In die 6. KW. geht es heute zunächst mit einer Entscheidung des BVerfG, und zwar dem BVerfG, Beschl. v. 25.10.2019 – 2 BvR 498/15. Mit ihm wird ein Klageerzwingungsverfahren abgeschlossen, das auf folgendem Sachverhalt basiert(e):
„Die Beschwerdeführerin begehrt die Strafverfolgung der Polizeibeamten B. und P. (Beschuldigte), weil diese sie gemeinsam mit einem Stationsarzt und einem Pfleger am Verlassen des Universitätsklinikums Kiel gehindert und zwangsfixiert haben.
1. Die Beschwerdeführerin stürzte am 6. Juli 2012 gegen 20:45 Uhr während einer Reitstunde vom Pferd. Im Anschluss wurde sie zunächst auf der neurochirurgischen Station des Universitätsklinikums Kiel medizinisch versorgt und sodann auf die Intensivstation der Klinik für Anästhesiologie verlegt.
Bei der Aufnahmeuntersuchung wurde von der Beschwerdeführerin ein CCT des Kopfes gefertigt. Darauf waren kleine schwarze Linien sichtbar, die nach Auffassung des behandelnden Arztes Anzeichen für kleine Blutungen im Gehirn hätten sein können. Es sei deshalb notwendig, die Patientin für eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu behalten. Ein in der Nacht durchgeführtes weiteres Kontroll-CCT ergab keine weitere Verschlechterung des Zustandes der Beschwerdeführerin.
Da sich die Beschwerdeführerin gesund fühlte und mit der Pflegesituation auf der Station unzufrieden war, beabsichtigte sie am Morgen des 7. Juli 2012, die Klinik zu verlassen. Daraufhin verständigte ein Klinikmitarbeiter aus Sorge um ihre Gesundheit die Polizei. Gegen 9:05 Uhr trafen die Polizeibeamten B. und P. vor Ort ein. Inzwischen begab sich die verwirrt wirkende, nur mit einem Nachthemd bekleidete und keine Schuhe tragende Beschwerdeführerin gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten vor die Klinik, wo sie beiden Polizeibeamten begegnete. Nach einigen Diskussionen kamen die Beteiligten überein, auf die Station zurückzugehen, um die Situation zu besprechen. Die Beschwerdeführerin erwartete dabei, vom Stationsarzt über die vermeintliche Lebensgefahr ihrer Verletzungen und die Erforderlichkeit einer weiteren klinischen Überwachung aufgeklärt zu werden.
2. Auf der Station erteilte der Stationsarzt dem Lebensgefährten der Beschwerdeführerin gegen 9:46 Uhr Hausverbot. Da sich dieser weigerte, die Station zu verlassen, schob ihn der Beschuldigte P. unter Anwendung von leichter Gewalt vor die Stationstür und sperrte ihn aus. Im Anschluss daran drängten die Beschuldigten, der Stationsarzt und ein Pfleger die Beschwerdeführerin in ihr Behandlungszimmer, wo am Bett mittlerweile eine Fixierungseinrichtung angebracht worden war. Der Stationsarzt forderte die Beschwerdeführerin zunächst auf, in ihr Bett zu gehen. Als sie dem nicht nachkam, ergriffen die Beteiligten die Beschwerdeführerin. Der Stationsarzt verabreichte ihr ein Riechanästhetikum mit einer Wirkdauer von vier bis fünf Sekunden und verbrachte sie in ihr Bett. Dort fixierten sie die Beschwerdeführerin, nachdem ihr erneut ein Riechanästhetikum verabreicht worden war. Im Anschluss setzte der Stationsarzt der Beschwerdeführerin eine Kanüle und legte eine Infusion. Gegen 10:00 Uhr verließen beide Beschuldigte die Station.
3. Um diese Zeit erschien der Amtsarzt, der von der Leitstelle der Polizei gebeten worden war, sich mit der Intensivstation der Anästhesiologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) in Verbindung zu setzen. Dieser erstellte im Folgenden ein Gutachten, in dem er ein Schädel-Hirn-Trauma sowie ein Durchgangssyndrom mit Erregungszuständen diagnostizierte. Die Beschwerdeführerin zeige sich in Bezug auf ihre medizinische Situation und die potentielle Lebensbedrohlichkeit ihrer Verletzungen jedoch nicht einsichtig. Er ordnete daher die vorläufige Unterbringung der Beschwerdeführerin, längstens bis zum 8. Juli 2012 um 24:00 Uhr, auf der Intensivstation der Anästhesiologie des UKSH in Kiel an und beantragte gleichzeitig beim Amtsgericht Kiel einen Beschluss über die weitere Unterbringung der Beschwerdeführerin in einer geeigneten Krankenanstalt.
