Archiv für den Monat: April 2016

Motorradfahrer mit 70 km/h zu tief geflogen: Haftung bei Unfall trotz Vorfahrt zu 70 %

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Ein bisschen „tief geflogen“ war ein Motorradfahrer in dem dem OLG Hamm, Urt. v. 23.02.2016 – 9 U 43/15 – zugrunde liegenden Verkehrsgeschehen. Er war nämlich anstatt der erlaubten 50 km/h mit 121 km/h geflogengefahren. An einer Autobahnfahrt kam es zum Zusammenstoß mit dem aus der rechtsseitig gelegenen, untergeordneten Autobahnabfahrt nach links hin abbiegenden PKW des Beklagten. Motorradfahrer bzw. dessen Versicherung und Beklagter haben dann um die Haftungsverteilung gestritten. Das OLG verteilt: 70% zu 30 % zu Lasten des (vorfahrtberechtigten) Motorradfahrers. Begründung:

„aa) Auf beiden Seiten ist zunächst die Betriebsgefahr des jeweiligen Fahrzeugs zu berücksichtigen.

bb) Darüber hinaus ist aus Sicht des Senats auf beiden Seiten ein die Betriebsgefahr weiter erhöhendes unfallursächliches Verschulden der beteiligten Fahrzeugführer anzunehmen.

(1) Auf Seiten des Versicherten der Klägerin liegt – dies stellt die Klägerin nicht in Abrede – eine massive Tempoüberschreitung (nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen feststellbares Mindesttempo von 121 km/h statt erlaubter 50 km/h) vor. Diese Geschwindigkeitsüberschreitung hat sich nach den auch insoweit nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen T (vgl. dazu schon S. 6 f. des im Ermittlungsverfahren erstatteten schriftlichen Gutachtens, Bl. 36 f. der BeiA 312 Js 340/11 Staatsanwaltschaft Arnsberg, sowie die diesbezüglichen Ausführungen vor dem Senat, S. 4 des Berichterstattervermerk i. V. m. der Anlage E 15) auch unfallursächlich ausgewirkt; danach hätte, wäre das Motorrad – namentlich zum Zeitpunkt der Reaktion seines Fahrers – nur mit den zulässigen 50 km/h bewegt worden, der PKW des Beklagten zu 1) den Kollisionsbereich bei Eintreffen des Motorrades in jedem Fall längst verlassen.

(2) Soweit das Landgericht in die Abwägung zu Lasten der Klägerin auch einen Verstoß ihres Versicherten gegen das Rechtsfahrgebot eingestellt hat, begegnet dies – unabhängig von der Frage der Vorwerfbarkeit der diesbezüglichen Ausweichreaktion – jedenfalls deshalb Bedenken, weil das Rechtsfahrgebot nicht den Schutz von aus Einmündungen einbiegender Verkehrsteilnehmer bezweckt (vgl. dazu nur Geigel/Freymann, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 27, Rdn. 58 f. m. w. Nachw. aus der Rechtsprechung). Auch eine relevante weitere Betriebsgefahrerhöhung vermag der Senat insoweit bei der hier gegebenen Konstellation nicht zu erkennen.

