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3,4 Promille – das ist nicht mal einfach so vorsätzlicher Vollrausch

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Bei der Verurteilung wegen eines Vollrausches (§ 323a StGB) ist für die Bestrafung des Angeklagten von erheblicher Bedeutung, ob Vorsatz oder nur Fahrlässigkeit vorliegt. Von den Tatgerichten wird bei einer hohen BAK gern auf Vorsatz geschlossen. So einfach geht das aber – ebenso wie bei der Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB – nicht. Dazu der OLG Hamm, Beschl. v. 28.04.2016 – 3 RVs 30/16:

„a) Nach den getroffenen Feststellungen hat das Amtsgericht zwar rechtsfehlerfrei die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des Vollrausches nach § 323a StGB bejaht. Denn durch den Genuss alkoholischer Getränke hat sich der Angeklagte in einen Zustand versetzt, in dem seine Schuldfähigkeit möglicherweise ausgeschlossen, jedenfalls aber erheblich i.S.d. § 21 StGB beeinträchtigt war. Angesichts der zum Zeitpunkt der Blutentnahmen festgestellten BAK und der beschriebenen Ausfallerscheinungen (Sturz mit dem Fahrrad, unsicheres Gangbild, aggressives Verhalten, lautes und zielloses Herumlaufen in der Wohnung) ist die Schlussfolgerung des Amtsgerichts, dass die Schuldfähigkeit bei Begehung der Tat vermindert, wenn nicht gar aufgrund der starken Alkoholisierung aufgehoben gewesen sei, nicht nur möglich, sondern naheliegend. In diesem Zustand beging der Angeklagte eine rechtswidrige Tat, nämlich eine gefährliche Körperverletzung i.S.v. § 224 Abs. 1 StGB zum Nachteil der Zeugin X.

b) Durchgreifenden sachlich-rechtlichen Bedenken begegnet jedoch die Annahme vorsätzlicher Tatbegehung. Die Feststellungen belegen nicht zweifelsfrei die Überzeugung des Amtsgerichts, dass sich der Angeklagte vorsätzlich in einen Rausch versetzt habe. Das Revisionsgericht ist zwar auch an solche Schlussfolgerungen des Tatrichters gebunden, die nicht zwingend, sondern nur möglich sind. Dies gilt jedoch nicht, wenn sich die Schlussfolgerungen so sehr von einer festen Tatsachengrundlage entfernen, dass sich das Ergebnis der Bewertung als bloße Vermutung erweist (BGH, Beschluss vom 25. März 1986 – 2 StR 115/86, NStZ 1986, S. 373, OLG Hamm, Beschluss vom 22. August 2000 – 4 Ss 615/00, juris, Rdnr. 7 und Beschluss vom 22. Januar 2007 – 2 Ss 458/06, juris, Rdnr. 23). Dies ist hier der Fall.

aa) Wegen vorsätzlichen Vollrausches kann nur bestraft werden, wer sich wissentlich und willentlich in einen rauschbedingten Zustand der (möglichen) Schuldunfähigkeit versetzt hat. Der zumindest erforderliche bedingte Vorsatz ist gegeben, wenn es der Täter bei dem Genuss von Rauschmitteln für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, dass er sich dadurch in einen Rauschzustand versetzt, der seine Einsichtsfähigkeit oder sein Hemmungsvermögen jedenfalls erheblich vermindert, wenn nicht ganz ausschließt (BGH, Beschluss vom 12. Mai 1989 – 2 StR 684/88, juris, und Urteil vom 28. Juni 2000 – 3 StR 156/00, juris, Rdnr. 8; Senat, Beschluss vom 21. August 2007 – 3 Ss 135/07, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 22. August 2000 – 4 Ss 615/00, juris, Rdnr. 8).

