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Corona I: Maskenpflicht in Bayern, oder: Verfassungsmäßig, Befreiung und Tragen in der Hauptverhandlung

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Heute zum Beginn der 38. KW. dann mal wieder einige Entscheidungen zu Corona bzw. zu den verfahrensmäßigen Auswirkungen der Maskenpflicht.

Die ersten drei Beschlüsse kommen vom BayObLG, und zwar:

Gegen die in § 13 Abs. 4 Satz 2 der 6. BayIfSMV v. 19.06.2020 in der Gastronomie für Gäste angeordnete Maskenpflicht bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Schon etwas älter, aber erst jetzt vom BayObLG veröffentlicht.

1. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Betroffene zum Tatzeitpunkt gegen die Maskenpflicht auf stark frequentierten öffentlichen Plätzen nach § 27 Nr. 18 i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 1 der 8. BayIfSMV v. 30.10.2020 (BayMBl. 2020 Nr. 616) verstoßen hat, kommt es ausschließlich darauf an, ob der Betroffene aus der Sicht des Tatrichters zum Zeitpunkt der behördlichen Kontrolle an Ort und Stelle Umstände glaubhaft gemacht hat, die eine Befreiung von der Maskenpflicht nach § 2 Nr. 2 der 8. BayIfSMV begründeten.

2. Soweit und solange der Verordnungsgeber keine konkreten Vorgaben zum Inhalt und zu den Mitteln der Glaubhaftmachung normiert hat, gehört die Frage, ob das Amtsgericht im konkreten Fall zu Recht von einer hinreichenden Glaubhaftmachung einer Befreiung von der Maskenpflicht ausgegangen ist, zum Kern tatrichterlicher Beweiswürdigung. Die Nachprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht beschränkt sich deshalb darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen ist, was nur dann angenommen werden kann, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt.

1. Die Anordnung des Vorsitzenden, in der Hauptverhandlung aus Gründen des Infektionsschutzes eine Mund-Nasen-Schutz-Bedeckung zu tragen, ist als sitzungspolizeiliche Maßnahme nach § 176 Abs. 1 GVG zulässig. Das allgemeine Verhüllungsverbot nach § 176 Abs. 2 GVG steht dem nicht entgegen.

2. Wird ein Betroffener wegen ordnungswidrigen Benehmens gemäß § 177 GVG aus dem Sitzungssaal entfernt, rechtfertigt dies nicht die die Verwerfung seines gegen den Bußgeldbescheid gerichteten Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG. Vielmehr ist in einem solchen Fall nach § 231b Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG zu verfahren.

Das betreffend die Anordnung der Maske-Tragens in der Hauptverhandlung das OLG Celle im OLG Celle, Beschl. v. 15.04.2021 – 3 Ws 91/21 – ja schon ebenfalls entschieden (vgl. dazu: Corona II: Wenn der Verteidiger in der HV keine Maske tragen will, oder: Trennung, Aussetzung, Kostentragung).

Corona II: Ist das InfektionsschutzG verfassungsmäßig?, oder: Das AG Wuppertal fragt das BVerfG

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Und als zweite Entscheidung zu Corona dann der AG Wuppertal, Beschl. v. 05.07.2021 – 82 OWi-623 Js 547/21-12/21. Das AG hatte/hat über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:

