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U-Haft II: Gemeinsame Haft Jugendlicher/Erwachsener, oder Nur mit Genehmigung des Gerichts

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In der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, dem LG Oldenburg, Beschl. v. 29.11.2022 – 6 Qs 60/22, geht es erneut um das Trennungsgebot betreffend jugendliche U-Haft-Gefangene. Ergangen ist der Beschluss ebenfalls in dem Verfahren, in dem auch der vorhin vorgestellte  LG Oldenburg, Beschl. v. 29.11.2022 – 6 Qs 62/22 – ergangen ist (vgl. dazu: U-Haft I: Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen, oder: Keine faktische Einzelhaft zur Organisation).

In dieser – zweiten –  Entscheidung geht es um die Frage der Rechtswidrigkeit der Unterbringung von jugendlichen U-Haft-Gefangenen zusammen mit Erwachsenen. Dazu meint das LG:

„Die gemäß § 167 NJVolIzG i.V.m. mit § 304 StPO zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Cloppenburg vom 12.10.2022 (BI. 102 Bd. II d.A.) ist begründet. Das für die Zulässigkeit eines Feststellungsantrags erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse liegt vor. Der Beschwerdeführer befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft, sodass im Falle einer erneuten Vorführung über die JVA Vechta eine mögliche Wiederholung des Verstoßes gegen den Trennungsgrundsatz droht.

Die gemeinsame Unterbringung mit erwachsenen Insassen ohne gerichtliche Zustimmung war rechtswidrig.

Die Ausgestaltung des Untersuchungshaftvollzugs für junge Gefangene ist in Niedersachsen im NJVoIIzG insbesondere in den §§ 157 ff. geregelt.

Gemäß § 170 Abs. 2 NJVollzG sind für die einzelnen Vollzugsarten (Freiheitsstrafe, Jugend-strafe, Untersuchungshaft an jungen Gefangenen und Untersuchungshaft an sonstigen Untersuchungsgefangenen), für den Vollzug an Frauen und Männern sowie für den Vollzug der Freiheitsstrafe an jungen Verurteilten jeweils gesonderte Anstalten oder Abteilungen einzurichten. Gemäß § 171 Abs. 2 S.1 NJVollzG sind die einzelnen Vollzugsarten jeweils in den dafür bestimmten gesonderten Anstalten oder Abteilungen zu vollziehen.

Der Vollzug einer Vollzugsart kann jedoch gemäß § 171 Abs. 2 S. 3 NJVollzG unter bestimmten Voraussetzungen in einer für eine andere Vollzugsart bestimmten Anstalt oder Abteilung erfolgen. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn es dringende Gründe der Vollzugsorganisation erfordern oder eine Zustimmung des Gefangenen vorliegt. Jedenfalls ist jedoch im Falle einer Abweichung vom Trennungsgrundsatz im Falle der Untersuchungshaft auch die Zustimmung des zuständigen Gerichts nach § 171 Abs. 2 S. 4 NJVollzG einzuholen.

Eine solche vorher erforderliche Zustimmung wurde erst mit Schreiben vom 03.11.2022 erteilt, sodass bereits aus formellen Gründen, die vorherige Aufhebung des Trennungsgrundsatzes rechtswidrig war.

Darüber hinaus sind auch der vorliegenden Stellungnahme der JVA Vechta keine dringenden Gründe der Vollzugsorganisation zu entnehmen, welche eine Abweichung vom Grundsatz des Trennungsgrundsatzes rechtfertigten.

Da es bereits gemäß den obigen Ausführungen an der im Vorhinein erklärten gerichtlichen Zustimmung zur Abweichung vom Trennungsgrundsatz mangelt, konnte davon abgesehen werden, eine weitere Stellungnahme der JA Hameln zur fehlenden Trennung auf dem Sammeltransport einzuholen, da auch für diesen eine vorherige Zustimmung des zuständigen Gerichts erforderlich gewesen wäre.“

U-Haft I: Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen, oder: Keine faktische Einzelhaft zur Organisation

