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Pflichti I: EuGH zum „Pflichti“ für Minderjährige, oder: Rechtsbeistand schon für erste polizeilicher Befragung

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Heute dann mal wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen. Das mir vorliegende Material reicht für einen „Pflichti-Tag“.

Zunächst stelle ich das EuGH, Urt. v. 05.09.2024 — C-603/22 – vor, das ich bisher übersehen hatte. In der Entscheidung hat der EuGH zur Frage des Rechtsbeistandes für einen Minderjährigen Stellung genommen.

Ausgangspunkt ist eine polnisches Strafverfahren gegen drei zum Tatzeitpunkt 17-Jährige, denen vorgeworfen worden ist, unbefugt in die Gebäude einer nicht mehr genutzten Ferienanlage eingedrungen zu sein. Von der Polizei sind sie ohne Rechtsbeistand befragt worden. Auch wurden weder sie noch ihre Eltern vor der ersten Befragung über ihre Rechte und über den Ablauf des Verfahrens informiert. Die Pflichtverteidiger haben deshalb beantragt, die Aussagen der Jugendlichen aus dieser Befragung aus den Akten zu entfernen und nicht als Beweise zuzulassen.

Das polnische Gericht hatte dann Zweifel daran, ob die Verfahrensgarantien für Minderjährige im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren ausreichend sind und hat das Verfahren dem EuGH vorgelegt. Der hat die Sache an das nationale Gericht zurückgegebeb. Das müsse prüfen, ob die polnischen Vorschriften den Anforderungen entsprechen. Sollte sich eine unionsrechtskonforme Auslegung als unmöglich erweisen, müssten sie jede entgegenstehende nationale Regelung oder Praxis aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen.

Hier dann die Leitsätze zu der Entscheidung (siehe auch die Rn. 177 aus dem o.a. Urteil).

1. Jugendliche, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, müssen von einem — ggf. von Amts wegen bestellten — Rechtsbeistand unterstützt werden, bevor sie von der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungs- oder Justizbehörde befragt werden, und zwar spätestens vor ihrer ersten Befragung. Jugendliche dürfen nicht in ihrer Eigenschaft als Verdächtige befragt werden, ohne dass ein solcher Rechtsbeistand während der Befragung anwesend ist. Dem ent­gegenstehende nationale Vorschriften sind wegen Art. 6 Abs. 1 bis 3 der RL (EU) 2016/800 unanwendbar.

2. Personen, die Jugendliche waren, als gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, genießen weiterhin die in der RL 2016/800 vorgesehenen Rechte, wenn sie während dieses Verfahrens das 18. Lebensjahr vollendet haben und festgestellt wurde, dass die Anwendung dieser RL im Hinblick auf alle Umstände des Einzelfalls, einschließlich ihres Reifegrads und ihrer Schutzbedürftigkeit, angemessen ist.

3. Jugendliche, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, müssen zusammen mit dem Träger der elterlichen Verantwortung spätestens vor der ersten Befragung der betroffenen Jugendlichen durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde in einfacher und verständlicher Sprache, die den besonderen Bedürfnissen und Schutzbedürftigkeiten dieser Jugendlichen Rechnung trägt, Informationen über ihre Rechte gern. Art. 3 der RL 2012/1.3/EU sowie über die in der RL (EU) 2016/800 festgelegten Rechte erhalten.

4. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, dem nationalen Gericht die Möglichkeit zu geben, ggf. Beweise für unzulässig zu erklären.

Die Grundsätze wird man sicherlich auch bei uns anwenden können/müssen.

Mofaunfall, oder: Ein 15-jähriger Mofafahrer haftet wie ein „alter“

entnommen wikimedia.org
By Schauff – Schauff, CC BY-SA 3.0

Eine in meinen Augen interessante Frage behandelt das OLG Saarbrücken, Urt. v. 03.08.2017 – 4 U 156/16. Es geht um die Sorgfaltsanforderungen, die an einen Minderjährigen zu stellen sind und dabei um die Frage: Sind sie gemindert: Geklagt hatte ein zum Unfallzeitpunkt 15 Jahre alter Mofafahrer. Der war mit seinem Mofa aus der Zuwegung eines Hauseingangs in Richtung Straße gefahren. Dort kam es auf Grund einer Unvorsichtigkeit des Klägers zum Zusammenstoß mit dem auf der Straße fahrenden Pkw des Beklagten. Das OLG Saarbrücken ist von der Alleinhaftung des Klägers auf Grund seines Verstoßes gegen § 10 Satz 1 StVO ausgegangen:

„b) Diesen gesteigerten Sorgfaltsanforderungen ist der Kläger, der im Unfallzeitpunkt das 15. Lebensjahr vollendet hatte und dessen Einsichtsfähigkeit gemäß § 828 Abs. 3 BGB zu vermuten ist, schuldhaft nicht gerecht geworden.