„Am 12.12.2020 gegen 23:05 Uhr stieg die Betroffene gemeinsam mit dem Zeugen H an der Bushaltestelle „T-Straße“ in Y aus den Bus und lief mit dem genannten Zeugen die T-Straße in nördliche Richtung. Auf der T-Straße trafen die Betroffene und der Zeuge sodann gegen 23:10 Uhr vor dem Haus mit der Nr. 58 auf insgesamt fünf ehemalige Mitschüler der Betroffenen. Über das zufällige Zusammentreffen erfreut stellten sich die insgesamt sieben Personen zusammen und unterhielten sich für mindestens anderthalb Minuten, wahrscheinlich deutlich länger. Hierbei tauschte man insbesondere Erinnerungen über „alte Zeiten“ aus. Die an dem Treffen beteiligten Personen hatten alle das 18. Lebensjahr vollendet und entstammten zum Zeitpunkt des Treffens jeweils unterschiedlichen, also insgesamt sieben verschiedenen Hausständen. Keiner von den Beteiligten trug eine Maske, auch hielten die Beteiligten keinen Abstandstand von 1,5 Meter untereinander ein, sondern standen vielmehr bei ihren Unterhaltungen jeweils in Armlänge voneinander entfernt. Der Betroffenen war bewusst, dass derartige Zusammentreffen im öffentlichen Raum durch die in Nordrhein-Westfalen zum Tatzeitpunkt geltenden Coronaschutzverordnung vom 30.11.2020 in der ab dem 09.12.2020 gültigen Fassung (im Folgenden: CoronaSchVO) verboten waren und Verstöße mit Bußgeld sanktioniert wurden. Aufgrund der Freude über das unverhoffte Zusammentreffen mit ihren ehemaligen Mitschülern entschloss sie sich jedoch zu dem Verstoß gegen die CoronaSchVO.

Aufgrund des dargestellten Sachverhalts erließ das Ordnungsamt der Stadt Y unter dem 26.01.2021 einen Bußgeldbescheid gegen die Betroffene, in dem eine Geldbuße von 250 €

Das AG geht davon aus, dass „sich die Betroffene objektiv eines Verstoßes gegen § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1a CoronaSchVO schuldig gemacht. Ihr war das gegenständliche Verbot auch bekannt, sie entschied sich vorliegend bewusst für den Verstoß. Dementsprechend ist gemäß § 18 Abs. 1, 2 Nr. 1 CoronaSchVO ein Bußgeld gegen sie verhängt worden.

Aber: Das AG hält die Verordnungsermächtigung für verfassungswidrig und hat deshalb das BVerfG angerufen und ihm folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt:

Ist § 32 S. 1 Infektionsschutzgesetz (in der vor dem 23.04.2021 geltenden Fassung) i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 und 2 Infektionsschutzgesetz, § 28a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, 3, 5 und 6 Infektionsschutzgesetz (in der vor dem 31.03.2021 geltenden Fassung) mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar?

Corona I: Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, oder: Verfassungsmäßig

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Und zum Wochenstart zwei „Corona-Entscheidungen“.

Zunächst stelle ich den KG, Beschl. v. 13.08.2021 – 3 Ws (B) 198/21 – vor. Es geht um die Verfassungsmäßigkeit der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin hat gegen die Betroffene wegen einer vorsätzlichen Zuwiderhandlung gegen § 4 Abs. 1 SARS-CoV-2 IfSV Bln eine Geldbuße von 150 EUR festgesetzt. Auf ihren Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten die Betroffene wegen des im Bußgeldbescheid bezeichneten vorsätzlichen Verstoßes zu einer Geldbuße von 100 EUR verurteilt. Im Einzelnen hat es festgestellt, dass die Betroffene am 02.07.2020 um 20.49 Uhr am S- Bahnhof Westkreuz eine in Richtung Potsdam fahrende S-Bahn betreten hat, ohne eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Auch nachdem die Betroffene durch eine Polizeibeamtin aufgefordert worden war, weigerte sie sich, eine Maske anzulegen. Selbst nach der anschließenden Personalienfeststellung, zu der die Betroffene die S-Bahn verlassen musste, hatte die Betroffene kein Einsehen und bestieg die nächste Bahn wiederum ohne Maske.

Gegen diese Verurteilung wendet sich die Betroffene mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Sie beanstandet die Anwendung des § 4 Abs. 1 SARS-CoV-2 IfSV u.a. deshalb, weil die Vorschrift nicht verfassungsgemäß zustande gekommen und auch materiell unverhältnismäßig, mithin verfassungswidrig sei. Daneben sei die Tat auch nicht, wie es die Vorschrift formuliere, „in geschlossenen Räumen“ begangen worden. Schließlich macht die Betroffene geltend, geglaubt zu haben, nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 SARS-CoV-2 IfSV aus gesundheitlichen Gründen von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung befreit gewesen zu sein.