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Ich starte in die 2. KW. dann mit zwei Haftentscheidungen, und zwar zur Problematik der U-Haft von Jugendlichen. Ich beginne mit dem LG Oldenburg, Beschl. v. 29.11.2022 – 6 Qs 62/22 – zur Frage der Zulässigkeit von „Einzelhaft“ eines Jugendlichen.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung. In dem ist gegen den 16.jährigen Angeklagten Haftbefehl erlassen worden. Der ist im Rahmen der Vollstreckung des Haftbefehls zur Wahrung des Trennungsgebotes von anderen erwachsenen Untersuchungshäftlingen abgesondert worden. Er hat sich dann über seinen Verteidiger gegen diese „Maßnahme“ gewendet und die Feststellung begehrt, dass sein Einschluss von 23 Stunden täglich rechtswidrig sei. Mit Erfolg:

„Die gemäß § 167 NJVollzG i.V.m. mit § 304 StPO zulässige Beschwerde ist begründet.

Die Kammer hat das Begehren des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit seines Einschlusses über 23 Stunden täglich dahingehend ausgelegt, dass er auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner faktischen Einzelhaft durch Aussonderung aufgrund des Trennungsgrundsatzes begehrt.

Das für die Zulässigkeit eines Feststellungsantrags erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse liegt vor. Der Beschwerdeführer befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft und sein Strafverfahren wird vor dem Amtsgericht Cloppenburg fortgesetzt, sodass im Falle einer erneuten Vorführung über die JVA Vechta eine mögliche Wiederholung der Absonderung zur Wahrung des Trennungsgrundsatzes droht.

Diese von der Justizvollzuganstalt Vechta vorgenommene Absonderung des Beschwerdeführers zur Einhaltung des Trennungsgrundsatzes, die faktisch der Anordnung der Einzelhaft gegenüber einem Jugendlichen gleichkam, war rechtswidrig.

Eine gerichtliche Anordnung über eine Einzelhaft des Beschwerdeführers nach § 119 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StPO im Rahmen einer haftgrundbezogenen Beschränkung lag nicht vor, sodass sich vorliegend die Zulässigkeit der Maßnahme nach dem NJVollzG richtet.

Auch die Vorschriften des NJVollzG rechtfertigen die vorgenommene Maßnahme nicht. Die Ausgestaltung der Untersuchungshaft von jungen Gefangenen richtet sich dort nach den § 157 ff. NJVollzG. Gemäß § 158 Abs.1 NJVollzG soll der Vollzug von jungen Untersuchungshaft-Häftlingen erzieherisch gestaltet werden. Der junge Gefangene soll in der Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie in der Bereitschaft zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Lebensführung in Achtung der Rechte anderer gefördert werden. Nach § 159 NJVollzG gilt für die Unterbringung des jungen Gefangenen § 120 NJVollzG entsprechend mit der Maßgabe, dass eine Unterbringung in einer Wohngruppe, eine gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit und Freizeit sowie eine gemeinsame Unterbringung während der Ruhezeit ausgeschlossen oder eingeschränkt werden können, wenn es der Zweck der Untersuchungshaft erfordert.

Eine faktische Einzelhaft aus organisatorischen Gründen ist jedoch von Seiten des Gesetzgebers weder normiert worden, noch war diese nach Auffassung der Kammer aus sonstigen Gründen im vorliegenden Fall zulässig.

Nach § 82 i.V.m. § 166 NJvollzG ist Einzelhaft, worunter die unausgesetzte Absonderung eines Gefangenen zu verstehen ist, nur zulässig, wenn dies aus Gründen, die in der Person des Gefangenen liegen, unerlässlich ist. Solche Gründe sind hier jedoch ersichtlich.

Vielmehr fand die Absonderung des Beschwerdeführers über einen längeren Zeitraum zur Gewährung des Trennungsgrundsatzes statt, dessen organisatorische Umsetzung dieser nicht zu vertreten hat. Hierbei ist zu beachten, dass die Einhaltung des Trennungsgrundsatzes gerade dem Schutz von insbesondere jugendlichen Untersuchungshäftlingen dient, die besonders haftempfindlich sind.

