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Garagentorfall, oder: Haftungsgrundlage und Mitverschulden?

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Im „Kessel Buntes“ heute dann zwei zivilrechtliche Entscheidungen. Und gestartet wird mit dem AG Velbert. Urt. v. 29.11.2019 – 17 C 475/18. Nichts Besonders, aber mal etwas anderes aus dem Bereich des Schadensersatzes.

Bei mir war die Entscheidung unter: Garagentorfall, abgespeichert. Und darum geht es. Um den Ersatz eines Schadens, der beim Betrieb eines Garagentores entstanden ist. Der Kläger hatte sein Fahrzeug auf einer Fläche abgestellt, die links und rechts jeweils von Garagen umgeben war, um in einem gegenüberliegenden Haus bei einem Zeugen Wäsche abzuliefern. Die Beklagte näherte sich in ihrem Fahrzeug dem Garagenhof und öffnete mittels der Fernbedienung ihr Garagentor, ohne dass sie den davor befindlichen Bereich jedenfalls komplett einsehen konnte. Hierbei wurde das Fahrzeug des Klägers beschädigt.

Das AG hat die Beklagte zum Schadensersatz verurteilt, dem Kläger aber ein Mitverschulden von 40 % angerechnet:

„Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 449,89 Euro aus § 823 BGB.

Der Schadensersatzanspruch des Klägers ergibt sich vorliegend aus § 823 BGB und nicht aus § 7 StVG. Die Beschädigung des Fahrzeuges des Klägers ist nicht durch den Betrieb des Kraftfahrzeuges der Beklagten eingetreten. Die Benutzung einer Fernbedienung zum Öffnen eines Garagentores ist nicht „bei Betrieb eines Kraftfahrzeuges“. Vielmehr ist es schon so, dass der vorliegende Sachverhalt nicht unter den weiteren Begriff des „Gebrauchs eines Fahrzeuges“ des § 1 PflVG fällt. Bei dem Öffnen des Garagentores fehlt es an einem inneren Zusammenhang mit dem Fahrzeuggebrauch. Dieser ergibt sich auch nicht daraus, dass die Fernbedienung aus einem fahrenden Fahrzeug bedient wurde. Denn es hat sich keine typische vom Fahrzeug ausgehende Gefahr realisiert, sondern die eines per Funk zu öffnenden Garagentores.

Indem die Beklagte das Garagentor geöffnet hat, ohne dass sie den Bereich davor gänzlich einsehen konnte, stellt eine Verletzungshandlung dar, die auch haftungsbegründend und -ausfüllend kausal für die eingetretene Rechtsgutsverletzung und Schaden war.

Dass die Beklagte das Garagentor geöffnet hat, ohne dass sie den davor befindlichen Bereich einsehen konnte, steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der eigenen Aussage der Beklagten in ihrer informatorischen Anhörung sowie der Aussage des Zeugen pp.. Der Zeuge pp. hat ausgesagt, dass sich das Garagentor der Beklagten schon geöffnet habe, als sie erst um die Ecke gefahren sei. Die Aussage des Zeugen ist glaubhaft, da er den Vorgang nachvollziehbar und detailreich schildern konnte und auch erklären konnte, inwieweit der den Vorgang beobachten konnte. Auch die Beklagte selbst hat ausgesagt, dass sie schon das Hinterteil des Fahrzeugs des Klägers gesehen habe, als sie den Sensor betätigt habe……

Den Kläger trifft ein Mitverschulden i.S.d. § 254 Abs. 1 BGB. Den Geschädigten trifft dann ein Mitverschulden, wenn er diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die jedem ordentlichen und verständigen Menschen obliegt, um sich vor Schaden zu bewahren. Dies hat der Kläger hier getan, indem er im Öffnungsbereich von Garagentoren geparkt hat. In diesem Bereich ist ein Parken von Fahrzeugen, die nicht in eine dieser Garagen einfahren wollen, von der Gefahr geprägt, jedenfalls andere Nutzer der Garagen zu beschränken, unabhängig von einem Hinweisschild etc. Auch kann heutzutage nicht mehr ausgeschlossen werden, dass Garagentore elektrifiziert sind und per Funkbedienung aus der Ferne zu bedienen ist.

