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 25. Juni 1996 – 1 Ss 131/96, OLGSt StPO § 200 Nr. 5). Der Straftatbestand des § 21 StVG setzt eine Handlung im öffentlichen Verkehrsraum voraus (vgl. § 2 Abs. 1 StVG) und bringt daher schon aufgrund der äußeren Wahrnehmbarkeit nicht „typischerweise“ Besonderheiten in der Beweislage mit sich, wie sie häufig in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern oder des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln anzutreffen sind. Die Geltung des regulären Konkretisierungsmaßstabs für Straftaten nach § 21 StVG lässt auch nicht befürchten, dass dadurch gewichtige oder erhebliche Lücken in der Strafverfolgung entstehen. Hinzu kommt, dass bei Ausdehnung der Rechtsprechung zu Serienstraftaten auf Delikte am unteren Rande der Strafbarkeit der nach der Entscheidung des Großen Senats zu beachtende Ausnahmecharakter in ein Regelverhältnis umgekehrt werden würde, was nach der Entscheidung des Großen Senats ersichtlich nicht gewollt ist.“

Verkehrsrecht I: Fahren ohne Fahrerlaubnis, oder: Geschehnisse am Tatort/Fahrt zum bzw. vom Tatort

Bild von Andreas Breitling auf Pixabay

Heute stelle ich dann seit längerem man wieder Entscheidungen mit verkehrsrechtlichem Einschlag vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 23.09.2020 – 2 StR 606/19. Der BGH behandelt den Umfang der Anklage beim Fahren ohne Fahrerlaubnis.

Das LG hatte in einem ersten Durchgang den Mitangeklagten D. wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung  zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Den Angeklagten und einen weiteren Mitangeklagten hatte es vom Vorwurf, durch dieselbe Handlung gemeinschaftlich mit D. und dem gesondert verfolgten R. eine besonders schwere räuberische Erpressung und gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers begangen zu haben, freigesprochen. Dagegen dann die Revision. Der BGH hatte den Freispruch aufgehoben

Das LG hat den Angeklagten dann im zweiten Durchgang wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung sowie vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten. Und die Hat insoweit Erfolg, als der Angeklagte wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden ist. Der BGH hat eingestellt. Grund: Keine Anklage:

„1. Das Verfahren ist gemäß § 206a Abs. 1, § 354 Abs. 1 analog StPO auf Kosten der Staatskasse (§ 467 Abs. 1 StPO) einzustellen, soweit das Landgericht den Angeklagten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen verurteilt hat. Insofern besteht ein Verfahrenshindernis, weil die Taten nicht Gegenstand der Anklage sind und eine Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 2 StPO) nicht erhoben worden ist.

a) Die Urteilsfindung hat die Tat im verfahrensrechtlichen Sinne zum Gegenstand (§ 264 Abs. 1 StPO). Diese bestimmt sich nach dem von der zugelassenen Anklage umschriebenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Sie erstreckt sich auf das gesamte Verhalten des Täters, das nach natürlicher Auffassung ein mit diesem geschichtlichen Vorgang einheitliches Geschehen bildet (BGH, Beschluss vom 27. November 2011 – 3 StR 255/11, NStZ 2012, 168, 169 mwN). Liegen nach dieser Maßgabe verschiedene Lebenssachverhalte und mithin mehrere selbständige prozessuale Taten vor, so sind diese nur dann voll umfänglich Gegenstand der Urteilsfindung, wenn sich nach dem aus der Anklageschrift erkennbaren Willen der Staatsanwaltschaft ergibt, dass sie sämtlich einer Aburteilung zugeführt werden sollen (BGH, Urteil vom 20. Dezember 2012 – 3 StR 407/12, juris Rn. 10 mwN; vgl. auch BeckOK-StPO/Eschelbach, 37. Ed., § 264 Rn. 16 f.).

b) Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage hat dem Angeklagten zur Last gelegt, am 28. Juni 2017 gemeinsam mit dem Mitangeklagten D. tateinheitlich eine besonders schwere räuberische Erpressung sowie eine gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers in einer Gartenlaubenkolonie in D. begangen zu haben. Der Vorwurf, der Angeklagte habe auf der Hin- und Rückfahrt zur Kleingartenanlage vorsätzlich ein Fahrzeug ohne die erforderliche Fahrerlaubnis geführt, wird in der Anklage nicht thematisiert. Diese führt im Anklagesatz (§ 200 Abs. 1 Satz 1 StPO) lediglich aus, beide Angeklagten hätten sich auf der Grundlage des gemeinsamen Tatplanes, den Nebenkläger auszurauben, mit weiteren Tatgenossen zum Tatort begeben. Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen wird als Einlassung des Angeklagten geschildert, D. und er seien mit zwei weiteren Personen zu der Gartenlaube hin- gefahren. In der Darstellung der Aussage eines weiteren Zeugen findet sich der Hinweis, dieser habe vor der Gartenkolonie einen goldfarbenen Pkw Mercedes Benz wahrgenommen, der dem Angeklagten zuzuordnen sei. Wie der Angeklagte und seine Tatgenossen den Tatort verließen, wird in der Anklage nicht ausgeführt.