Soweit die JVA Vechta in ihrem Schreiben vom 04.11.2022 gegenüber dem Verteidiger des Beschwerdeführers ausführte, dass die Vollzugsbeamten sich speziell um solche Durchgangsgefangenen kümmerten, gerade damit diese nicht „vereinsamen“, ist diese allgemein gehaltene Ausführung nicht geeignet, darzulegen, in welchem Umfang durch welche Personen eine Betreuung des Beschwerdeführers stattfand.

Es kann zudem dahinstehen, ob dies nicht näher konkretisierte „Kümmern“ grundsätzlich ausreichend ist, um die Isolation des Beschwerdeführers durch Absonderung zu durchbrechen, da eine Einzelhaft aus organisatorischen Gründen jedenfalls unzulässig war.

Zudem erfordert aus Sicht der Kammer auch der gesetzlich normierte Erziehungsgedanke der Ausgestaltung der Untersuchungshaft, dass eine gemeinsame Unterbringung von jugendlichen Untersuchungshäftlingen stattfindet. Nur diese ermöglicht neben der täglichen Frei-stunde/Hofgang, dem Gemeinschaftsfernsehen und sonstigen Gemeinschaftsveranstaltungen die gemeinsame Unterhaltung oder Beschäftigung und wirkt den mit der Untersuchungshaft verbundenen psychischen Belastungen junger Inhaftierter entgegen.

Hierbei ist unerheblich, dass der Beschwerdeführer vorliegend die Wahl hatte, sich einer rechtswidrigen faktischen Einzelhaft durch eine Zustimmung zur Ausnahme vom Trennungsgrundsatz zu entziehen. Der Trennungsgrundsatz soll gerade dem Wohl des Jugendlichen dienen und dieser soll nicht durch die Vollstreckung von faktischer Einzelhaft durch Isolierung und Absonderung von anderen Häftlingen dazu gehalten werden, auf dieses günstige und schützende Recht zu verzichten.“

Pflichti III: Nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Pro und Contra – pro hat Recht

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Und dann noch etwas zum Dauerbrenner im Bereich der §§ 140 ff. StPO, nämlich die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Da gibt es zwei Lager, die sich gegenüber stehen. M.E. hat das Lager, das eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers, insbesondere in den Fällen der Einstellung des Verfahrens (meist nach § 154 StPO) bejaht, ein leichtes Übergewicht.

Die Argumente in dieser Streitfrage sind ausgetauscht, so dass ich hier nur – der Vollständigkeit halber – die neueren Entscheidung pro/contra vorstelle. Und zwar.

Für die Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung haben sich ausgesprochen:

– LG Karlsruhe, Beschl. v. 14.11.2022 – 16 Qs 62/22

– LG Münster, Beschl. v. 4.11.2022 – 22 Qs 41/22 – für einen Nebenklagefall

– LG Neuruppin, Beschl. v. 01.12.2022 – 12 Qs 17/22 jug.

Gegen die Zulässigkeit argumentieren:

– LG Braunschweig, Beschl. v. 23.11.2022 – 9 Qs 346/22

LG Oldenburg, Beschl. v. 06.12.2022 – 3 Qs 409/22

Ich meine, die Auffassung, die für die Zulässigkeit plädiert, ist zutreffend. Letztlich wird die Frage aber ggf. irgendwann mal der BGH entscheiden. Hoffentlich.

Verkehrsrecht I: Betrunkener Sozius auf dem E-Scooter, oder: Berührt geführt

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Und heute am 1. Dezember dann drei Entscheidungen aus dem Verkehrsrecht. Ich beginne die Berichterstattung mit dem LG Oldenburg, Beschl. v. 07.11.2022 – 4 Qs 368/22. Es geht mal wieder um eine Fahrt mit dem E-Scooter. Allerdings dieses Mal eine besondere Variante. Das LG hatte nämlich die Frage zu entscheiden, ob dann, wenn zwei Personen auf einem E-Scooter fahren und sich der absolut fahruntüchtige Sozius mit am Lenker festhält, dieser eine Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB begeht.