4. Mit Beschluss vom 7. Juli 2012 ordnete das Amtsgericht Kiel die Unterbringung der Beschwerdeführerin im geschlossenen Bereich eines Krankenhauses bis zum Ablauf des 8. Juli 2012 an. Auf deren Beschwerde hin stellte das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. Dezember 2016 fest, dass die vorläufige Unterbringung der Beschwerdeführerin durch den Amtsarzt rechtswidrig war. Ihr habe kein Gutachten zugrunde gelegen, das die Notwendigkeit der Unterbringung in gerichtlich nachvollziehbarer Weise begründet habe.
5. Die Beschwerdeführerin blieb bis zum 8. Juli 2012 gegen 8:00 Uhr fixiert in der Klinik und wurde im Anschluss entlassen. Am 16. August 2012 erstattete sie Strafanzeige gegen die Beschuldigten wegen versuchten Totschlags, Verleumdung, Körperverletzungsdelikten, Freiheitsberaubung und Nötigung.
6. Die Staatsanwaltschaft Kiel stellte das gegen beide Beschuldigte geführte Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 18. Juli 2014 gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein, weil für einen versuchten Totschlag keine Anhaltspunkte bestünden und ihnen ein Tötungsvorsatz nicht nachzuweisen sei. Im Übrigen sei das Handeln der Beamten durch Polizeirecht gerechtfertigt gewesen. Sie hätten aufgrund der § 168 Abs. 1 Nr. 3, § 174, § 176 Abs. 1 Nr. 2, § 230 Abs. 1 Satz 1, § 235 Abs. 1 Nr. 3, § 239 LVwG unmittelbaren Zwang anwenden dürfen, um eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwenden. Ob eine solche bestanden habe, sei auf der Grundlage der den Polizeibeamten zur Verfügung stehenden Erkenntnisse nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen ex ante zu beurteilen. Demnach habe eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorgelegen, weil eine Unterbringung der Beschwerdeführerin nach dem Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen für das Land Schleswig-Holstein (Psychisch-Kranken-Gesetz – PsychKG) angestrebt worden sei und für sie nach Mitteilung der Ärzte zudem Lebensgefahr bestand. Die Beschuldigten hätten auch davon ausgehen können, dass die ergriffenen Maßnahmen verhältnismäßig gewesen seien, um die aus ihrer Sicht für die Beschwerdeführerin bestehende unmittelbare Lebensgefahr zu beseitigen. Aufgrund der Rechtmäßigkeit ihres Handelns scheide deshalb auch eine Garantenpflicht aus Ingerenz für das weitere Geschehen aus. Die Beschuldigten hätten daher die Beschwerdeführerin auf der Station zurücklassen dürfen.
7. Die gegen die Einstellungsverfügung gerichtete Beschwerde vom 12. August 2014, begründet am 6. November 2014, wies die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig mit Bescheid vom 20. November 2014 zurück und führte ergänzend aus, dass die Beschuldigten nach den Grundsätzen einer Anscheinsgefahr davon ausgehen konnten, dass bei der Beschwerdeführerin eine Lebensgefahr und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne von § 174 LVwG vorgelegen habe. Zwar gewährleiste Art. 2 Abs. 1 GG grundsätzlich das Recht, selbst darüber zu entscheiden, welchen Gefahren sich der Einzelne aussetzen will. Wenn dieser jedoch in der Fähigkeit eingeschränkt sei, seinen Willen frei zu bestimmen und die Tragweite seines Handelns zu erkennen, treffe den Staat eine Schutzpflicht, auch gegen den Willen des Betroffenen tätig zu werden. Die von den Beschuldigten getroffenen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs seien auch verhältnismäßig gewesen.