(3) Hauptstreitpunkt und für die Frage einer anteiligen Haftung der Beklagten entscheidend ist es, ob auch dem Beklagten zu 1) ein ins Gewicht fallendes unfallursächliches Verschulden, namentlich in Form einer Verletzung des – durch die massive Geschwindigkeitsüberschreitung nicht berührten – Vorfahrtrechts des Versicherten der Klägerin, anzulasten ist. Nach Auffassung des Senats ist dies nach dem Ergebnis der in dieser Instanz durchgeführten Parteianhörung und Beweisaufnahme – entgegen der Annahme des Landgerichts – zu bejahen.Der Beklagte zu 1) will – wie er letztlich bei seiner Anhörung durch den Senat auf Vorhalt seiner diesbezüglichen Angaben von Ende November 2012 beim Landgericht Arnsberg im Vorprozess (vgl. Bl. 98 R der beigezogenen Akten I-4 O 355/12 Landgericht Arnsberg) bestätigt hat und es aus Sicht des Senats auch geboten war – erst nach links, dann nach rechts und dann direkt vor dem tatsächlichen Abbiegebeginn nochmals nach links gesehen haben Der Sachverständige T hat nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass das nach seinen Feststellungen mit eingeschaltetem Fahrlicht von links aus der dortigen Kurve kommende Motorrad des Herrn D für den Beklagten zu 1) in jedem Fall zum Zeitpunkt des Anfahrentschlusses und des dabei gebotenen zweiten Linksblicks unmittelbar vor dem tatsächlichen Abbiegebeginn erkennbar war und der Beklagte zu 1) in jedem Fall auch bereits zum Zeitpunkt des von ihm angegebenen ersten Linksblicks das herannahende Motorrad hätte wahrnehmen können (vgl. dazu im Einzelnen die im Berichterstattervermerk auf S. 3 ff. niedergelegten Ausführungen hierzu i.V.m. den dort in Bezug genommenen Anlagen). Da der Beklagte zu 1) das Motorrad nach seinen Angaben erst deutlich nach Abbiegebeginn erstmals wahrgenommen hat, ist davon auszugehen, dass er vor dem Abbiegen überhaupt nicht hinreichend nach von links herannahenden Fahrzeugen Ausschau gehalten und auf solche Fahrzeuge – namentlich auf das hier in Rede stehende Motorrad des Versicherten der Klägerin – geachtet hat. Hätte er dies mit hinreichender Sorgfalt getan, hätte er das mit eingeschaltetem Fahrlicht herannahende Motorrad bereits bei seinem ersten Linksblick und nochmals bei dem gebotenen zweiten Linksblick unmittelbar vor dem Anfahren in jedem Fall erkennen können und müssen. Dabei hätte er bei der hinsichtlich der Beobachtung des Motorrades gebotenen Sorgfalt und Aufmerksamkeit – wie dem Senat die im Senatstermin von allen Prozessbeteiligten eingesehenen Videoaufnahmen, Slideshows und Simulationen des Sachverständigen T verdeutlicht haben und wie es auch der Sachverständige bestätigt hat (vgl. S. 5 des Berichterstattervermerks) – zudem jedenfalls erkennen können und müssen, dass das Motorrad erheblich schneller als mit den erlaubten 50 km/h fuhr. Zwar war es nach den Ausführungen des Sachverständigen aus der Perspektive des an der Einmündung wartenden Beklagten zu 1) schwieriger, einzuschätzen, ob das Motorrad tatsächlich mit den festgestellten mindestens 121 km/h oder nur mit gut 100 km/h fuhr, bei denen es – so der Sachverständige (vgl. S. 5 des Berichterstattervermerks) – ohne jegliche Abwehrhandlung des Motorradführers zu keiner Kollision gekommen wäre. Gleichwohl hätte nach Auffassung des Senats der Beklagte zu 1) unter den hier gegebenen Umständen – eine hinreichende Ausschau nach links mit den vorgenannten Wahrnehmungen unterstellt – im Zweifel zuwarten müssen, hätte er in dieser Situation jedenfalls keinesfalls in der tatsächlich erfolgten langsamen Weise mit der vom Sachverständigen festgestellten nur geringen Beschleunigung abbiegen dürfen; vielmehr hätte er, wenn überhaupt, sein Abbiegemanöver zwecks sicherer Vermeidung jeglicher Behinderung oder gar Gefährdung des erkennbar mit deutlich überhöhtem Tempo herankommenden Motorradfahrers allenfalls zügig durchführen dürfen, wodurch nach den auch insoweit überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen (vgl. S. 4 f. des Berichterstattervermerks) eine Kollision ebenfalls vermieden worden wäre.