Dem Kläger ist ein Mitverschuldensanteil von 40 % anzulasten. ….“

Nun ja. Das mit der Haftungsgrundlage kamm man m.E. ebenso anders sehen wie die Frage des Mitverschuldens.

Die über den Radweg gespannte Slackline, oder: Voller Ersatz für den stürzenden Radfahrer

Auch schon etwas älter ist das OLG Karlsruhe, Urt. v. 16.07.2019 – 14 U 60/16. Entschieden hat das OLG über die Haftung nach einem (Verkehrs)Unfall mit folgendem Sachverhalt:

Die Klägerin war mit ihrem Fahrrad auf einem ca. 3,4 m breiten Rad- und Fußweg neben ihrem Ehemann im Sportgelände eines Freiburger Stadtteils unterwegs. Dort hatten die drei volljährigen Beklagten eine ca. 15 m lange und ca. 3 – 5 cm breite farbige Slackline über den Weggespannt. Diese befand sich zwischen den jeweils deutlich neben dem Weg befindlichen Pfosten eines Basketballkorbs und eines Pavillons in einer Höhe von ca. 15 bis 25 cm über dem Boden. Die Slackline war nicht zusätzlich optisch gesichert. Die Klägerin hat die Slackline übersehen und fuhr dagegen. Infolge des abrupten Halts stürzte sie über ihren Fahrradlenker und fiel mit Kopf und Schultern auf den Asphaltboden. Die Klägerin erlitte schwere Verletzungen. Sie war etwas mehr als fünf Monate arbeitsunfähig.

Das LG hatte die Beklagten dem Grunde zu 100% verurteilt, jedoch nur 10.000,00 € Schmerzensgeld und nur einen Teil des eingeklagten materiellen Schadens zugesprochen. Dagegen hatten beiden Parteien Berufung eingelegt. Das OLG ist ebenfalls von einer 100-igen Haftung ausgegangen, das Schmerzensgeld hat es auf 25.000 € erhöht:

„Wie vom Landgericht bereits ausgeführt, haften die Beklagten gemäß § 823 Abs. 1 BGB sowie gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 32 StVO, § 315 b StGB zu 100% für die Folgen des Unfalls vom 24.10.2009.

1. Die Beklagten installierten eine Slackline quer über den Geh- und Radweg. Sie schufen dadurch ein verbotenes Verkehrshindernis im Sinne des § 32 StVO und bereiteten gleichzeitig gemäß § 315 b StGB ein Hindernis, durch das sie die Sicherheit im Straßenverkehr beeinträchtigten und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen gefährdeten.

a) Bei dem Geh- und Radweg, auf dem sich der Unfall ereignete, handelte es sich um eine Straße im Sinne des § 32 StVO und des § 315 b StGB.

Die Verhaltensvorschriften der StVO beziehen sich grundsätzlich nur auf Vorgänge im öffentlichen Verkehrsraum. „Öffentlich“ im Sinne des Straßenverkehrsrechts ist eine Verkehrsfläche immer dann, wenn auf ihr der Verkehr eines Personenkreises, der durch keinerlei persönliche Beziehungen miteinander verbunden ist, zugelassen wird (Heß in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Auflage 2018, StVO, § 1 Rn. 6). Die Öffentlichkeit wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass die Benutzung nach sachlichen Merkmalen beschränkt ist (für Fuß- oder Radweg: OLG Zweibrücken, Urteil vom 22.09.1989 – 1 U 211/88, NZV 1990, 476; Heß, a.a.O. Rn. 7). Hier handelte es sich um ein öffentliches Sportgelände, das Befahren des Weges mit dem Fahrrad und die Benutzung als Fußgänger waren jedermann gestattet.