Das LG hat sowohl die Frage als auch die Frage, ob es sich bei einem E-Scooter um ein Kfz handelt bejaht und die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis bestätigt. Wegen der Ausführungen zur Kfz-Eigenschaft verweise ich auf den verlinkten Volltext. Zum „Führen“ i.S. des § 316 StGB führt es aus:

„c) Der Beschuldigte hat den E-Scooter zur Tatzeit auch „geführt“ i. S. d. § 316 StGB.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 18, 6 [8 f.]; BGHSt 35, 390 [393]; BGHSt 36, 343) ist Führer eines Fahrzeugs derjenige, der sich selbst aller oder wenigstens eines Teiles der wesentlichen technischen Einrichtungen des Fahrzeuges bedient, die für seine Fortbewegung bestimmt sind, also das Fahrzeug unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Alleinoder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder das Fahrzeug unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt. Danach ist Führer eines Fahrzeuges nicht nur derjenige, der alle für die Fortbewegung des Fahrzeugs erforderlichen technischen Funktionen ausübt, sondern auch, wer nur einzelne dieser Tätigkeiten vornimmt, jedenfalls solange es sich dabei um solche handelt, ohne die eine zielgerichtete Fortbewegung des Fahrzeugs im Verkehr unmöglich wäre (wie z. B. das Bremsen oder Lenken).

bb) Diese überzeugenden Voraussetzungen, denen sich die Kammer anschließt, werden durch das Verhalten des Beschuldigten erfüllt.

Der Beschuldigte hat eingeräumt, dass er „die Hände am Lenker“ gehabt habe und diesen „festhielt“, wobei er allerdings „keine Lenkbewegungen“ ausgeführt habe. Allein das Festhalten des Lenkers eines E-Scooters während der Fahrt durch einen Sozius stellt – unabhängig von aktiven Lenkbewegungen nach links oder rechts, um eine Kurve zu fahren – ein Lenken des Fahrzeugs und damit das „Führen“ eines Fahrzeugs i. S. d. § 316 StGB dar. Denn das Festhalten des Lenkers eines E-Scooters führt dazu, dass dieser in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt wird: nämlich geradeaus. Dieses Inder-Spur-Halten des E-Scooters ist ein genuiner Lenkvorgang, weil ein kontrolliertes Fortbewegen des E-Scooters durch den Verkehrsraum, wenn beide Personen auf dem Roller sich am Lenker festhalten, nur durch ein Zusammenwirken durch beide Fahrer möglich ist. Das bedeutet auch, dass der E-Scooter in einer Art „Mittäterschaft“ von beiden Fahrern gleichzeitig geführt wird.

Dass nach der Einlassung des Beschuldigten lediglich der vordere Fahrer Einfluss auf die Geschwindigkeit gehabt habe, ist nach der vorstehenden Rechtsprechung des BGH – welcher sich die Kammer anschließt – ohne Belang. Denn ein „Führen“ des Fahrzeugs kann hiernach auch dann vorliegen, wenn einzelne Bedienfunktionen – wie hier das Geradeauslenken – aufgeteilt werden. Dass sich der Beschuldigte nach den Ausführungen der Beschwerdebegründung über die Strafbarkeit der Handlung geirrt habe, stellt einen vermeidbaren Verbotsirrtum dar.

Die Kammer würde ein Festhalten am Lenker eines E-Scooters auch dann als Lenken des Fahrzeuges einordnen, wenn – was hier weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist – der Sozius den Verkehr selbst gar nicht wahrnehmen kann, weil der vordere Fahrer des E-Scooters deutlich größer ist und der Sozius über diesen nicht hinwegsehen kann. Denn das Festhalten des Lenkers eines E-Scooters während der Fahrt sorgt – unabhängig von der Beobachtungsmöglichkeit des Verkehrs – für ein In-der-Spurhalten. Ein solches Verhalten stellte hernach vielmehr eine Geradeausfahrt im „Blindflug“ dar, die umso gefährlicher wäre, weil plötzliche Verkehrsvorgänge durch den Sozius, der auf die Lenkung einwirkt, optisch überhaupt nicht wahrgenommen werden könnten.