cc) Bei dieser Sachlage ist es im Rahmen der Abwägung der vorgenannten beiderseitigen Verursachungsbeiträge nach Auffassung des Senats nicht gerechtfertigt, den Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1) ganz hinter dem in der Tat massiven Verschulden des Versicherten der Klägerin zurücktreten zu lassen. Vielmehr erachtet der Senat angesichts der nach dem Vorstehenden feststehenden unfallursächlichen Vorfahrtverletzung des Beklagten zu 1), welche unter den hier gegebenen, oben erörterten Umständen auch keineswegs nur von geringem Gewicht ist, eine Haftungsverteilung von 70 : 30 zu Lasten der Beklagten für angemessen.W

Wer im Bus fällt, haftet (mit), aber: Nicht immer

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Jeder, der (auch nur gelegentlich) Bus fährt, weiß: Der Bus kann beim Fahren wacklen, und zwar sowohl beim Anfahren als auch während der Fahrt und auch beim Anhalten. Deshlab verpflichtet die Rechtsprechung die Fahrgäste, immer für die eigene Sicherheit zu sorgen und sich festen Halt zu verschaffen haben. Folge davon: Stürzt man, besteht ein Beweis des ersten Anscheins, dass der Sturz auf eine schuldhafte Verletzung der Pflicht zur Gewährleistung eines festen Halts zurückzuführen ist. Diesen Bewesi des ersten Anscheins muss der Geschädigte substantiiert entkräften. Dazu ist es erforderlich, dass es an der sog. Typizität eines Geschehensablaufs fehlt. Und so hatte ein Schwerbehinderter „Glück“. Denn das OLG Frankfurt sagt im OLG Frankfurt, Urt. v. 17.11.2015, 12 U 16/14: Dieser Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn ein behinderter Fahrgast auf einem für Schwerbehinderte vorgesehenen Sitzplatz Platz genommen und sich an einem Handlauf als dafür vorgesehener Sicherheitsvorkehrung festgehalten hat.

Zu entscheiden war über folgenden Sachverhalt: Der Kläger hatte in einem „A-Bus“ „bei einer vom Fahrer durchgeführten Vollbremsung erhebliche Verletzungen erlitten. In dem A-Bus waren hinter dem Fahrer nur drei Sitzreihen angeordnet. In der ersten Reihe hinter dem Fahrersitz befinden sich zwei Sitzplätze nebeneinander. Der Fensterplatz ist Schwerbehinderten zugewiesen. Auf diesem Sitzplatz saß der Kläger, während die Zeugin Z3 den neben ihm befindlichen Sitzplatz zum Gang eingenommen hatte. Links neben dem Schwerbehindertenplatz ist ein Haltegriff angebracht an dem sich der Kläger mit seiner linken Hand festhielt und neben dem Gangplatz eine Haltestange (vgl. Foto Bl. 51), an der sich die Zeugin Z3 rechts festhielt. In der hinter diesen beiden Plätzen erhöht angeordneten Sitzreihe saß die Zeugin Z1. Diese hat sich ebenfalls an der Haltestange neben ihrem Sitz festgehalten. Weitere Fahrgäste befanden sich nicht in dem A-Bus. Aufgrund der Ausweichbewegung und Vollbremsung der Beklagten zu 1) flog die Zeugin Z1 nach vorne aus ihrem Sitz, kam mit ihrem Bauch über den vor ihr befindlichen Sitzplatz, um dann wieder zurück auf ihren Platz zu fallen. Der Kläger und die Zeugin Z3 rutschten aufgrund dieses Fahrmanövers der Beklagten zu 1) von ihren Sitzen auf den Boden, wobei der Kläger die beschriebene Verletzung erlitt.“

Dazu dann das OLG:

„3) Ein Mitverschulden des Klägers gemäß §§ 9 StVG, 254 BGB scheidet aus. Da Fahrgäste in Linienbussen sowohl beim Anfahren, während der Fahrt und auch beim Anhalten stets für die eigene Sicherheit zu sorgen und sich festen Halt zu verschaffen haben (§ 4 BefBedV), besteht ein Beweis des ersten Anscheins, dass ein Sturz während der Fahrt auf eine schuldhafte Verletzung der Pflicht zur Gewährleistung eines festen Halts zurückzuführen ist (OLG Dresden, 7 U 1506/13; OLG Naumburg, 1 U 129/12; OLG Bremen, 3 U 19/10; OLG Frankfurt, 14 U 209/09; 1 U 75/01; KG, 12 U 95/09, 12 U 30/10; OLG Köln, 2 U 173/90). Dieser Anschein ist von dem Geschädigten substantiiert zu entkräften, was dem Kläger hier gelungen ist, denn es fehlt an der Typizität eines Geschehensablaufs.