bb) Für vorsätzliches Handeln des Angeklagten in diesem Sinne bilden die Feststellungen keine zuverlässige Stütze. Ausführungen dazu, welche Vorstellungen der Angeklagte über die Auswirkungen seines Alkoholkonsums hatte, als er sich betrank, enthält das angefochtene Urteil nicht. Auch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt sich nicht hinreichend entnehmen, dass der Angeklagte mit dem Eintritt von Schuldunfähigkeit als Folge seines Alkoholkonsums rechnete oder dass er voraussehen konnte, dass er in einen alkoholbedingten Rausch geraten würde und dieses wollte oder jedenfalls billigend in Kauf nahm. Zwar enthält das Urteil aufgrund der Angaben zur Blutalkoholkonzentration des Angeklagten hierfür gewichtige Anhaltspunkte. Allein aus der Aufnahme der beträchtlichen Alkoholmenge, die zum Erreichen der festgestellten hohen BAK erforderlich war, können zuverlässige Schlüsse zur inneren Tatseite jedoch nicht gezogen werden. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass bei Alkoholgenuss in einer Menge, die – wie hier – zu einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 3,4 o/oo führt, stets auf die vorsätzliche Herbeiführung eines Rauschzustandes durch den Täter geschlossen werden kann (BGH, Urteil vom 28. Juni 2000 – 3 StR 156/00, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 22. August 2000 – 4 Ss 615/00, juris; Senat, Beschluss vom 21. August 2007 – 3 Ss 135/07, juris). Vielmehr müssen weitere, auf die vorsätzliche Tatbegehung hinweisende Umstände, hinzutreten. Hierzu bedarf es weiterer Feststellungen zur maximalen BAK, zum Trinkverlauf (Beginn und Dauer des Alkoholkonsums, Art und Menge der konsumierten Getränke und ihres Alkoholgehalts), zu den Trinkgewohnheiten bzw. der Alkoholgewöhnung des Angeklagten, ggf. auch zu weiteren Straftaten, die der nach den Feststellungen nicht vorbestrafte Angeklagte bereits unter Alkoholeinfluss begangen hat.“

Wiedereinsetzung III: Auf den Pflichtverteidiger kommt es an….

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Hier dann „Wiedereinsetzung III“ und auch zum dritten Mal das OLG Hamm; ist vielleicht ein bisschen viel OLG Hamm, aber passte gerade. Hinzuweisen ist dann nämlich noch auf den OLG Hamm, Beschl. v. 14.04.2016 – 4 Ws 101/16. Zugestellt wird ein Beschluss, durch den die bedingte Entlassung des Verurteilten aus der Sicherungsverwahrung abgelehnt wird, nebst Rechtsmittelbelehrung an den Pflichtverteidiger des Verurteilten. Der Verurteilte erhält die formlose Übersendung des Beschlusses mit der Nachricht, dass die Zustellung an den Verteidiger erfolgt ist. Später geht dann – nach „Fristablauf“ – die sofortige Beschwerde des Verurteilten ein, eingelegt durch einen neuen (Wahl-) Verteidiger. Der Verurteilte beantragt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er bestreitet die Zustellung an den Pflichtverteidiger. Er sei von diesem über die Zustellung nicht in Kenntnis gesetzt worden. Er meint, es käme auf den Tag des Zugangs bei ihm – dem Verurteilten – an.

Das OLG meint:.

„Das Wiedereinsetzungsgesuch ist unbegründet, da der Verurteilte nicht ohne sein Verschulden gehindert war, die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde einzuhalten (§ 44 StPO). Die Zustellung des angefochtenen Beschlusses an den Pflichtverteidiger bei gleichzeitiger formloser Übersendung an den Verurteilten mit entsprechender Benachrichtigung entsprach den Vorgaben von § 145a Abs. 3 S. 1 StPO. Für den Fristenlauf der Rechtsmittel oder ihrer Begründung sind allein die Zustellungen an den Verteidiger maßgebend (BGH NJW 1977, 640).