Diese Bewertung durch die Kammer hält auch dem Vergleich mit einem Sozius auf einem Kraftrad stand, welcher aus überzeugenden Gründen mangels eigenverantwortlicher Übernahme einer für die Fahrbewegung notwendigen technischen Teilfunktion nicht als „Führer“ eines Kraftrades angesehen wird (BGH, NZV 1990, 157 [157]). Denn anders als der Soziusfahrer eines Kraftrades beeinflusst der Soziusfahrer eines E-Scooters, der sich an der Lenkstange festhält, die Fahrtrichtung des Fahrzeugs unmittelbar. Vergleichbar mit dem Soziusfahrer eines Kraftrades wäre der Soziusfahrer eines E-Scooters nach Überzeugung der Kammer lediglich dann, wenn er sich – wie im Regelfall der Soziusfahrer eines Kraftrades – an seinem Vordermann festhielte (etwa am Bauch). Das ist hier allerdings ausdrücklich nicht der Fall gewesen.

Die Einordnung durch die Kammer steht auch mit dem Sinn und Zweck des § 316 StGB in Einklang. Denn diese Vorschrift schützt als abstraktes Gefährdungsdelikt u. a. das Universalinteresse an der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs gegen verkehrsinterne Bedrohungen von fahruntüchtigen Fahrzeugführern (z. B.: Kudlich, in: BeckOK § 316 StGB, Rn. 1 f. [Stand: 01.08.2022]). Die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs wird durch die unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit eines fahruntüchtigen Sozius auf einem E-Scooter, der sich an dem Lenker festhält, erheblich gefährdet, weil er durch bewusste oder unbewusste Lenkbewegungen – sei es durch Zur-Seite-lenken oder Geradeaus-lenken – Kollisionen mit anderen Verkehrsteilnehmern hervorrufen kann, wenn er hierdurch den Lenkbewegungen des anderen Fahrers entgegenwirkt oder diese – bewusst oder unbewusst – verstärkt.“

Verteidiger aus Torgau in Vechta, Mandant aus Leipzig, oder: Reise-/Übernachtungskosten des auswärtigen RA

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In der Praxis macht die Auslagenerstattung für den auswärtigen Verteidiger häufig Schwierigkeiten.Mit der Problematik befasst sich der LG Oldenburg, Beschl. v. 13.07.2022 – 5 Qs 217/22.

Im Hauptverhandlungstermin beim AG Vechta war der aus Torgau angereiste Verteidiger des Betroffenen, der zum Zeitpunkt der Zustellung des Bußgeldbescheides in Torgau gewohnt hat und nun in Leipzig wohnhaft ist, anwesend. Durch Beschluss des AG ist das Verfahren eingestellt und sind die notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt worden. In der Kostenfestsetzung hat das AG die Erstattung von Reisekosten des Verteidigers des Betroffenen abgelehnt. Das dagegen gerichtete Rechtsmittel des Betroffenen hatte – weitgehend – Erfolg:

„1. Die Erstattung von Reisekosten und Abwesenheitsgelder eines nicht am Ort des Prozessgerichtes ansässigen Verteidigers kommt gemäß § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO nur dann in Betracht, wenn seine Hinzuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig war. Dies ist nur unter besonderen Voraussetzungen (vgl. insoweit Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 464a Rn. 12 m.w.N.), die dem Ausnahmecharakter des § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO Rechnung tragen, der Fall.

Die Erstattungsfähigkeit ist zu bejahen, wenn bei einer schwierigen oder abgelegenen Rechtsmaterie ein Rechtsanwalt mit besonderen Fachkenntnissen, die kein Rechtsanwalt vor Ort hat, erforderlich erscheint (OLG Düsseldorf 6.10.1970 — 2 Ws 443/70, NJW 1971, 1146; 6.4.1981 — 1 Ws 210-211/81, NStZ 1981, 451; OLG Bamberg 20.3.1986 — Ws 147/86, JurBüro 1987, 558). Auch wenn der Angeklagte selber weit vom Gerichtsort entfernt wohnt und er ansonsten zur Rücksprache mit seinem Verteidiger große Strecken fahren müsste, oder wenn der Angeklagte bei Beauftragung des Anwalts davon ausgehen konnte, dass das Verfahren am Kanzleiort des Rechtsanwalts geführt wird, sind die Auslagen wohl als notwendige anzusehen (LG Flensburg 30.5.1984 — 1 Qs 126/84, JurBüro 1984, 1537; OLG Celle 22.1.1985 — 1 Ws 25/85, StV 1986, 208). Einem Vertrauensverhältnis zwischen dem Verteidiger und dem Betroffenen/Angeklagten kommt nur bei einem schweren Schuldvorwurf regelmäßig eine größere Bedeutung als die Ortsnähe zu (OLG Celle 28.10.1991 — 3 Ws 226/91, StV 1993, 135; OLG Köln 16.11.1991 — 2 Ws 452/91, NJW 1992, 586; OLG Naumburg 17.10.2008 — 1 Ws 307/08, StraFo 2009, 128). Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung.