Alle (drei) Fahrgäste des A-Busses saßen und hatten sich Halt verschafft. Unabhängig von der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit war hier von einem Bremsmanöver auszugehen, dass so stark war, dass alle in dem Bus befindlichen Fahrgäste in der beschriebenen Art und Weise von ihren Sitzen flogen (Z1) bzw. rutschten (Eheleute Z3). Der Kläger hat sich in dieser Situation sozialadäquat (Landgericht Freiburg, 6 O 217/13, RN 28) verhalten, da er auf dem Behinderten vorbehaltenen Sitz (§ 5 Abs. 1 und 2 BefBedV) Platz genommen und an dem hierfür vorgesehen Haltegriff festgehalten hatte. Schwerbehinderten steht ausdrücklich die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel offen. Der Bus sah als Sicherungsmaßnahme nur den linken Handlauf vor, an dem sich der Kläger festgehalten hat. Da es andere Sicherungsmaßnahmen als den Handlauf links nicht gab, kann ein sich Halt verschaffen durch einen behinderten Fahrgast nur im Rahmen der ihm offenstehenden Möglichkeiten erwartet werden. Einen Verstoß hiergegen haben die Beklagten nicht bewiesen.“

Ich habe mal eine Frage: Verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Angelegenheit?

© AllebaziB - Fotolia

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Schon etwas länger schlummert in meiner „RVG-Rätsel-Datei“ die Anfrage eines Kollegen. Die hatte mich bereits Anfang des Jahres erreicht, und zwar wie folgt:

„Hallo, zunächst einmal ein gesundes neues Jahr.

Ich habe heute mal zwei Fragen zum Gebührenrecht:

Meine Mandantin hat Eintragungen im BZR, die auch im Führungszeugnis aufgeführt sind. Das führt dazu, dass Bewerbungen für sie letztlich sinnlos sind. Sie möchte nun geprüft haben, ob bzw. wann diese Eintragungen zu löschen sind. Insoweit soll sie auch vertreten werden.

1.) Ist diese Tätigkeit eine strafrechtliche i. S. d.. § 2 BerHG?
2.) Wenn nicht: Wie kann ich eine Vertretung abrechnen, ggf. nach welchem Gegenstandswert,  falls kein Betragsrahmen gegeben ist?“

Na, wie sieht es mit Lösungsvorschlägen aus?

„Raus mit dir“, oder: Verteidigerausschluss wegen (versuchter) Strafvereitelung

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Der Verteidigerausschluss nach §§ 138a ff. StPO spielte mal eine große Rolle in den RAF-Verfahren. Erst durch und/oder wegen der Verfahren sind die Vorschriften Ende der 70-iger Jahre des vorigen Jahrhunderts in die StPO eingefügt worden. Inzwischen haben die damit zusammenhängenden Fragen nicht mehr die große Bedeutung. Aber es kommt auf der Grundlage der §§ 138a ff. StPO auch heute immer mal wieder zu einem Verteidigerausschluss; so auch in dem dem OLG Bamberg, Beschl. v. 23.02.2016 – 2 Ws 615/15 zugrunde liegenden Verfahren. Da ist der Verteidiger wegen versuchter Strafvereitelung (§§ 258, 22 stPO) ausgeschlossen worden. Grundlage war folgenden Sachverhalt:

„Die StA legte dem von RA R zunächst als Wahlverteidiger verteidigten Angekl. A mit Anklageschrift vom 11.12.2014 zur Last, zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt kurz vor dem 08.10.2013 gegen ein in der Höhe unbekanntes, von dem anderweitig Verfolgten T bezahltes Entgelt ein Paket mit 1.519,8 g Marihuana über einen Paketdienst an einen tatsächlich nicht existenten Adressaten in D. versandt zu haben, wobei das Paket nach dem Tatplan des Angekl. und des T von diesem im Rahmen seiner Tätigkeit als Paketausfahrer übernommen werden sollte. Das Paket wurde jedoch noch vor Übergabe an T sichergestellt. Die Erkenntnisse der Ermittlungsbehörden beruhten auf den Ermittlungen im Rahmen eines gegen den anderweitig Verfolgten T geführten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung bei dem anderweitig Verfolgten T ergaben sich Hinweise darauf, dass A der Absender des Päckchens war. Der anderweitig Verfolgte T. wurde wegen dieses Sachverhalts mit Urteil des AG vom 15.01.2015, rechtskräftig seit 23.01.2015, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gesprochen und wegen einer weiteren Tat sowie unter Einbeziehung weiterer Strafen aus einer vorausgegangenen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren mit Bewährung verurteilt. Mit Beschluss vom 15.01.2015 bestellte das AG dem Angekl. A im vorliegenden Verfahren RA R als Pflichtverteidiger. In der Hauptverhandlung am 23.02.2015 erklärte RA R als Pflichtverteidiger zunächst, dass sich sein Mandant nur zur Beziehung zu T, nicht aber zur Tat selbst äußern wolle. Daraufhin gab der A u.a. an, er kenne den anderweitig Verfolgten T seit 10 Jahren und habe ihm 8.000 EUR geliehen. Auf Vorhalt des bei dem anderweitig Verfolgten T sichergestellten Zettels äußerte sich A dahingehend, dass es sich um seine neue Telefonnummer gehandelt habe. Seinem Vater sei es damals nicht so gut gegangen. Hierzu erklärte RA R: „Herr T hatte ein freundschaftliches Verhältnis zum Vater des Angeklagten“. Der anderweitig Verfolgte T gab als Zeuge an, er wisse nicht, von wem er das Paket erhalten habe. Die Person kenne er nicht. Er habe eine Telefonnummer von einem Angehörigen bekommen, zu dem er sich allerdings nicht äußern möchte. Unter dieser Nummer habe er angerufen und 1,5 kg Marihuana bestellt. A habe ihm 8.000 EUR geliehen. Die Überweisung über 1.700 EUR sei die letzte Rate der 8.000 EUR gewesen. Auf Frage von RA R gab er an, er habe die Stimme nicht gekannt. Es sei nicht A gewesen; auch habe er sich mit A nicht über Drogen unterhalten. Nach dieser Zeugenaussage setzte das AG die Hauptverhandlung aus. Der Zeuge T wurde wegen des Verdachts der uneidlichen Falschaussage vorläufig festgenommen. Im Anschluss daran erging Haftbefehl. Im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung anlässlich eines Haftprüfungstermins am 05.03.2015 erklärte der Zeuge T, dass er das Marihuana doch bei A bestellt habe und die 1.700 EUR eine Anzahlung für das bestellte Marihuana gewesen seien. Auf Frage, ob die letzte Aussage vor Gericht abgesprochen gewesen sei, räumte T ein, dass dies zutreffend sei. A sei am Wochenende vor der Gerichtsverhandlung bei ihm gewesen und man hätte die Aussage besprochen bzw. vorbereitet. Insbesondere entspreche seine frühere Einlassung, wonach ihm ein Angehöriger die Telefonnummer gegeben habe, nicht der Wahrheit. Man sei davon ausgegangen, mit der Lüge durchzukommen, da ja gegenüber Angehörigen ein Zeugnisverweigerungsrecht bestehe. Am Samstagabend seien dann A und T zum Verteidiger des A ins Hotel gefahren. R habe man dann erzählt, was T aussagen werde und man habe von R wissen wollen, ob das so glaubwürdig klinge. R habe geantwortet, dass er sich das überlegen müsse. R sei dann am Sonntagabend zu T nach Hause gekommen, wo die beabsichtigte Aussage des T genau besprochen worden sei. Mit Urteil des AG vom 23.07.2015, rechtskräftig seit 31.07.2015, wurde der anderweitig Verfolgte T wegen falscher uneidlicher Aussage in Tateinheit mit versuchter Strafvereitelung zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten mit Bewährung verurteilt. Im vorliegenden Verfahren verurteilte das AG den A am 13.08.2015 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten. Nach den Urteilsfeststellungen räumte A die Tat ein während der als Zeuge gehörte T angab, er habe anlässlich der Hauptverhandlung am 23.02.2015 deswegen die Unwahrheit gesagt, weil er ein schlechtes Gewissen gehabt habe, da er A in das Rauschgiftgeschäft hineingezogen habe. Er habe deshalb am Wochenende vor dem Hauptverhandlungstermin mit A besprochen, was er als Zeuge aussagen solle. Anschließend habe man die angedachte Aussage dem R als Verteidiger des A vorgetragen. Dieser habe dann geäußert, das könne man so machen. Gegen dieses Urteil legten sowohl die StA als auch A Berufung ein. Die StA hatte bereits mit Verfügung vom 30.03.2015 ein Ermittlungsverfahren gegen RA R wegen Beihilfe zur falschen uneidlichen Aussage eingeleitet. Unter dem 21.10.2015 erhob sie Anklage wegen Beihilfe zur falschen uneidlichen Aussage in Tateinheit mit versuchter Strafvereitelung zum AG. Mit Beschluss vom 25.11.2015 ließ das AG die Anklage zur Hauptverhandlung zu, eröffnete das Hauptverfahren und bestimmte Termin für die Hauptverhandlung auf den 01.03.2016. Die StA hat am 21.10.2015 unter Bezugnahme auf die gegen A erhobene Anklage gegenüber dem LG beantragt, RA R von der Mitwirkung im Berufungsverfahren gemäß § 138a I Nr. 3 StPO auszuschließen.“