Bei der Zustellung an den bestellten Verteidiger kann der Betroffene einen Antrag auf Wiedereinsetzung nicht darauf stützen, er selbst habe von der Zustellung keine Kenntnis erlangt (RGSt 66, 350; Maul in: KK-StPO, 7. Aufl., § 44 Rdn. 23). Durch die Mitteilung über die Zustellung an den Verteidiger wurde der Verurteilte in Kenntnis gesetzt, dass die förmliche Beschlusszustellung nicht bei ihm selbst erfolgte, sondern bei seinem (Pflicht-) Verteidiger. Wenn er dann seinen neuen (Wahl-) Verteidiger nicht entsprechend informierte, sondern ihm am 24.02.2016 lediglich mitteilt, dass er den Beschluss „heute bekommen“ habe, so handelt es sich um eine unvollständige Information des Wahlverteidigers, die letztlich zur Versäumung der Frist führte. Diese erfolgte (vor dem Hintergrund der Gerichtserfahrung des Verurteilten: mindestens) fahrlässig. Die Regelung des § 145a Abs. 3 S. 1 StPO soll den Verurteilten gerade in die Lage versetzen, sich über den genauen Zustellungszeitpunkt Kenntnis zu verschaffen, wenn die Zustellung nicht an ihn selbst erfolgt ist. Nutzt er diese Möglichkeit nicht und informiert er seinen (neuen) Verteidiger unvollständig, so liegt darin eine Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt.“

Bitter, aber das war es dann wohl.

Wiedereinsetzung II: „War/bin bei der Freundin“ – reicht nicht

© Stefan Rajewski Fotolia .com

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Auf der Linie des „Mutti-Beschlusses“ des OLG Hamm (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 03.05.2016 – 4 Ws 103/16 und dazu: Wiedereinsetzung I: Wenn „Mutti“ mit dem Briefkastenschlüssel abhaut, muss man was tun) liegt dann(auch) der OLG Hamm, Beschl. v. 14.04.2016 – 4 Ws 101/16. Versäumt war wiederum die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung. Entschuldigungs(versuch) des Veruretilten: Ich habe mich bei meiner Freundin aufgehalten. Dem OLG reicht das nicht und es verwirft die Beschwerde. Denn:

„Das Wiedereinsetzungsgesuch wäre aber auch unbegründet gewesen, da der Verurteilte, obwohl er aufgrund der Zustellung des Anhörungsschreibens zur Widerrufsfrage am 26.01.2016 (nach den zeitlichen Angaben des Verurteilten befand er sich zu diesem Zeitpunkt, anders als zum Zeitpunkt der Beschlusszustellung – noch nicht vorübergehend bei seiner Freundin, was der Grund dafür war, dass er von der Zustellung des Widerrufsbeschlusses keine rechtzeitige Kenntnis hatte) wusste, dass eine bewährungsrechtliche Sanktion drohte, keine Vorkehrungen dafür getroffen hat, dass er von entsprechenden Zustellungen und Schreiben zeitnah Kenntnis erlangt.