aa) Insoweit gelten im Straßenverkehr für einen minderjährigen Mofa-Fahrer nicht etwa geringere Sorgfaltsanforderungen. Wer auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug führt, bedarf zwar gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV keiner Fahrerlaubnis, wenn es sich – wie das hier offenkundig der Fall ist – um einspurige Fahrräder mit Hilfsmotor – auch ohne Tretkurbeln – handelt, deren Bauart Gewähr dafür bietet, dass die Höchstgeschwindigkeit auf ebener Bahn nicht mehr als 25 km/h beträgt (Mofas). Indessen muss schon bei der Bewerbung um die Mofa-Prüfbescheinigung eine theoretische und praktische Ausbildung durchlaufen werden. Dabei ist es laut Ziffer 1.5 Anlage 1 FeV in der hier noch anzuwendenden Fassung vom 26.06.2012 Ziel der theoretischen Ausbildung, verkehrsgerechtes und rücksichtsvolles Verhalten im Straßenverkehr zu erreichen (Satz 1). Die theoretische Ausbildung soll beim Kursteilnehmer zu sicherheitsbetonten Einstellungen und Verhaltensweisen führen, verantwortungsbewusstes Handeln im Straßenverkehr fördern und das Entstehen verkehrsgefährdender Verhaltensweisen verhindern. Schließlich muss, wer auf öffentlichen Straßen ein Mofa (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FeV) führt, in einer Prüfung nachgewiesen haben, dass er ausreichende Kenntnisse der für das Führen eines Kraftfahrzeugs maßgebenden gesetzlichen Vorschriften hat (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FeV) und mit den Gefahren des Straßenverkehrs und den zu ihrer Abwehr erforderlichen Verhaltensweisen vertraut ist (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV). Da der Kläger ausweislich der Verkehrsunfallanzeige Inhaber einer entsprechenden Prüfbescheinigung des TÜV in St. Ingbert vom 10.12.2013 war (Beiakte Bl. 2), ist davon auszugehen, dass er vor dem Verkehrsunfall vom 22.07.2014 die theoretische Ausbildung mit dem Ziel, verkehrsgerechtes und rücksichtsvolles Verhalten im Straßenverkehr zu erreichen und das Entstehen verkehrsgefährdender Verhaltensweisen zu verhindern, durchlaufen hat.“

Ich weiß: Die Dame auf dem Bild dürfte etwas älter als 15 sein 🙂 .

Familienrecht meets Strafrecht: BGH zur Entziehung Minderjähriger

© Dan Race - Fotolia.com

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„Entziehung Minderjähriger liegt auch dann vor, wenn ein sorgeberechtigter Elternteil zwangsweise für eine gewisse Dauer von seinem unter achtzehn-jährigen Kind entfernt wird.“ Den Leitsatz stellt der BGH seinem zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmten BGH, Beschl. v. 17.09.2014 – 1 StR 387/14 – voran, in dem er folgenden Sachverhalt zu entscheiden/beurteilen hatte:

„Der Angeklagte und seine Ehefrau haben zwei gemeinsame Kinder: die am 15. Dezember 2004 geborene M. und den am 14. April 2006 geborenen Y. Nach jahrelangen Ehestreitigkeiten ließ der Angeklagte, der eine neue Lebensgefährtin hat, im Januar 2012 beim Familiengericht in Istanbul eine Scheidungsschrift einreichen und beantragte die Übertragung der elterlichen Sorge für die beiden gemeinsamen Kinder auf seine Ehefrau.

Er fasste dann den Entschluss, sich seiner Ehefrau „gänzlich zu entledigen“ (UA S. 35), indem er sie auf Dauer in die Türkei zu deren Familie zurück-schickte, während er die beiden Kinder bei sich in Deutschland behalten wollte.

Anfang 2012 eröffnete er seiner Ehefrau, dass er sie in die Türkei ab-schieben werde, die beiden Kinder aber bei sich behalten wolle. Als seine Frau erklärte, sie werde das nicht tun, drohte der Angeklagte ihr mit dem Tode, wenn sie nicht in die Türkei ginge. Die Geschädigte nahm die Drohung ernst und ließ sich vom Angeklagten gegen ihren Willen dazu zwingen, ein Flugzeug in die Türkei zu besteigen und ihre Kinder in Deutschland zu lassen. Erst im Dezember 2012 kehrte sie mit Hilfe Dritter nach Deutschland zurück.“

Und zur rechtlichen Beurteilung als einen Fall des § 235 StGB:

2. Die Verurteilung wegen Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB) ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Der Angeklagte hat eine Person (hier sogar zwei) unter achtzehn Jahren durch Drohung mit einem empfindlichen Übel einem Elternteil entzogen (§ 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Den Eltern „entzogen“ ist der Minderjährige schon dann, wenn das Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung durch räumliche Trennung für eine gewisse, nicht nur ganz vorübergehende Dauer so beeinträchtigt wird, dass es nicht ausgeübt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 1996 – 4 StR 35/96, NStZ 1996, 333, 334 mwN).