8. Den Klageerzwingungsantrag vom 28. Dezember 2014 verwarf das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 15. Januar 2015 mit Tenorbegründung, in der es auf die zutreffenden Gründe des Einstellungsbescheids der Staatsanwaltschaft Kiel und des Beschwerdebescheids der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig Bezug nahm. Die dagegen gerichtete Gehörsrüge verwarf das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 16. Februar 2015 als unzulässig. Eine Gehörsverletzung habe die Beschwerdeführerin nicht dargelegt.“
Die dazu ergangene Entscheidung des BVerfG ist inzwischn schon an verschiedenen Stellen, so in NStZ-RR und auch bie HRRS veröffentlicht. Ich nehme dann mal die Leitsätze aus HRRS hier auch. Die zeigen sehr schön, worauf das BVerfG bei der Verwerfung der Verfassungsbeschwerde abgestellt hat:
- In einem Klageerzwingungsverfahren verkennt das Oberlandesgericht Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf Strafverfolgung nicht, wenn es den Vorwurf des versuchten Totschlags als völlig fernliegend zurückweist, den eine Anzeigeerstatterin gegenüber zwei Polizeibeamten erhoben hatte, die bei ihrer Fixierung durch Klinikpersonal mitgewirkt hatten, nachdem bei ihr nach einem Unfall aus ärztlicher Sicht der Verdacht auf eine lebensbedrohliche Hirnverletzung bestand und sie dem Anschein nach in ihrer freien Willensbildung beeinträchtigt war.
- Das Grundgesetz vermittelt dem Einzelnen grundsätzlich keinen Anspruch auf Strafverfolgung Dritter. Etwas anderes kann jedoch bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person, bei Straftaten gegen Opfer, die sich in einem besonderen Obhutsverhältnis zur öffentlichen Hand befinden sowie bei Delikten von Amtsträgern gelten, soweit der Einzelne selbst nicht in der Lage ist, seine Rechtsgüter vor rechtswidrigen Eingriffen zu schützen.
- Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung schließt eine strafrechtliche Sanktionierung von Polizeibeamten aus, wenn deren Handeln durch polizeirechtliche Befugnisnormen gedeckt und deshalb strafrechtlich gerechtfertigt ist. Dies gilt auch für Maßnahmen im Vorfeld einer Unterbringung nach dem PsychKG, wie etwa die Ingewahrsamnahme von Personen auch in privaten Krankenhäusern, deren kurzfristige Fixierung sowie die sofortige Vollziehung dieser Maßnahmen im Wege des unmittelbaren Zwangs, die bei Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf das allgemeine Polizeirecht gestützt werden können.
- Wenngleich es mit Blick auf das Recht auf effektiven Rechtsschutz zweifelhaft erscheint, ob es sich bei der Entscheidung des Oberlandesgerichts über einen Klageerzwingungsantrag um eine letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung handelt, die regelmäßig keiner Begründung bedarf, ist das Recht auf rechtliches Gehör regelmäßig nicht verletzt, wenn das Gericht sich in einer Tenorbegründung die Gründe des Bescheides der Generalstaatsanwaltschaft zu eigen macht und zum Ausdruck bringt, dass das Antragsvorbringen aus seiner Sicht keine maßgeblichen neuen Aspekte enthält.
Irgendwie hat die dann aber doch noch die Kurve gekriegt zu BVerfG, Beschl.v. 15.1.20 – 2 BvR 1763/16.
Scheint mir jedenfalls derselbe Fall zu sein.
Ich schließe mich dem vorherigen Kommentator an.
Die eigentlich interessante Entscheidung ist 2 BvR 1763/16 .
Über die sollte berichtet werden.
Dann tun Sie es 🙂
Hallo Herr Burhoff,
noch bloggen wir nicht. Das dürfte sich allerdings in naher Zukunft ändern; dann jedoch zu anderen Themen.
Vielleicht greifen Sie die Parallelentscheidung dennoch auf, zumal mir die darin vorgenommenen Grenzziehungen durchaus fortbildenden Inhalt haben.
Kommt :-).
Immer bloggt man zu den falschen Themen 😉
Pingback: BVerfG: Klageerzwingungsverfahren, oder: Dann/wann besteht ein Anspruch auf Strafverfolgung Dritter…. | Burhoff online Blog
Richtig, die Entscheidungen gehören zusammen.
Das kann ich als Betroffene bestätigen.
Zwischenzeitlich hat auch das Oberverwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit des polizeilichen Handelns festgestellt – OVG SH, Dezember 2019 – nachdem es die Angelegenheit wegen angeblicher Verwirkung tot machen wollte und das vom Bundesverwaltungsgericht wieder auf den Tisch bekommen hat.
Auf freiheitsgrundrechte.com hat mein Rechtsanwalt mit einer Falldokumentation begonnen.
Beide Verfassungsbeschwerden werden unsererseits dem EGMR vorgelegt werden.