Der Begriff der Straße in § 315 b StGB erfasst auch Fahrrad- und Gehwege. Entscheidend ist auch hier lediglich die Widmung für den öffentlichen Verkehr, also die ausdrückliche Zulassung oder wenigstens das stillschweigende Dulden der Nutzung durch jedermann seitens des Verfügungsberechtigten (Pegel, in: Münchner Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2019, § 315c Rn. 6). Bei dem Geh- und Radweg handelte es sich somit auch um eine Straße im Sinne des § 315 b StGB.

b) Die über die Straße gespannte Slackline stellte ein Hindernis im Sinne der § 32 StVO, § 315 b StGB dar. Nach herrschender Meinung erfasst der räumliche Schutzbereich des § 32 StVO auch den Luftraum über dem Straßenkörper, da auch in den Luftraum hineinragende Gegenstände – insbesondere durch die Gefahr von Kollisionen mit Verkehrsteilnehmern – die Verkehrssicherheit als Schutzgut des § 32 StVO gefährden können (Sauthoff, in: Münchner Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2016, StVO, § 32 Rn. 13; Hühnermann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Auflage 2018, StVO, § 32 Rn. 5; Rogler, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage 2016, StVO, § 32 Rn. 28; OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 26.05.2017 – 13 U 21/14, BeckRS 2017, 138275).

c) Dieses Hindernis gefährdete die Sicherheit des Verkehrs. Insbesondere war zu befürchten, dass sich nähernde Radfahrer die Slackline zu spät als solche wahrnehmen, in diese hineinfahren und stürzen könnten. Diese abstrakte Gefährdung des Verkehrs führte auch zu einer konkreten Gefährdungssituation im Sinne des § 315 b StGB, wobei sich die konkrete Gefährdung der Klägerin durch den Unfall realisierte.

d) Die Beklagten verursachen die Verkehrsgefährdung und die konkrete Gefährdung der Klägerin auch zumindest grob fahrlässig.

Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist, schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt wurden und dasjenige nicht beachtet wurde, was im gegebenen Fall jedermann hätte einleuchten müssen (Rolfs/Binz, in: Münchner Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2017, BGB § 276 Rn. 12; BGH, Urteil vom 16.02.1979 – I ZR 97/77, NJW 1979, 2474).

Hier war den Beklagten bekannt, dass der Weg von Radfahrern befahren wurde. Die Beklagten haben eingeräumt, dass vor dem Sturz der Klägerin bereits drei Personen, darunter zwei Radfahrer, gezwungen waren, das Hindernis zu umfahren. Es lag auf der Hand, dass Radfahrer mit einem solchen Hindernis nicht rechnen und ihre Aufmerksamkeit nicht auf den Bereich 15 bis 25 cm über dem Boden vor ihnen richten würden. Es war daher schon deshalb naheliegend, dass die Gefahr bestand, dass ein Radfahrer die Slackline übersehen und infolgedessen stürzen würde. Spätestens aber als die Beklagten sich zudem noch von der Stelle entfernten, ohne die Slackline vorher zu beseitigen oder zu kennzeichnen, und so auch nicht mehr durch ihre Übungen auf der Slackline auf die Gefahrensituation aufmerksam machten, ließen sie die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße außer Acht.

e) Sowohl § 32 StVO (Gunnar Geiger, in: Münchner Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2017, BGB, § 823 Rn. 174; OLG Frankfurt, Urteil vom 10.09.1991 – 14 U 244/89, NJW 1992, 318) als auch § 315 b StGB (Gunnar Geiger, a.a.O.; BGH, Urteil vom 23.11.1955 – VI ZR 193/54, NJW 1956, 217) sind Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB. Diese Schutzgesetze wurden von den Beklagten schuldhaft verletzt. Daneben haften die Beklagten aufgrund ihrer grob fahrlässigen Sorgfaltspflichtverletzung gemäß § 823 Abs. 1 BGB für die Schäden der Klägerin.

2. Der Umfang der Haftung der Beklagten ist auch nicht wegen eines Mitverschuldens der Klägerin beschränkt.

a) Ein Mitverschulden der Klägerin ist nicht erwiesen. Die Beweislast für das Vorliegen eines Mitverschuldens des Geschädigten trägt der Schädiger. Das gilt sowohl für den Grund des Mitverschuldens als auch für dessen Gewicht. Kann die Mitverursachung durch den Geschädigten nicht bewiesen werden, geht dies zu Lasten des Schädigers (Oetker, in: Münchner Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 254 Rn. 145; Lorenz, in: Beck’scher Online Kommentar zum BGB, 50. Edition, Stand 01.05.2019, § 254 Rn. 69; ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH, Urteil vom 20.02.2013 – VIII ZR 339/11, NJW 2013, 2018)…..“

Verkehrsrecht I: Tödlicher Verkehrsunfall, oder: Welche Auswirkungen hat das Mitverschulden des Geschädigten?