Eine Entziehung im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur vor, wenn der Minderjährige unter den Voraussetzungen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB vom Elternteil entfernt wird, sondern auch, wenn der Elternteil unter diesen Voraussetzungen vom Minderjährigen entfernt und ferngehalten wird (vgl. hierzu auch Eser/Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 235 Rn. 6; MüKo-StGB/Wieck-Noodt, 2. Aufl., § 235 Rn. 38; SK-StGB/Wolters, 8. Aufl., § 235 Rn. 4; LK-StGB/Gribbohm, 11. Aufl., § 235 Rn. 49 ff.). Denn das von § 235 StGB vorrangig geschützte Rechtsgut des Sorgerechts der für den jungen Men-schen verantwortlichen Personen und das daraus abgeleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 – 4 StR 594/98, BGHSt 44, 355, 357) sind auch verletzt, wenn ein Elternteil selbst räumlich entfernt wird und seine Rechte deshalb nicht wahrnehmen kann.

Dass der Angeklagte selbst ebenfalls sorgeberechtigt war (das Ergebnis seiner Anträge vor dem Familiengericht in Istanbul ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen; ohnehin hätte die Ehefrau dann das alleinige Sorgerecht für beide Kinder), steht der Anwendung des § 235 StGB nicht entgegen. Grundsätzlich kann eine Kindesentziehung auch von einem Elternteil gegenüber dem anderen begangen werden, sofern jedem Elternteil das Personensorgerecht zumindest teilweise zusteht (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 – 4 StR 594/98, BGHSt 44, 355, 358). Die räumliche Trennung war im vorlie-genden Fall auch nicht von nur ganz vorübergehender Dauer.“

13-Jährige muss Sparschwein schlachten für 6.500 € Prozesskostenzahlung

Bei LTO habe ich vor einigen Tagen die Nachricht zum OLG München, Beschl. v. 26.03.2013 – 23 W 427/13 gelesen, in dem es um die (Rück)Zahlung von Prozesskosten ging. Da heißt/hieß es:

„Eine Jugendliche aus dem Landkreis Unterallgäu muss ihr Sparbuch auflösen, weil ihr die Prozesskostenhilfe nachträglich aberkannt wurde. Sie hatte, vertreten durch ihre Mutter, als Zehnjährige auf Schmerzensgeld geklagt, weil sie sexuell missbraucht worden sei. Bei ihrem Antrag auf finanzielle Unterstützung hatte sie ein Bankguthaben von 6.000 Euro verschwiegen.

Das OLG München hat entschieden, dass auch eine 13-Jährige für Prozesskosten aufkommen muss, wenn sie Ersparnisse hat. Die Beschwerdeführerin hatte vorgetragen, das Geld für den Führerschein und einen Gebrauchtwagen zu brauchen. Das OLG wollte jedoch keinen Härtefall annehmen, weil sie noch vier bis fünf Jahre Zeit habe, erneut eine ausreichende Summe anzusparen.

Mit der Entscheidung muss die damals Zehnjährige nun die vollen Prozesskosten von etwa 6.500 Euro zahlen, obwohl sie lediglich 6.000 Euro angespart hatte und das sogenannte Schonvermögen 2.600 Euro beträgt, die nicht in das Vermögen eingerechnet werden. Das Gericht argumentierte, dass Prozesskostenhilfe nicht teilweise bewilligt werden könne und die gewährte Unterstützung deswegen insgesamt zurückzuzahlen sei (Beschluss vom 26.03.2013, Az. 24 W 427/13).

Auch die Schmerzensgeldklage war in zweiter Instanz abgewiesen worden, weil die Klägerin nun ihre Beschuldigungen widerrief. Um zu entscheiden, ob ihre ursprünglichen Anschuldigungen oder der Widerruf glaubhafter seien, hatte das Gericht einen Gutachter beauftragt, der einen Großteil der Kosten verursacht hatte.“

 

Ein Elternteil beschuldigt, ein Elternteil geschädigt – wer entscheidet über die Aussage des Kindes?

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Sowohl für Verteidiger als auch für Nebenklägervertreter kann die Frage entscheidend sein, wer bei einem minderjährigen Zeugen über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts entscheidet, wenn einer der gesetzlichen Vertreter selbst Beschuldigter und der andere Geschädigter ist. Gilt § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend und es ist ein Ergänzungspfleger zu bestellen, oder kann der geschädigte Elternteil entscheiden? Die damit zusammenhängenden Fragen sind in der Literatur ziemlich umstritten. Mit der „quasi-familienrechtlichen“ Problematik setzt sich nun der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.03.2012 – 2 WF 42/12 – auseinander. Das OLG lehnt eine analoge Anwendung des § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO ab:

„Über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts kann der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen Zeu­gen gemäß § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO nur dann nicht entscheiden, wenn er selbst – oder im Falle der gemeinsamen Vertretung durch beide Eltern der andere Elternteil – Beschuldigter des Ermittlungs- oder Strafverfahrens ist. Die Regelung in § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO ist nicht analog auf den Fall anzuwenden, in denen der gesetzliche Vertreter nicht Beschuldigter in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist, sondern Geschädigter der fraglichen Straftat.“