Das KG hat die Rechtsbeschwerde zugelassen, sie dann aber als unbegründet verworfen. Hier die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG folgt, dass der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ umfassend ist und der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen eröffnet, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird.

  2. Staatliche Regelungen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, sind zulässig, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann (Anschluss an VfGH Bln, Beschluss vom 20. Mai 2020 – VerfGH 81 A/20 -).

  3. Bei der gegebenen Gefährdungslage mit erheblichen prognostischen Unsicherheiten, die auch eine katastrophale Überlastung des Gesundheitswesens einbezog, war der Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel, zumindest für eine Übergangszeit, hinzunehmen.

Corona II: Corona-VO Ba-Wü verfassungsgemäß, oder: Gemeinsamer Aufenthalt nur mit Mindestabstand

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Bei der zweiten Entscheidung aus dem „Corona-Komplex“, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.03.2021 – 2 Rb 34 Ss 2/21. Es geht um die Verfassungsmäßigkeit und Auslegung des Aufenthaltsverbots im öffentlichen Raum in der baden-württembergischen Corona-Verordnung von Frühjahr 2020.

Das AG Heidelberg hat den Betroffenen wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 100 € und wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 500 € verurteilt.

Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen stand der Betroffene am 05.04.2020 zunächst um 16:20 Uhr mit zwei und dann um 18:00 Uhr mit drei anderen jeweils nicht zu seinem Hausstand gehörenden Personen an zwei verschiedenen Örtlichkeiten im öffentlichen Raum zusammen, mit denen er sich unterhielt, wobei die Kommunikation über das Mindestmaß der gebotenen Höflichkeit im Sinn eines „Hallo, wie geht’s“ hinausging. Der Abstand zwischen den Personen betrug bei dem ersten Vorkommnis etwa einen Meter, bei dem späteren Vorkommnis etwa anderthalb Meter.

Die Verurteilung ist auf §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 9 Nr. 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17.03.2020 in der vom 29.03.2020 bis 09.04.2020 geltenden Fassung gestützt.

Das OLG hat die Rechtsbeschwerde zugelassen und eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG angeregt:

Es nimmt zunächst zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-VA Stellung und bejahr diese. Dazu hier nur der Leitsatz, das man das auch alles schon mal gelesen hat:

Das Infektionsschutzgesetz ermächtigte in verfassungsrechtlich zulässiger Weise die Landesregierungen zu Regelungen durch Rechtsverordnung, im Frühjahr 2020 aus Anlass der Corona-Pandemie den Aufenthalt im öffentlichen Raum zu beschränken und Verstöße hiergegen als Ordnungswidrigkeit auszugestalten.

„Zur Sache“ führt das OLG dann aus:

„bb) Der § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO vom 17.03.2020 in der zur Tatzeit geltenden Fassung zukommende Regelungsgehalt ist dabei durch Auslegung zu ermitteln.

(1) Bei der Auslegung einer Norm bildet der Wortlaut zugleich Ausgangspunkt und Grenze (BVerfGE 71, 108; 92, 1). Mit dem Begriff „Aufenthalt“ wird dabei nicht mehr als die zeitlich begrenzte Anwesenheit an einem Ort umschrieben (vgl. nur https://www.duden.de/rechtschreibung/Aufenthalt). Soweit § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO vom 17.03.2020 an den Aufenthalt mit anderen Personen anknüpft, ergibt sich daraus nicht ohne Weiteres, wie die Verbindung zwischen den beteiligten Personen sein muss, um diese Voraussetzung zu erfüllen. Denn dies erlaubt sowohl ein Verständnis, bei dem es auf eine räumliche Nähe und/oder aber eine innere Verbindung der Personen (vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 14.04.2020 – 19 K 1816/20 = BeckRS 2020, 5775) ankommt. Insoweit gibt auch die Zusammenschau mit § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO, der zu anderen Personen einen Mindestabstand von 1,5 Metern vorschrieb, keinen Aufschluss, weil sich dem Text – anders als etwa bei der Regelung der Abstands- und Kontaktregelungen in §§ 2, 9 der Corona-VO vom 23.06.2020 – kein eindeutiger Bestimmungsgehalt im Sinn eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses entnehmen lässt.