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Die 51. KW. eröffne ich dann mit zwei verkehrsrechtlichen Entscheidungen.

Als erstes stelle ich den OLG Hamm, Beschl. v.  18.07.2019 – 4 RVs 65/19 – vor. Er nimmt Stellung zur Frage, welche Auswirkungen beim Vorwurf einer fahrlässigen Tötung ein Mitverschulden des Geschädigten auf die Voraussehbarkeit eines (Verkehrs)Unfalls hat.

Auszugehen ist von etwa folgendem Sachverhalt:

In der Tatnacht führte der Angeklagte einen PKW. Er übersah den auf der Fahrbahn liegenden Geschädigten und überrollte diesen mit dem Fahrzeug. Der Geschädigte verstarb noch an der Unfallstelle an den Folgen seiner durch das Überrollen erlittenen Verletzungen. Der Geschädigte war zum Unfallzeitpunkt volltrunken (Blutalkoholkonzentration zum Todeszeitpunkt von 3,36 Promille). Vermutlich war er beim Überqueren der Straße aufgrund seiner Alkoholisierung gestürzt und auf der Fahrbahn liegen geblieben. Er war zum Unfallzeitpunkt vergleichsweise dunkel gekleidet. Zum Unfallzeitpunkt herrschte Dunkelheit, es regnete nicht, die Straße war trocken. Der auf der Straße liegende Geschädigte war für den Angeklagten aus einer Entfernung von 27 Metern ausreichend erkennbar. Hätte der Angeklagte in diesem Moment die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet und insbesondere den vor seinem PKW befindlichen Straßenbereich aufmerksam beobachtet, so hätte er bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h den Geschädigten so rechtzeitig erkennen können, dass er sein Fahrzeug unter Zubilligung einer Vorbremszeit von 1 Sekunde und einer Vollbremsverzögerung von 7,5 m/s2 noch rechtzeitig vor dem Geschädigten abbremsen können.

Das AG hat den Angeklagten der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden und Sanktionen nach dem JGG ausgesprochen. Seine Revision war erfolglos.

Die Vorhersehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges wird im vorliegenden Fall auch nicht durch ein Mitverschulden des Geschädigten ausgeschlossen. In der Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass ein Mitverschulden des Geschädigten die Voraussehbarkeit eines Unfalls für den Täter ausschließen kann, sofern es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegendem Verhalten des Geschädigten liegt (vgl. BGHSt 4, 182, 187; 12, 75, 78; OLG Hamm, NStZ-RR 2016, 27). Ein solcher Fall liegt – entgegen der von der Verteidigung vertretenen Rechtsansicht – nicht vor. Dass sich eine volltrunkene Person – hier: zum Todeszeitpunkt 3,36 ‰ – nach einer Feier zu Fuß auf den Weg macht, sodann beim Überqueren einer Straße stürzt und auf der Fahrbahn liegen bleibt, ist nicht außerhalb allgemeiner Lebenserfahrung. Zwar liegt es nahe, just dieses Verhalten des später tödlich Verletzten als gänzlich vernunftwidrig zu bezeichnen. Jedoch ist auch bei dieser Bewertung – genauso wie für die Annahme einer zurechenbaren Sorgfaltspflichtenverletzung – auf den Zeitpunkt bei Eintritt der kritischen Verkehrssituation (vgl. hierzu BGHSt 33, 61, 66; BGH, VRS 54, 436, 437; OLG Hamm, a.a.O.) abzustellen, d.h. es muss ein enger zeitlich-räumlicher Kontext mit dem Unfall bestehen. Danach kann für die Annahme eines gänzlich vernunftwidrigen Verhaltens weder auf den zurückliegenden übermäßigen Alkoholkonsum noch etwa darauf abgestellt werden, dass sich der Geschädigte gegen den Rat seiner Freunde entschlossen hat, zu Fuß nach Hause bzw. sogar noch zu einer anderen Party zu gehen. Der ungewollte Sturz des Geschädigten vermag den Zurechnungszusammenhang ohnehin nicht zu unterbrechen. Soweit der Geschädigte nach dem Sturz auf der Fahrbahn liegen geblieben ist, war er bei Eintritt der kritischen Verkehrssituation, als sich der Angeklagte mit seinem Fahrzeug dem Unfallort näherte, zu einem vernunftgesteuerten Verhalten offensichtlich nicht mehr in der Lage. Zu diesem Zeitpunkt lag er bereits als hilflose Person iSd § 323c Abs. 1 StGB auf der Fahrbahn. Eine Einschränkung des Sichtfahrgebotes im Hinblick darauf, aus welchem Grund eine Person in eine solche hilflose Lage geraten ist, kann nicht angenommen werden.“

