Heute dann mal wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen. Das mir vorliegende Material reicht für einen „Pflichti-Tag“.
Zunächst stelle ich das EuGH, Urt. v. 05.09.2024 — C-603/22 – vor, das ich bisher übersehen hatte. In der Entscheidung hat der EuGH zur Frage des Rechtsbeistandes für einen Minderjährigen Stellung genommen.
Ausgangspunkt ist eine polnisches Strafverfahren gegen drei zum Tatzeitpunkt 17-Jährige, denen vorgeworfen worden ist, unbefugt in die Gebäude einer nicht mehr genutzten Ferienanlage eingedrungen zu sein. Von der Polizei sind sie ohne Rechtsbeistand befragt worden. Auch wurden weder sie noch ihre Eltern vor der ersten Befragung über ihre Rechte und über den Ablauf des Verfahrens informiert. Die Pflichtverteidiger haben deshalb beantragt, die Aussagen der Jugendlichen aus dieser Befragung aus den Akten zu entfernen und nicht als Beweise zuzulassen.
Das polnische Gericht hatte dann Zweifel daran, ob die Verfahrensgarantien für Minderjährige im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren ausreichend sind und hat das Verfahren dem EuGH vorgelegt. Der hat die Sache an das nationale Gericht zurückgegebeb. Das müsse prüfen, ob die polnischen Vorschriften den Anforderungen entsprechen. Sollte sich eine unionsrechtskonforme Auslegung als unmöglich erweisen, müssten sie jede entgegenstehende nationale Regelung oder Praxis aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen.
Hier dann die Leitsätze zu der Entscheidung (siehe auch die Rn. 177 aus dem o.a. Urteil).
1. Jugendliche, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, müssen von einem — ggf. von Amts wegen bestellten — Rechtsbeistand unterstützt werden, bevor sie von der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungs- oder Justizbehörde befragt werden, und zwar spätestens vor ihrer ersten Befragung. Jugendliche dürfen nicht in ihrer Eigenschaft als Verdächtige befragt werden, ohne dass ein solcher Rechtsbeistand während der Befragung anwesend ist. Dem entgegenstehende nationale Vorschriften sind wegen Art. 6 Abs. 1 bis 3 der RL (EU) 2016/800 unanwendbar.
2. Personen, die Jugendliche waren, als gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, genießen weiterhin die in der RL 2016/800 vorgesehenen Rechte, wenn sie während dieses Verfahrens das 18. Lebensjahr vollendet haben und festgestellt wurde, dass die Anwendung dieser RL im Hinblick auf alle Umstände des Einzelfalls, einschließlich ihres Reifegrads und ihrer Schutzbedürftigkeit, angemessen ist.
3. Jugendliche, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, müssen zusammen mit dem Träger der elterlichen Verantwortung spätestens vor der ersten Befragung der betroffenen Jugendlichen durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde in einfacher und verständlicher Sprache, die den besonderen Bedürfnissen und Schutzbedürftigkeiten dieser Jugendlichen Rechnung trägt, Informationen über ihre Rechte gern. Art. 3 der RL 2012/1.3/EU sowie über die in der RL (EU) 2016/800 festgelegten Rechte erhalten.
4. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, dem nationalen Gericht die Möglichkeit zu geben, ggf. Beweise für unzulässig zu erklären.
Die Grundsätze wird man sicherlich auch bei uns anwenden können/müssen.