c) Danach stellen die Geschehnisse auf der Gartenparzelle mit der Fahrt zur bzw. von der Kleingartenanlage weder eine einheitliche prozessuale Tat dar, noch wird deutlich, dass sich der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft auch auf die An- bzw. Abreise des Angeklagten zum Tatort erstreckte.

aa) Die An- bzw. Abfahrt vom Tatort verbindet mit dem Tatgeschehen auf der Gartenparzelle kein einheitlicher Lebenssachverhalt; es besteht keine prozessuale Tatidentität i.S.d. § 264 Abs. 1 StPO.

(1) Von prozessualer Tatidentität kann ohne Weiteres ausgegangen werden, wenn mehrere Taten materiellrechtlich zueinander im Verhältnis der Tateinheit nach § 52 Abs. 1 StGB stehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. September 1977 – 2 BvR 674/77, juris Rn. 4). Mehrere sachlichrechtlich selbständige Handlungen im Sinne von § 53 Abs. 1 StGB bilden nur dann eine einheitliche prozessuale Tat im Sinne von § 264 Abs. 1 StPO, wenn die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern wegen der ihnen zugrunde liegenden Vorkommnisse unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch innerlich derart miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 2. April 2015 – 3 StR 642/14, juris Rn. 6; Beschluss vom 24. November 2004 – 5 StR 206/04, BGHSt 49, 359, 362 f. mwN).

(2) Es kann danach offenbleiben, ob der Ansicht der Strafkammer zu folgen ist und das Geschehen auf der Gartenparzelle sowie die An- bzw. Abfahrt des Angeklagten zur Gartenkolonie als tatmehrheitliche Taten zu werten sind (vgl. zum Konkurrenzverhältnis bei Fahren ohne Fahrerlaubnis BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – 4 StR 149/18, juris Rn. 6; SSW-StGB/Ernemann, 4. Aufl., § 316 Rn. 40, jeweils mwN). Die dafür erforderliche Zäsur im Geschehensablauf wird bei der Begehung eines Dauerdelikts insbesondere dann angenommen, wenn der Täter während des Dauerdelikts den Entschluss zur Begehung einer schweren Tat fasst (vgl. SSW-StGB/Eschelbach, 4. Aufl., § 52 Rn. 44 mwN). Jedenfalls besteht im vorliegenden Fall mangels einheitlichen Lebenssachverhalts keine prozessuale Tatidentität, wie sie § 264 Abs. 1 StPO voraussetzt.

bb) Ein einheitliches Verfolgungsinteresse der unterschiedlichen Lebenssachverhalte lässt sich den Akten nicht entnehmen.

(1) Die Entscheidung darüber, ob eine gesonderte Tat angeklagt wird, obliegt der Staatsanwaltschaft, die ihre Entscheidung durch die Prozesserklärung in der Anklageschrift kundtun muss. Erforderlich ist, dass die Anklageschrift den Verfolgungswillen hinsichtlich selbständiger Taten klar erkennen lässt (BeckOK-StPO/Eschelbach, aaO, Rn. 17). Hieran fehlt es.

(2) Der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft hat sich auf das Geschehen auf der Gartenparzelle gerichtet, auf der die besonders schwere räuberische Erpressung und die gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers nach dem Anklagevorwurf stattfanden. Der gesamte Anklagesatz hat ausschließlich die Tathandlungen zum Nachteil des Nebenklägers zum Gegenstand und beschreibt lediglich einleitend, der Angeklagte habe sich mit seinen Tatgenossen zu der Gartenlaubenkolonie begeben. Die An- und Abfahrt zum bzw. vom Tatort finden hingegen keine Erwähnung. Aus der Darstellung im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen, der Angeklagte sei mit D. und zwei weiteren Per- sonen zur Gartenlaube „hingefahren“, kann kein Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft hinsichtlich des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis abgeleitet werden. Es wird weder dargestellt, dass der Angeklagte das Fahrzeug steuerte noch, dass dieser nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis gewesen sei. Die Anklage beschreibt damit an dieser Stelle lediglich die Vorgeschichte zur Tat, ohne dass die Staatsanwaltschaft die Fahrt zur Gartenkolonie zur Anklage bringen wollte. Gleiches gilt für den Umstand, dass bei der Darstellung eines Zeugen geschildert wird, dieser habe vor der Gartenkolonie einen goldfarbenen Pkw Mercedes Benz wahrgenommen, der dem Angeklagten zuzuordnen war. Dieser Hinweis diente erkennbar dem Zweck, die Identifikation des Angeklagten als einen der Mittäter zu belegen, nicht aber, ihn wegen der An- bzw. Abfahrt zur Gartenkolonie zu verfolgen.“