Ausparker versus Bussonderstreifen, oder: Bussonderstreifen gewinnt

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Und als zweite „Zivilentscheidung“ weise ich auf das KG, Urt. v. 14.12.2017 – 22 U 31/16 – hin. Es behandelt einen „Ausparkerunfall“ mit folgendem Unfallgeschehen. Der Beklagte zu 1) versuchte mit dem zuvor geparkten Fahrzeug von der rechten, zum Parken benutzten Spur einer Straße auf die mittlere Spur anzufahren. Dabei stieß er mit dem auf der als Bussonderfahrstreifen (Zeichen 245 der Anl. 2 zu § 41 Abs. 1 StVO mit Zusatzzeichen nach lfd. Nr. 25 Nr. 2 der Anl. 2 zu § 41 Abs. 1 StVO) ausgewiesenen mittleren Fahrspur fahrenden KfZ des Klägers zusammen. Das LG ist bei der vorzunehmenden Haftungsabwägung von einer Verursachungs- und Verschuldensqoute von 2/3 zu Lasten der Beklagten und 1/3 zu Lasten des Klägers ausgegangen. Während dem Beklagten zu 1) ein Verstoß gegen die Pflichten aus § 10 Satz 1 StVO vorzuwerfen sei, habe der Kläger unberechtigt den Bussonderfahrstreifen benutzt.

Das KG sieht das anders. Es geht davon aus, dass der Beklagte die Folgen des Unfalls allein zu tragen habe.

„a) Es kann dahinstehen, ob der Entscheidung des 29. Zivilsenats vom 8. Juni 2015 (Az.: 29 U 1/15 – juris) zu folgen ist. Dort hat die Einzelrichterin ausgeführt, dass das Befahren der Busspur ein Mitverschulden begründe, weil die Übersichtlichkeit der Verkehrslage beeinträchtigt werde, so dass der Linksabbieger, der in eine Grundstückseinfahrt abbiegen will, nicht den gesamten Schaden allein tragen müsse. Denn im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob derjenige, der sich unter Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO in den fließenden Verkehr einreihen will, sich darauf berufen kann, dass der andere Unfallbeteiligte die Fahrspur unberechtigt befahren hat.