Dies steht nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf es dem Bürger nicht als ein die Wiedereinsetzung ausschließender Umstand zugerechnet werden, wenn er wegen einer nur vorübergehenden Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung keine besonderen Vorkehrungen wegen der möglichen Zustellung eines Bußgeldbescheids oder Strafbefehls getroffen hat (BVerfG, Beschluss vom 18.10.2012 – 2 BvR 2776/10 –, Rn. 17, juris m.w.N.). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich – soweit ersichtlich – jeweils auf Fälle, in denen es um Einspruchsfristen gegen Strafbefehle oder Bußgeldbescheide ging (vgl. BVerfGE 41, 332; BVerfGE 40, 182; BVerfGE 40, 88; BVerfGE 37, 100), also auf Konstellationen, in denen für die jeweils Betroffenen bzw. Beschuldigten die Unschuldsvermutung stritt und diese keinen besonderen Verpflichtungen unterlagen. Das Bundesverfassungsgericht begründet seine Ansicht damit, dass „die Durchführbarkeit des summarischen Strafverfahrens“ auch davon abhänge, dass Ersatzzustellungen vorgenommen werden könnten. Art 103 Abs 1 GG gebiete es aber, dass „das Risiko, das in den Unzulänglichkeiten dieses Verfahrens für die Gewährung des rechtlichen Gehörs liegt, und das um der Effektivität der Strafrechtspflege willen hinzunehmen ist“, wenigstens dadurch gemildert werde, dass die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was ein Beschuldigter veranlassen muss, um Kenntnis von der Zustellung zu erlangen (BVerfGE 40, 88). Eine solche Fallgestaltung, nämlich dass sich jemand bisher vor Gericht noch kein rechtliches Gehör hat verschaffen können („erster Zugang zu Gericht“, vgl. Maul in: KK-StPO, 7. Aufl., § 44 Rdn. 21), liegt hier nicht vor. Vor Gericht – nämlich vor der Strafvollstreckungskammer – hätte der Verurteilte aufgrund seiner Anhörung durch das am 26.01.2016 zugestellte Anhörungsschreiben die Möglichkeit gehabt, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, was er nach Aktenlage nicht getan hat. Jedenfalls in einem solchen Fall muss der Verurteilte, will er sich die Möglichkeit der Verschaffung rechtlichen Gehörs für die Beschwerdeinstanz erhalten, dafür Sorge tragen, dass ihn gerichtliche Schreiben und Zustellungen erreichen (vgl. auch BGH, Beschl. v. 16.09.1999 – 1 StR453/99 = BeckRS 1999, 30403209).

Aber auch generell treffen einen unter Bewährung stehenden Verurteilten erhöhte prozessuale Mitwirkungspflichten, die ein Verschulden i.S.v. § 44 StPO an der Ver-säumung einer Frist begründen können. Art. 103 Abs. 1 GG schützt nicht den-jenigen, der der Wahrnehmung seiner Rechte mit vermeidbarer Gleichgültigkeit gegenübersteht. Von einem Betroffenen kann verlangt werden, dass er selbst zu-mutbare Anstrengungen zum „Wegfall des Hindernisses“ unternimmt, wenn er dazu Anlass hat und in der Lage ist (BVerfG, Beschl. v. 06.10.1992 – 2 BvR 805/91 –, Rn. 13, juris). Deswegen ist für das Erkenntnisverfahren anerkannt, dass der Angeklagte, der Berufung eingelegt hat, keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung verlangen kann, wenn er von der Ladung zur Berufungshauptverhandlung keine Kenntnis erlangt, weil er sich im Urlaub befindet und keine Vorkehrungen getroffen hat, dass ihn gericht-liche Schreiben im Berufungsverfahren erreichen (KG Berlin, Beschl. v. 28.03.1994 – 3 Ws 85/94 – juris LS; OLG Celle, Beschl. v. 12.10.2001 – 3 Ws 397/01 – juris). Entsprechendes gilt in laufender Bewährung erst Recht. Allein schon die hier erfolgte Unterstellung unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers impliziert eine gewisse – auch postalische – Erreichbarkeit. Insbesondere hatte der Verurteilte aber aufgrund des am 26.01.2016 zugestellten Anhörungsschreibens Anlass gehabt, den Posteingang an seiner Wohnanschrift in kürzeren Abständen zu kontrollieren. Dass er dazu nicht in der Lage gewesen wäre, ist nicht erkennbar.“