Das OLG hat dem Antrag stattgegeben:

c) RA R ist jedenfalls einer versuchten Strafvereitelung nach den §§ 258 I, IV, 22, 23 StGB hinreichend verdächtig; insbesondere genügt auch eine (nur) versuchte Strafvereitelung für eine Ausschließung (KK/Laufhütte/Willnow138a Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt § 138a Rn. 11).

aa) Auch wenn es angesichts des mittlerweile erfolgten Geständnisses des A nahliegend erscheinen mag, hat der Senat nicht zu überprüfen, ob dessen Verurteilung wahrscheinlich ist. Vielmehr hat der Senat zu unterstellen, dass dieser alle Tatbestandsmerkmale erfüllt hat und keine Prozesshindernisse entgegenstehen und auf Grundlage dieser Unterstellung zu beurteilen, ob der Verteidiger einer der in § 138a I Nr. 3 StPO genannten Straftaten verdächtig ist (Meyer-Goßner/Schmitt138a Rn. 10; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 31.03.2006 – 3 Ausschl 1/06 = OLGSt StPO § 138a Nr. 7 = JZ 2006, 1129).

bb) Versuchte Strafvereitelung liegt vor, wenn jemand nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar dazu ansetzt, absichtlich oder wissentlich ganz oder zum Teil zu vereiteln, dass ein anderer wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft wird. Der Vorwurf, auf den sich hier der hinreichende Verdacht bezieht, liegt in der Absprache der Einzelheiten und Beratung des anderweitig Verfolgten T hinsichtlich der Glaubhaftigkeit seiner zu tätigenden Aussage als Zeuge im Verfahren gegen A sowie der aktiven Beteiligung an der Vernehmung des T im Hauptverhandlungstermin am 23.02.2015.