Dies ist nach Auffassung des Senats in einem Fall, wie dem Vorliegenden zu verneinen. Etwas andere könnte nur dann gelten, wenn das Verbot für den allgemeinen Verkehr den durch Zeichen 245 ausgewiesenen Bussonderfahrstreifen zu befahren, der Unfallverhütung diente. Das ist nicht der Fall. So sollen mit der Einführung von Bussonderfahrstreifen Störungen des Linienverkehrs vermieden und soll der geordnete und zügige Betriebsablauf mit Taktfahrplänen gewährleistet werden (BR-Drucks. 428/12, S. 155). Ein Zweck, unfallverhütend eine besondere Übersichtlichkeit der Verkehrslage herbeizuführen, wie dies in der Entscheidung des 29. Zivilsenats ausgeführt wird, lässt sich daraus nicht ableiten. Der Beklagte zu 1) durfte nicht damit rechnen, dass auf dem Bussonderfahrstreifen kein Fahrzeug anzutreffen sein wird. Die – besonderen – Anforderungen des § 10 Satz 1 StVO haben ihn unabhängig davon getroffen, ob die Spur, auf die er einfahren wollte, zunächst nur für besonderen Verkehr zugelassen ist oder nicht. Aber auch der Kläger musste nicht damit rechnen, dass ein Fahrzeug aus der Parkreihe ohne ausreichende Versicherung über herannahenden Verkehr in die mittlere Spur einfährt. Denn insoweit war die Spur nicht für den Verkehr allgemein gesperrt, sondern lediglich für Sonderverkehr freigegeben, der aber auch unstreitig stattfand. Soweit in der Entscheidung des 29. Zivilsenats auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16. Januar 2007 (Az.: VI ZR 248/05 – juris) hingewiesen wird, ändert dies nichts. Der Bundesgerichthof lässt zwar offen, ob bei dem dortigen Auffahrunfall die vom Auffahrenden verletzte Vorschrift des § 4 Abs. 1 StVO vom Schutzzweck auch (unmittelbar) den unfallverursachenden, aber vom Unfall nicht betroffenen Linksabbieger erfasst, der den Vorausfahrenden zu einer Vollbremsung zwingt. Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 StVO hat aber – anders als das Zeichen 245 – ersichtlich unfallverhütenden Charakter.

Dem Kläger kann auch nicht vorgehalten werden, dass er sich überhaupt am Unfallort befunden hat, wie der 29. Zivilsenat und ihm folgend das Landgericht meinen. Denn insoweit ist anerkannt, dass der notwendige Zurechnungszusammenhang nur gegeben ist, wenn neben der naturwissenschaftlichen Kausalität und der Eintritt des Schadens nach allgemeiner Lebenserfahrung absehbar ist, dass auch der Schutzzweck der verletzten Norm, diesen Schadensfall vermeiden will. Dies ist in Bezug auf das Verbot des Privatverkehrs zur Nutzung des Bussonderfahrstreifens gerade nicht der Fall.

Insoweit kommt auch ein Mitverschulden des Klägers nach den §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB an der Schadensentstehung nicht in Betracht. Den genannten Vorschriften geht die Regelung des     § 17 StVG über die Haftungsabwägung vor (vgl. Scholten in JurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 17. August 2016, § 9 Rdn. 6; wohl auch Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 9 StVG Rdn. 1). Im Übrigen gilt im Rahmen der Vorschriften der Schutzzweckgedanke ebenso (vgl. BGH, Urteil vom 08. Oktober 1985 – VI ZR 114/84 –, BGHZ 96, 98-103, Rdn. 14). Die als Ausprägung des Gebots von Treu und Glauben anzusehende Berücksichtigung des Verhaltens des Geschädigten ist dabei nur dann gerechtfertigt, wenn die Schadensvermeidung durch den Geschädigten in besonderer Weise erschwert worden ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 1971 – VI ZR 122/70 –, juris Rdn. 21). Insoweit ist allerdings richtig, dass ein verständiger und ordentlicher Verkehrsteilnehmer den Bussonderstreifen wegen des Verbots nicht befahren würde. Dies beruht aber darauf, dass die unberechtigte Nutzung bußgeldbewehrt ist. Sie beruht nicht darauf, dass die Nutzung mit einem erhöhten Unfallrisiko verbunden ist.