(2) Dem Amtsgericht ist danach beizupflichten, dass dem Gesetzeszweck entscheidende Bedeutung für die Bestimmung des Regelungsgehalts zukommt. Allerdings führt dies zu einem von der Bewertung des Amtsgerichts abweichenden Auslegungsergebnis.

Nach den bei Erlass der Verordnung bestehenden noch eingeschränkten wissenschaftlichen Erkenntnissen kam dem Einhalten eines räumlichen Abstandes zwischen den Menschen entscheidende Bedeutung zu, um eine Übertragung des Virus im Weg der Tröpfcheninfektion zu verhindern, wobei ein Abstand von 1,5 Metern als ausreichend erachtet wurde (und wird). Diesem Zweck diente nicht nur die Abstandsregel des § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO, sondern letztlich auch die mit der Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO angestrebte Kontaktbeschränkung. Dem wird ein Verständnis, wonach es für den Aufenthalt mit einer anderen nicht dem eigenen Haushalt zugehörigen Person allein auf eine innere Verbindung zwischen den Personen (im Sinn eines nicht nur zufälligen Zusammentreffens, VG Karlsruhe a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.) ohne Berücksichtigung des räumlichen Abstands ankommt, nicht gerecht.

Zwar wäre nach dem Wortlaut und dem systematischen Verhältnis zu § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO auch ein Verständnis möglich, wonach der Verordnungsgeber das Zusammenkommen mehrerer Personen allein deshalb verhindern wollte, weil dabei die Gefahr besteht, dass hinreichende Mindestabstände – wenngleich auch häufig unbeabsichtigt – gerade nicht verlässlich eingehalten werden. Als Hinweis auf einen entsprechenden Willen des Verordnungsgebers kann gesehen werden, dass in der ab dem 04.05.2020 geltenden Fassung der Corona-Verordnung durch § 9 Nr. 1 CoronaVO nicht mehr wie zuvor der Verstoß sowohl gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 CoronaVO als auch gegen das Abstandsgebot nach § 3 Abs. 1 Satz 2 CoronaVO, sondern nurmehr der Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 CoronaVO bußgeldbewehrt war.

Unabhängig davon, ob dies im Text der zum Tatzeitpunkt geltenden Verordnungsfassung hinreichend zum Ausdruck kommt, kann jedoch auch dann nicht auf eine räumliche Komponente verzichtet werden, da sonst auch Fallgestaltungen erfasst würden, bei denen keine Infektionsgefahr bestand, zum Beispiel, wenn sich zwei für sich genommen erlaubte Personengruppen auf der Straße begegneten und mit mehreren Metern Abstand zueinander (z.B. von einer Straßenseite zur anderen) unterhielten. Denn im Falle der verlässlichen Wahrung eines eine Übertragung der Krankheit ausschließenden Mindestabstands ist das Verbot einer Ansammlung nicht mehr zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich und damit nicht mehr von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt (OLG Hamm a.a.O.). Auch unter dem Gesichtspunkt der an eine Norm zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen (dazu OLG Oldenburg NdsRpfl 2021, 66) ist es nach Auffassung des Senats geboten, zur Bestimmung des Maßes der räumlichen Komponente auf die in § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO getroffene Bestimmung zurückzugreifen, der die wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde liegt, dass das Übertragungsrisiko bei Einhaltung eines Mindestabstandes von 1,5 Metern minimiert ist (ebenso AG Reutlingen COVuR 2020, 611; vgl. auch OLG Koblenz a.a.O.).