(1) Dabei ist sich der Senat bewusst, dass die Stellung als Verteidiger in einem Strafprozess und das damit verbundene Spannungsverhältnis zwischen seiner Stellung als unabhängiges, der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtetes Organ der Rechtspflege und seiner Beistandsfunktion und Treuepflicht gegenüber dem Angeklagten eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten im Hinblick auf den Straftatbestand der Strafvereitelung erforderlich macht (BGHSt 38, 345; 46, 53; BGH NJW 2006, 2421; BGH NJW 2009, 2690; OLG Bamberg a.a.O.; OLG Nürnberg NJW 2012, 1895) und dass vor diesem Hintergrund nach der Rspr. des BGH der Nachweis des subjektiven Tatbestandes bei einem Verteidigerverhalten erhöhten Anforderungen unterliegt (BGH NJW 2000, 2433, 2434 = BGHSt 46, 53ff; OLG Karlsruhe a.a.O.). Danach ist ein Strafverteidiger verpflichtet, seinen Mandanten im Rahmen der Gesetze bestmöglich zu verteidigen. Er ist dagegen nicht verpflichtet, an der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs mitzuwirken. Er hat auch nicht für die Richtigkeit von Zeugenaussagen einzustehen und ist insbesondere grundsätzlich auch nicht verpflichtet, eine Falschaussage zu verhindern. Die Grenze zulässigen Verteidigungshandelns ist jedoch überschritten, wenn der Verteidiger den Sachverhalt aktiv verdunkelt oder verzerrt, insbesondere wenn er Beweisquellen verfälscht. Bei von ihm sicher als unwahr erkannten Zeugenaussagen ist eine aktive Verdunkelung anzunehmen, wenn der Verteidiger Einfluss auf das Zustandekommen der Aussage genommen hat, insbesondere wenn er den Zeugen zu einer Falschaussage veranlasst, wenn er ihn in seinem Entschluss bestärkt oder wenn er den Inhalt der Falschaussage mit ihm abgestimmt hat (vgl. BGH a.a.O.; vgl. zusammenfassend auch Fischer StGB 63. Aufl. § 258 Rn. 16 ff).

(2) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze war hier nach Aktenlage die Grenze des prozessual zulässigen Verteidigungshandelns überschritten, weil durch die abgesprochene falsche Aussage des anderweitig Verfolgten T die aufgrund der bei der Durchsuchung aufgefundenen Indizien gegen den Angekl. sprechende Beweislage verschlechtert werden sollte und dies RA R nicht nur wusste, sondern es ihm gerade auch darauf ankam.

cc) Es bedarf schließlich keiner abschließenden Entscheidung darüber, ob durch die in der Hauptverhandlung vom 23.02.2015 erfolgte Aussetzung des Verfahrens eine derart beachtliche Verzögerung eingetreten ist, dass bereits eine vollendete Strafvereitelung in Betracht käme (Fischer258 Rn. 8 m.w.N.) und ob dies auch vom Vorstellungsbild der Beteiligten erfasst wäre. Die Angaben des anderweitig Verfolgten T sowohl im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung anlässlich des Haftprüfungstermins als auch im Rahmen der Hauptverhandlung am 13.08.2015 rechtfertigen jedenfalls nach vorläufiger Bewertung hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen des Tatentschlusses für eine versuchte Strafvereitelung. …“

Rüffel vom VerfGH, oder: Das OLG darf es sich bei Haftentscheidungen nicht zu einfach machen

HaftDer regelmäßige Leser dieses Blog weiß, dass ich immer gern über den Fortgang von Verfahren berichte, aus denen ich hier schon Entscheidungen vorgestellt habe. Und das tue ich dann jetzt auch mit dem VerfGH Sachsen, Beschl. v. 21.04.2016 – VerfG Vf. 16-IV-16 (HS), der im sog. Infinus-Verfahren (Vorwurf: Betrug) ergangen ist, in dem derzeit beim LG Dresden die Hauptverhandlung läuft. Über das Verfahren und die darin ergangenen Haftentscheidungen hatte ich teilweise schon berichtet, und zwar über den OLG Dresden, Beschl. v. 23.12.2014 – 2 Ws 542/14 (vgl. dazu Freibrief/Freilos – Erstaunliches zur U-Haft-Fortdauer vom OLG Dresden) und den dazu ergangenen VerfGH Sachsen, Beschl. v. 26.02.2015 – 7-IV-15, 8-IV-15 (vgl. Freibrief/Freilos – Erstaunliches zur U-Haft-Fortdauer aus Sachsen – II).