Der Senat verkennt nicht, dass die unzulässige Nutzung der Busspur und die damit zusammenhängenden Besonderheiten unfall- (mit-) verursachend wirken können. Dies ist etwa im gleichgerichteten Verkehr der Fall, wenn ein Rechtsabbieger den auf der Busspur Fahrenden übersieht. Denn diesem steht das Durchfahrtsrecht nach § 9 Abs. 3 Satz 2 StVO nicht zu (vgl. 12. Zivilsenat, Beschluss vom 03. Dezember 2009 – 12 U 32/09 –, juris Rdn. 20). Ähnliches gilt, wenn ein Linksabbieger an einer Kreuzung oder Einmündung, in diese einfahren will und wegen des Staus auf der Vorfahrtsstraße sich eine Lücke bildet. Hier hat der die Busspur Befahrende damit zu rechnen, dass jemand unzureichend aufmerksam in die Busspur einfährt (vgl. 12. Zivilsenat, Beschluss vom 03. Dezember 2007 – 12 U 191/07 –, juris; 22. Zivilsenat, Hinweisbeschluss vom 10. Oktober 2017 – 22 U 55/16 -, S. 3 der UA – nicht veröffentlicht). Auch das Ausweichen auf den Bussonderstreifen, um den gestauten Verkehr durch Rechtsüberholen zu entgehen, und späterem Fahrstreifenwechsel in den gestauten Verkehr ist mit besonderen Gefahren verbunden, die aber auf dem Fahrstreifenwechsel beruhen. Gerade diese Besonderheiten rechtfertigen eine Mit- oder sogar Alleinhaftung. Anderes gilt in den Fällen, in denen ein Linksabbieger die mit einer Lichtzeichenanlage versehene Vorfahrtsstraße überqueren will, ohne auf den für ihn geltenden Räumpfeil zu warten. In diesem Fall ist wie in dem hier zu entscheidenden Fall allein die Nutzung der Busspur als Grund für eine Mithaftung unzureichend (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 03. Dezember 2007 – 12 U 191/07 –, juris Rdn. 16 mwN).“

Geisterradfahrer, oder: 1/3 Mitverschulden bei Fahrt auf falscher Seite

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Der dem OLG Hamm, Urt. v. 04.08.2017 – 9 U 173/16 – zugrunde liegende Sachverhalt könnte aus Münster stammen. Kommt er aber dann doch nicht, sondern das Unfallgeschehen hat sich in Marl abgespielt. Dort war die klagende Radfahrerin, die beim Befahren eines Radweges entgegen der Fahrtrichtung mit einem wartepflichtigen Pkw kollidiert. Die Radfahrerin war mit ihrem Fahrrad auf einem linksseitigen Geh- und Radweg gefahren. Diesem folgte sie auch (noch), als er nur noch für Radfahrer aus der entgegengesetzten Fahrtrichtung freigegeben war. Die Klägerin beabsichtigte, die Einmündung einer untergeordneten Straße zu queren, um dann nach links in diese Straße einzubiegen. Der Beklagte befuhr mit seinem Pkw diese und beabsichtigte, an der Straßeneinmündung nach rechts in die Straße abzubiegen, auf der die Klägerin mit ihrem Fahrrad fuhr. Beim Abbiegen kollidierte sein Fahrzeug mit dem Fahrrad der Klägerin. Die Klägerin stürzte auf die Motorhaube, rutsche mit ihrem Rad über die Straße und schlug mit dem unbehelmten Kopf auf der Fahrbahn auf. Mit einem ein Schädel-Hirn-Trauma, einem Schädel-Basis-Bruch und einer Kniefraktur erlitt sie schwerste Verletzungen. Den entstandenen Schaden hat sie gegenüber dem Kläger geltend gemacht.

Das OLG kommt zu folgenden Haftungsabwägung:

Die Klägerin hat gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen, was sie sich als anspruchsminderndes Mit- bzw. Eigenverschulden nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB entgegenhalten lassen muss.

Die Klägerin hat den an der Unfallstelle vorhandenen gemeinsamen Geh- und Radweg entgegen der Fahrtrichtung benutzt, ohne dass dieser für ihre Richtung freigegeben war. Die Klägerin entlastet dabei nicht, dass sie nur wenige Meter, nachdem der Radweg für sie endete, auf diesem weitergefahren ist, weil sie in die von links einmündende Straße C abbiegen wollte. Die Klägerin befand sich ab diesem Zeitpunkt verbotswidrig auf dem Radweg. Sie hätte fortan den linken Geh- und Radweg richtigerweise nur noch ihr Rad schiebend als Fußgängerin benutzen dürfen. Gegenüber dem von links in die Hauptstraße einbiegenden Verkehr war sie als Fußgängerin wartepflichtig und unterlag den Sorgfaltspflichten des § 25 StVO. Denn der Links- und Rechtsabbiegende muss nach § 9 Abs. 3 S. 3 StVO nur auf Fußgänger besonders achten, die geradeaus gehen oder ihm entgegenkommen (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 9 Rn. 43).