Wiedereinsetzung I: Wenn „Mutti“ mit dem Briefkastenschlüssel abhaut, muss man was tun

entnommen wikimedia.org Urheber: Sarang

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Heute dann mal ein „Wiedereinsetzungstag“. Dazu zunächst der OLG Hamm, Beschl. v. 03.05.2016 – 4 Ws 103/16, der auch schon in anderen Blogs gelaufen ist – Stichwort: Ehefrau ist mit dem Brifekastenschlüssel abgehauen. In dem Beschluss st die Wiedereinsetzung in die Versäumung der Beschwerdefrist gegen einen Widerrufsbeschluss verweigert worden. Der Verurteilte hatte geltend gemacht, dass seine Ehefrau nach einem Streit am  01.12.2015 die gemeinsame Wohnung verlassen und bis zum 12.12.2015 (einschließlich) ortsabwesend bei Verwandten in Bad Driburg bzw. Pirmasens gewesen sei. Zugestellt worden war am 04.12.2015 . Das OLG hat das nicht gelten lassen:

„Derjenige, der der Wahrnehmung seiner Rechte mit vermeidbarer Gleichgültigkeit gegenübersteht, ist aber nicht schützenswert. Von einem Betroffenen kann verlangt werden, dass er selbst zumutbare Anstrengungen zum “Wegfall des Hindernisses” unternimmt, wenn er dazu Anlass hat und in der Lage ist (BVerfG NJW 1993, 847). Derjenigen, der den Zugang zu seinem Briefkasten zwar unverschuldet verliert, sich aber nicht um einen baldmöglichsten erneuten Zugang kümmert, handelt jedenfalls hinsichtlich einer Fristversäumnis schuldhaft, die bei umgehender Ergreifung von Maßnahmen zur Zugangsverschaffung vermeidbar gewesen wäre. Insoweit ist die Situation nämlich nicht anders, als die, in der jemand aktiv selbst die Zugangsmöglichkeit zu seinem Briefkasten zunichtemacht (etwa durch Zerstören oder Wegwerfen des Schlüssels) oder sich einfach nicht um den Posteingang in seinem Briefkasten kümmert.

Hier ist nicht erkennbar, dass der Verurteilte irgendwelche Anstrengungen unternommen hat, an dem o.g. Zustand, der ihm bekannt war, etwas zu ändern. Aufgrund der ihm bekannten Abwesenheit der Besitzern des einzigen Briefkastenschlüssels, hätte er dazu aber Anlass gehabt. Der Verurteilte handelte mithin in vermeidbar gleichgültiger Weise. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass er seine Ehefrau um Überlassung des Briefkastenschlüssels ersucht oder (ggf. im Einvernehmen mit dem Eigentümer der Briefkastenanlage) eine Öffnung des Briefkastens durch einen Schlüsseldienst versucht hat. Da die Ehefrau die gemeinsame Wohnung unter Mitnahme des Schlüssels bereits am 01.12.2015 (einem Freitag) verlassen hatte, ist nicht ersichtlich, warum es dem Verurteilten nicht möglich gewesen sein sollte, sich spätestens bis zum Tag der Zustellung des Widerrufsbeschlusses am 04.12.2015 (einem Dienstag) oder jedenfalls rechtzeitig vor Ablauf der Rechtsmittelfrist eine Zugangsmöglichkeit zum Briefkasten zu verschaffen. Dann wäre eine rechtzeitige Rechtsmitteleinlegung problemlos möglich gewesen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Verurteilte mit Zustellungen seitens des Gerichts rechnen musste oder nicht.“

Drei Monate für das „Klauen“ eines Schokoriegels im Wert von 0,95 € ist zu viel

entnommen wikimedia.org „© Superbass / CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)“

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„© Superbass / CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)“