Nach Würdigung aller Gesamtumstände kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Hinzuziehung des Verteidigers für den vormals Betroffenen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig war:

Der Betroffene war zum Zeitpunkt der Zustellung des Bußgeldbescheids in 04860 Torgau und ist aktuell nunmehr in 04157 Leipzig wohnhaft. Der von ihm beauftragte Rechtsanwalt hat seinen Kanzleisitz in Torgau, was sich zunächst an seinem Wohnsitz und nunmehr in örtlicher Nähe zu seinem jetzigen Wohnsitz befindet. Überdies wurde dem Betroffenen im vorliegenden Fall mit Bußgeldbescheid vom 16.12.2020 wegen eines Verstoßes gegen § 73 Abs. 1 lit. a Ziff. 24 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit § 32 S. 1 IfSG sowie den §§ 28, 29, 30 Abs. 1 2 IfSG eine Geldbuße von 25.000,00 EUR — mithin eine sehr empfindsame finanzielle Belastung — auferlegt. Schließlich besteht ausweislich des Vortrags des Rechtsanwalts seit vielen Jahren ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Rechtsanwalt und dem ehemals Betroffenen. Eine Beauftragung eines Rechtsanwalts mit Kanzleisitz am Ort des Prozessgerichts erscheint unter Berücksichtigung dieser Umstände unzumutbar. Die seitens des Rechtsanwalts beantragten Reisekosten sind daher erstattungsfähig.

Zu den Reisekosten gehören als sonstige Auslagen (RVG VV Nr. 7006) auch angemessene Übernachtungskosten. Die Ersatzfähigkeit von Übernachtungskosten orientiert sich dem Grunde nach allein an der Frage der Zumutbarkeit eines Reisebeginns zur Nachtzeit (§ 758 a IV ZPO). Ein Reiseantritt (ab Wohnung des Rechtsanwalts) vor 6 Uhr morgens ist in der Regel nicht zumutbar (OLG Nürnberg, Beschl. v. 13. 12. 2012 — 12 W 2180/12). Die Verhandlung begann am 22.02.2022 um 9:30 Uhr. Bei einer Fahrtzeit aus Torgau zum Amtsgericht Vechta von über vier Stunden wäre ein Reiseantritt vor sechs Uhr morgens — mithin zur Nachtzeit —erforderlich und somit unzumutbar gewesen, weshalb das Gericht die Übernachtungskosten als notwendig und mithin als erstattungsfähig ansieht. Zu berücksichtigen ist, dass in den Übernachtungskosten, die seitens des Rechtsanwalts geltend gemacht wurde, auch die Kosten eines Frühstücks in Höhe von 12,50 EUR enthalten waren. Diese anteiligen Kosten sind abzuziehen, weil der Anwalt auch ohne Durchführung der Geschäftsreise — dann zu Hause —ein Frühstück eingenommen hätte und insoweit also eigene Kosten erspart worden sind (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. 5. 2012 – 1-10 W 5/12, NJW-Spezial 2012, 732). Verpflegungskosten anlässlich einer Geschäftsreise sind durch die Tages- und Abwesenheitsgelder, die der Anwalt beantragen kann, abgegolten. Daher können diese Kosten nicht als reisebedingt der Staatskasse in Rechnung gestellt werden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. 5. 2012 -1-10 W 5/12, NJW-Spezial 2012, 732). Die Kosten des Frühstücks sind mithin von den geltend gemachten Übernachtungskosten in Höhe von 91,50 EUR abzuziehen.“