5. Es kann dahin gestellt bleiben, ob hinsichtlich der Entstehung oder jedenfalls hinsichtlich des Ausmaßes der erlittenen Kopfverletzungen durch das Nichttragen eines Fahrradhelms  eine objektive Mitverursachung in der Person der Klägerin begründet worden ist. Selbst wenn dies der Fall wäre, führte dies in Anwendung der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls bezogen auf den Unfallzeitpunkt im Jahre 2013 nicht zu einer Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB (vgl. BGH v. 17.06.2014 – VI ZR 281/13 – juris). Zunächst einmal bestand damals wie heute keine gesetzliche Helmpflicht für Fahrradfahrer. Nach den Ausführungen des im Jahre 2014 veröffentlichten vorgenannten Urteils lasse sich für das Jahr 2011 auch nicht die Feststellung treffen, die Erforderlichkeit des Tragens von Fahrradhelmen habe im Jahr 2011 dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entsprochen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich das Verkehrsbewusstsein im Jahre 2013 – mithin noch vor Bekanntwerden der vorstehenden Entscheidung im Jahr 2014 – wesentlich gewandelt hätte, liegen dem erkennenden Senat nicht vor.

6. Unter Berücksichtigung aller maßgebenden Umstände des Einzelfalles bewertet der Senat den Mitverschuldens- bzw. Eigenverschuldensanteil der Klägerin mit 1/3. Für ein vollständiges Zurücktreten ihres Verursachungsanteils, wie es die Klägerin anstrebt, sieht der Senat keinen Anlass. Das ihr zustehende Vorfahrtsrecht schuf für die Klägerin keine hinreichende Vertrauensgrundlage, dass der Beklagte zu 1 sie registrierte und ihr das Vorfahrtsrecht einräumen würde. Denn die Klägerin wusste darum, dass sie den Radweg entgegen der zugelassenen Fahrtrichtung benutzte und sich nicht verkehrsgerecht verhielt, was das Risiko einer Kollision mit dem einbiegenden und ihren Fahrweg kreuzenden Verkehr erhöhte. Nicht zuletzt deshalb verzögerte sie in Annäherung an die Einmündung ihre Geschwindigkeit. Allein der Umstand, dass der Beklagte zu 1 – insoweit noch vorbildlich – sein Fahrzeug vor dem querenden gemeinsamen  Geh- und Radweg anhielt, besagte nicht, dass er die Klägerin auch wahrgenommen hatte und er der Klägerin zudem den Vorrang einräumen würde. Die Haltelinie verpflichtete den Beklagten zu 1 zunächst an dieser Stelle anzuhalten. Das Halten diente ersichtlich auch dazu, nicht den Radweg zu blockieren. Ein Vertrauen darauf, dass der Beklagte zu 1 sie würde zunächst passieren lassen, hätte die Klägerin nur in Anspruch nehmen dürfen, wenn sie sich zuvor mit dem Beklagten zu 1 verständigt hatte, und zwar ausdrücklich und unmissverständlich durch Blickkontakt und gegebenenfalls Geben von Handzeichen. Beides ist unstreitig unterblieben.

Demgegenüber ist neben der von dem Fahrzeug des Beklagten zu 1 ausgehenden Betriebsgefahr dessen unfallursächlicher Vorfahrtsverstoß einzustellen. Wenn auch die Sichtmöglichkeiten des Beklagten zu 1 durch die Bauart des Fahrzeugs bedingt eingeschränkt waren, so vermag dies den Beklagten nicht von dem Vorwurf einer Vorfahrtsverletzung frei zu stellen. Dies allein schon deshalb, weil das bestehende Manko ohne Weiteres leicht zu kompensieren gewesen wäre.

Bei dieser Sachlage hält der Senat eine Mithaftungsquote der Klägerin von 1/3 für angemessen. Hiervon ausgehend hat der Senat das angefochtene Urteil auf die Berufung der Beklagten hin teilweise abgeändert.“

Sollte sich jeder (Geister)Radfahrer – und von denen gibt es hier in Münster viele – merken.