Und als zweite Strafzumessungsentscheidung dann der OLG Naumburg, Beschl. v. 04.09.2017 – 2 Rv 95/17. Das ist eine, „wie sie im Buche steht“. Man fragt sich, wenn man die Ausführungen des LG liest, was sich die Berufungskammer eigentlich bei ihrer Entscheidung gedacht hat und was das LG eigentlich getan hat. Beides Fragen kann man m.E., nur mit „Nichts“ beantworten.
Das LG hat den Angeklagten im Berufungsverfahren wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt (Einzelstrafen: viermal acht Monate). Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die zur Aufhebung des Strafausspruchs führt:
Das Gericht hat ausdrücklich strafschärfend berücksichtigt, „dass der Angeklagte, wie die erhebliche Anzahl der im Fahreignungsregister vermerkten Punkte zeigt, zum Führen eines Fahrzeuges ungeeignet ist und somit eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer darstellt“. Hinsichtlich der vermerkten Punkte hat die Kammer ausgeführt, im Fahreignungsregister seien auf dem Punktekonto des Angeklagten 58 Punkte vermerkt, wobei sie diese vermeintliche Erkenntnis allein auf die Einlassung des Angeklagten stützt.
Die strafschärfende Berücksichtigung der 58 Punkte und der daraus gefolgerten fehlenden Eignung des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen offenbart zwei Rechtsfehler. Zum einen durfte die Kammer die Feststellung der 58 Punkte nicht allein auf die Einlassung des Angeklagten stützen. Es ist anerkannt, dass Angaben, mit denen der Angeklagte sich selbst belastet, jedenfalls dann nicht ohne weitere Nachprüfung den Feststellungen zugrunde gelegt werden dürfen, wenn sie in höchstem Maße unwahrscheinlich sind. Ein Punktestand von 58 im Fahreignungsregister dürfte angesichts der Tilgungsvorschriften und der Tatsache, dass die Punktzahlen für einzelne Ordnungswidrigkeiten seit Beginn des Fahreignungsregisters drastisch minimiert worden sind, kaum möglich sein. Den beiden Mitgliedern des Senates, die seit Anfang 2011 durchgängig Verkehrsordnungswidrigkeiten bearbeiten, ist jedenfalls in über 1500 Verfahren kein einziger Fall untergekommen, in dem auch nur die Hälfte von 58, also 29 Punkte, erreicht worden ist. Das gilt auch für die Geltungszeit des Verkehrszentralregisters, in der die Anzahl der Punkte für die einzelnen Verfehlungen im Schnitt mehr als doppelt so hoch war wie gegenwärtig. Das Gericht hätte daher die Angaben des Angeklagten über sein Punktekonto nur zu seinem Nachteil verwerten dürfen, wenn es diese, etwa durch Einholung einer Auskunft aus dem Fahreignungsregister, verifiziert hätte.
Am Rande bemerkt der Senat, wenngleich revisionsrechtlich unerheblich, dass eine Auskunft aus dem Fahreignungsregister betreffend den Angeklagten vom 29. August 2017 einen Punktestand von vier ergab, wovon zwei Punkte auf eine Eintragung entfallen, die am Tag der Berufungshauptverhandlung noch nicht registriert war.
Auch abgesehen von der rechtsfehlerhaften Feststellung des Punktestandes hätte das Gericht die hieraus geschlossene Ungeeignetheit des Beschwerdeführers zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht strafschärfend berücksichtigen dürfen. Der Gesetzgeber hat nämlich Fahren ohne Fahrerlaubnis im Wesentlichen deswegen unter Strafe gestellt, weil er zu Recht davon ausgeht, dass eine Person, die keine gültige Fahrerlaubnis hat, zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Die strafschärfende Berücksichtigung der Ungeeignetheit verstößt daher gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB.
Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft ziehen die fehlerhaften Strafzumessungserwägungen auch die Aufhebung des Strafausspruchs nach sich. Zwar ist der Angeklagte massiv, überwiegend einschlägig, vorbestraft. Es liegen jedoch bei allen Taten zwei gewichtige Milderungsgründe vor, nämlich das umfassende Geständnis und die Tatsache, dass die Fahrstrecke jeweils kurz war. Von diesem Hintergrund kommen durchaus auch mildere Einzelstrafen als die hier verhängten, zwei Drittel des Strafrahmens ausschöpfenden jeweils acht Monate und damit auch eine mildere Gesamtfreiheitsstrafe in Betracht.“
Wenn man das liest, fragt man sich, ob man sich bei der Berufungskammer des LG Halle eigentlich die „Hose mit der berühmten Kneifzange zumacht“? Oder: warum kommt man eigentlich nicht auf die Idee, einen vom Angeklagten angegebenen Punktestand von 58 Punkten (!!) im FAER zu hinterfragen. M;an glaubt doch sonst Angeklagten auch nicht alles. Und was hätte man, wenn man seine Hausaufhaben in Form einer Anfrage in Flensburg gemacht hätte, festgestellt: Es waren wohl zum Zeitpunkt des Berufungsverfahrens nur zwei Punkte. Man fasst es wirklich nicht.
Auch die weitere Strafzumessungserwägung: Strafschärfung beim Fahren ohne Fahrerlaubnis wegen Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen zeugt nicht von besonderem Sachverstand in der Berufungskammer.
Solche Revisionen sind Selbstläufer.
Vollkommen abwegig ist das mit den 58 Punkten ja nicht, ich hatte mal einen Mandanten mit 60 Punkten im FER, allerdings noch nach altem Recht. Hat er sich durch eine einzige Verurteilung eingefangen wegen Fahren ohne Versicherungsschutz in 12 tatmehrheitlichen Fällen. Der Mann war pleite gewesen, hatte sich eine Kontopfändung eingefangen und das Geld für die KFZ-Versicherung nicht rechtzeitig nach der Mahnung zusammen bekommen, war dann aber mangels Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln 6 Tage lang trotzdem weiter mit seinem Auto zur Arbeit gefahren, bis er erwischt wurde und das treudoof so eingeräumt hat. Natürlich musste dann der Punktestand wieder auf die erste Maßnahmenschwelle reduziert werden, aber erstmal standen die 60 Punkte drin.
Trotzdem, gerade dieses Beispiel zeigt, dass ein Gericht schon in den Auszug schauen bzw. sich dafür interessieren sollte, woher die Punkte denn kommen, bevor es daraus strafschärfende Schlussfolgerungen zieht. Ein Verkehrsrowdy war dieser Mensch nämlich auch nicht, er war ansonsten 20 Jahre punktefrei.
Sorry, aber bei 58 Punkten müssen doch alle Alarmglocken läuten….
Vermutlich hat der Angeklagte sich was von „irgendwas zwischen fünf und acht“ in den Bart genuschelt und bei den Richtern kam nur „fünf-acht“ an (Freudscher Verhörer?).
‚Lustig‘ finde ich auch, dass nicht mal geguckt wurde, warum es die Punkte denn wohl überhaupt gab – hätte ja auch wegen „Fahrens ohne Fahrerlaubnis“ sein können – aber vermutlich hätten die dann (implizit) trotzdem ins Urteil geschrieben, dass Fahren ohne Fahrerlaubnis strafverschärfend für Fahren ohne Fahrerlaubnis ist.
So, und nachdem ich mir jetzt mal meinen emotionalen Druck von der Seele geschrieben habe, eine ernstgemeinte Laienfrage: Wie ist eigentlich die Karriereleiter eines RIchters – folgt die den Gerichtsarten (also erst AG, dann Beförderung zum LG, …), oder wird man da (auch als ‚Anfänger‘) mehr oder weniger zufällig irgendwo hinversetzt?
@WPR_bei_WBS: Nein, Richter am Amtsgericht und einfache Richter am Landgericht (also nicht Kammervorsitzende) sind gleichgestellt und auch gleich besoldet, Anfänger in der Probezeit werden munter zwischen den Gerichten hin und her geschoben. Wer Kammervorsitzender oder Richter am OLG werden will, muss – nachdem er als Richter ein paar Jahre Praxis hat – eine Erprobungszeit am OLG hinter sich bringen. Ansonsten gibt es noch ein paar Sachgebiete, die blutigen Anfängern (Assessoren im ersten Jahr) nicht übertragen werden dürfen und die Regel, dass in einer mit bis zu drei Berufsrichtern besetzten Kammer jeweils maximal einer davon Richter in der Probezeit sein darf.
Danke!