Der OLG Hamm, Beschl. v. 14.04.2016 – 1 RVs 14/16 – befasst sich mal wieder mit dem Übermaßverbot bei der Strafzumessung. Das LG hatte den Angeklagten  wegen Besitzes von Betäubungsmitteln (10,6 g Amphetamin) und wegen Diebstahls geringwertiger Sachen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden. Hinsichtlich der Diebstahlstat war festgestellt, dass der Angeklagte einen Riegel Schokolade im Wert von 0,95 € entwendet hatte. Dafür ist vom LG eine Einzelfreiheitstrafe von drei Monaten verhängt worden. Dabei ist das LG davon ausgegangen, dass eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten i.S. des § 21 StGB wegen einer langjährigen Drogenkarriere nicht ausgeschlossen werden könne und hat insofern zu Gunsten des Angeklagten den sich nach den §§ 21, 49 StGB ergebenden geringeren Strafrahmen zugrundegelegt. Zu Gunsten des Angeklagten hat sie außerdem berücksichtigt, dass er sich geständig eingelassen und das Rechtsmittel beschränkt hatte. Sie hat außerdem zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Tatbeute von sehr geringem Wert gewesen sei und an die geschädigte Firma habe zurückgeführt werden können. Strafschärfend ist das Vorleben des Angeklagten berücksichtigt worden.

Dem OLG ist diese Einzelstrafe zu hoch und es hat das LG-Urteil insoweit aufgehoben. Es bejaht zunächst – ebenso wie das LG – die Voraussetzungen des § 47 StGB und stellt fest, dass die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen auch im Bereich der Bagatellkriminalität nicht ausgeschlossen ist. Aber:

„b) Die Höhe der für die Tat vom 09.04.2015 durch die Strafkammer verhängten Einzelfreiheitsstrafe von drei Monaten kann jedoch auch unter Berücksichtigung des Vorlebens des Angeklagten nicht mehr als gerechter Schuldausgleich angesehen werden und verstößt daher gegen das Übermaßverbot.

Die Diebstahlstat weist ein nur geringes Tatunrecht auf. Sie bezieht sich nicht nur auf eine Sache von geringfügigem Wert, sondern auf einen Gegenstand, dessen Wert weit unter der Geringfügigkeitsschwelle liegt. Eine über die bloße Entwendung hinausgehende kriminelle Energie bei der Planung oder Ausführung der Tat ergibt sich aus den Feststellungen des Amtsgerichts Dortmund nicht, wonach sich die Tathandlung auf ein Einstecken des Schokoladenriegels beschränkte. Auch ist ein wirtschaftlicher Schaden durch die Tat letztlich nicht entstanden, da der Schokoladenriegel nach der Tat an die Eigentümerin zurückgelangt ist. Die Strafkammer hat zudem eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten gemäß § 21 StGB bei der Begehung der Tat aufgrund dessen langjähriger Betäubungsmittelabhängigkeit nicht ausschließen können, wodurch die Tat zusätzlich in einem deutlich milderen Licht erscheint. Angesichts dieses nur sehr geringen Maßes des von dem Angeklagten verschuldeten Unrechts sowie unter Berücksichtigung des gerade im Bereich der Bagatellkriminalität zu beachtenden Umstandes, dass das in § 38 Abs. 2 StGB festgesetzte Mindestmaß von einem Monat im Vergleich zu einer nach dem Gesetz grundsätzlich primär vorgesehenen Festsetzung einer Geldstrafe das insoweit gemäß § 40 Abs. 1 S. 2 StGB festgelegte gesetzliche Mindeststrafmaß von fünf Tagessätzen Geldstrafe bereits deutlich übersteigt und auch die gewährte Sanktionsart für sich genommen bereits eine erheblich belastendere Beschwer darstellt (vgl. Senatsbeschluss, a.a.O.), kann den Vorstrafen des Angeklagten, die zudem zum überwiegenden Teil ebenfalls auf dessen Betäubungsmittelabhängigkeit zurückzuführen sind, und dessen Vorleben jedenfalls keine solch schulderhöhende Bedeutung beigemessen werden, dass trotz des nur sehr geringen Unrechtsgehalts der Diebstahlstat des Angeklagten die Verhängung einer dreimonatigen Freiheitsstrafe noch als gerechter Schuldausgleich angesehen werden kann.“