Waren die Meldungen dazu bisher eher negativ, so sind sie jetzt erfreulich (nun ja, kommt darauf an, das OLG Dresden wird es anders sehen). Denn: Der Verteidiger hatte nach mehr als zwei Jahren Untersuchungshaft erneut während laufender Hauptverhandlung die Haftentlassung seines Mandanten beantragt. Das LG hatte das erneut abgelehnt und das u.a. damit begründet, dass die Hauptverhandlung keine Aspekte ergeben habe, die den dringenden Tatverdacht bzw. eine die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigende Straferwartung in Frage stellen könnten. Es sei bedacht worden, dass bei einer Verurteilung wegen Beihilfe zum banden- und gewerbsmäßigen Betrug der Strafrahmen auf höchstens 7 Jahre 6 Monate vermindert sei. Es hätten sich zudem Hinweise dafür ergeben, dass ein etwaiges Betrugsgeschehen schon deutlich vor dem angeklagten Tatzeitpunkt begonnen habe. Das OLG hat die dagegen gerichtete Beschwerde verworfen und hat sich dabei weitgehend auf die Ausführungen des LG bezogen.

Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte dann jetzt Erfolg. Dem VerfGH Sachsen hat es dann jetzt gereicht. Er moniert, dass es sich LG und OLG dann doch ein wenig zu einfach gemacht haben. Denn:

„… Es hängt von der jeweiligen Sachlage im Einzelfall ab, wann fehlende Ausführungen zur Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit gegen das Freiheitsgrundrecht verstoßen. In sich schlüssige und nachvollziehbare Erwägungen — gemessen am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz — sind aber bei Haftfortdauerentscheidungen nach § 122 StPO immer notwendig (vgl. z.B. SächsVerfGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 Vf. 7-1V-I0 [HS]/Vf. 8-1V-10 [e.A.] —juris Rn. 18).

b) Angesichts der zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidungen bereits seit mehr als zwei Jahren andauernden Untersuchungshaft und einer gesetzlichen Straferwartung von zwischen 3 Jahren 9 Monaten und 7 Jahren 6 Monaten werden der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 26. Februar 2016 und der Beschluss des Landgerichts vom 22. Dezember 2015 in der Form der Nichtabhilfeverfügung vom 11. Februar 2016 den Anforderungen an die Begründungstiefe nicht gerecht.

Die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts setzen sich im Zusammenhang mit der prognostizierten Straferwartung nicht mit der hier gebotenen Begründungstiefe mit dem hypothetischen Ende und der Ausgestaltung einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe auseinander (vgl. zur Maßgeblichkeit des tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzugs: SächsVerfGH, Beschluss vorn 14. August 2012 — Vf. 60-IV12 [HS]/Vf. 61-IV-12 [e.A.]; BVerfG, Beschluss vom 4. Juni 2012 —2 BvR 644/12 — juris Rn. 35, 37: KG Berlin, Beschluss vom 3. November 2011, StV 2012, 350 [351]; Creuß in BeckOK, StPO, Stand: 1. Juni 2012, § 112 Rn. 17) und unterlassen eine hierauf bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung. Des Weiteren enthalten die Entscheidungen keine hinreichenden Ausführungen zu einer möglichen Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes nach § 57 StGB, obwohl der Beschwerdeführer nicht vorbestraft ist und nach rechtskräftiger Verurteilung erstmalig eine Freiheitsstrafe verbüßen würde (vgl. BVerfG, a.a,0.).“

Wie gesagt, wird man beim OLG nicht so gerne lesen den Rüffel. Aber gelesen hat man den Beschluss des VerfGH, zumindest beim LG. Denn das hat den Haftbefehl inzwischen im LG Dresden, Beschl. v. 25.04.2015 – 5 KLs 100 Js 7387/12 – außer Vollzug gesetzt. Na bitte. Geht doch. Und auf einmal geht es auch schnell 🙂 .