(3) Bestätigt wird dieses Auslegungsergebnis nicht zuletzt dadurch, dass der Verordnungsgeber in späteren Fassungen der Corona-Verordnung – so auch in der zum Urteilszeitpunkt geltenden Fassung – den gesetzestechnisch missglückten Regelungstext in diesem Sinn umgestaltet hat, ohne dass damit ersichtlich eine inhaltliche Änderung einhergehen sollte.

Diese Rechtsauffassung wird auch vom 1. Bußgeldsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe in einem nicht veröffentlichten Beschluss vom 04.02.2021 (1 Rb 21 Ss 833/20) – allerdings nicht tragend – geteilt.

2. Auf Grundlage dieser vom amtsgerichtlichen Urteil abweichenden Beurteilung der rechtlichen Grundlage kann das Urteil schon auf die Sachrüge keinen Bestand haben, so dass es auf die daneben erhobenen verfahrensrechtlichen Beanstandungen nicht mehr ankommt.

a) Bezüglich der Tat II. 2. des Urteils (angenommener vorsätzlicher Verstoß um 18:00 Uhr) ergibt sich schon aus den getroffenen Feststellungen nicht zweifelsfrei, dass es zu einer Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern gekommen ist.

b) Hinsichtlich der weiteren Tat II. 1. (angenommener fahrlässiger Verstoß um 16:20 Uhr) soll der Abstand nach den getroffenen Feststellungen zwar bei nur etwa einem Meter gelegen haben. Doch bestehen erhebliche Bedenken, ob diese Feststellung von der dazu vorgenommenen Beweiswürdigung getragen wird. Mit der Feststellung hat das Amtsgericht die Entfernungsangabe des Zeugen Bender übernommen, der diese jedoch ausdrücklich als Schätzung bezeichnet hat. Dies lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres mit den von ihm auf einem Lichtbild (AS. II 97) eingetragenen Standorten der beteiligten Personen in Einklang bringen, die dem Senat wegen der hierauf erfolgten Verweisung gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 3 StPO zugänglich sind. Nach Auffassung des Senats hätte es deshalb näherer Feststellungen zu den räumlichen Verhältnissen am Tatort bedurft. Jedenfalls bei einer im Grenzbereich liegenden Unterschreitung des nach der Rechtsauffassung des Senats maßgeblichen Mindestabstandes kann dies zudem Einfluss auf die Beurteilung des Schuldgehalts haben und sich damit auf die Bemessung des Bußgeldes auswirken.

Da es zweifelhaft erscheint, dass in einer neuen Hauptverhandlung überhaupt noch Feststellungen getroffen werden können, die eine Unterschreitung des Mindestabstandes von 1,5 Metern als Voraussetzung für eine Verurteilung belegen, und auf der Grundlage des Akteninhalts jedenfalls eine klare Unterschreitung des Mindestabstandes jeweils nicht vorgelegen haben dürfte, erscheint eine Fortsetzung des Verfahrens nicht sachdienlich. Bei dieser Sachlage könnte das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG (mit der Kostenfolge gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 1 StPO) beendet werden.“

Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, oder: Geschäftsmäßige Sterbehilfe

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In die 10. KW/2020 starte ich heute mit dem BVerfG, Urt. v. 26.02.2020 – 2 BvR 2347/15 u.a., also der Entscheidung des BVerfG zur (geschäftsmäßigen) Sterbehilfe.

Darüber ist ja in den vergangenen Tagen schon an vielen Stellen berichtet worden. Ich will hier auf dieses Urteil aber auch der Vollständigkeit halber hinweisen, allerdings nur mit den (amtlichen) Leitsätzen des BVerfG:

1. a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

b) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.

2. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen.

3a) Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen.

b) Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen.

4. Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben beimisst, ist grundsätzlich geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt.

5. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt.

6. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.