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Pflichti I: Bestellung in der Strafvollstreckung, oder: Wenn noch 1 Jahr und 3 Monate zu vollstrecken sind

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Am zweiten Tag der Woche dann mal wieder einige Entscheidungen zur Pflichtverteidigerbestellung.

Und die Berichterstattung starte ich mit dem LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 17.06.2019 – 6 Qs 615 Js 26541/14 (47/19) -, den mit der Kollege Funck aus Braunschweig geschickt hat. Ergangen ist er im Strafvollstreckungsverfahren. Der Verurteilte hatte einen Beiordnungsantrag gestellt, über den das AG nicht entschieden hat. Das AG hat die Bewährung widerrufen. Dagegen die Beschwerde des Verurteilten und wegen des Beiordnungsantrags die Untätigkeitsbeschwerde. Dazu – ganz am Ende des Aufhebungsbeschlusses das LG:

„3. Die Untätigkeitsbeschwerde hinsichtlich der Nichtbescheidung des Beiordnungsantrages durch das Amtsgericht war zurückzuweisen, da nicht ersichtlich ist, welche Tätigkeit ein Pflichtverteidiger, nachdem das vor dem Amtsgericht anhängige Widerrufsverfahren durch den Erlass eines Widerrufsbeschlusses an für sich sein Ende gefunden hat, in diesem Verfahrensstadium noch hätte entfalten können.

Die Einlegung der sofortigen Beschwerde eröffnete vielmehr das Beschwerdeverfahren und damit eine dortige Pflichtverteidigerbestellung, die für das Beschwerdeverfahren im vorliegenden Fall gemäß § 140 Abs. 2 StPO analog vor dem Hintergrund, dass hier der Widerruf einer Gesamtfreiheitstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten drohte und sich die Sachlage differenziert gestaltete, vorzunehmen war.“

Pflichti III: Bestellung des Wahlanwalts als Pflichtverteidiger, oder: Beschleunigung und Ortsferne

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Im dritten „Pflichtverteidigungsbeschluss“ geht es dann mal wieder um die Auswahl des Pflichtverteidigers bzw. um eine Umbeiordnung. Das AG hat ersichtlich den Wahlverteidiger, der seine Bestellung als Pflichtverteidiger beantragt hatte, nicht als Pflichtverteidiger gewollt. Als Begründung sind vorgegeben worden das Beschleunigungsgebot und die „weite“ Entfernung des Kanzleisitzes zum Gerichtsort. Das LG Dessau-Roßlau sieht das im LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 07.03.2019 – 6 Qs 294 Js 7232/18 (36/19) – doch ein wenig anders:

„Am 13.11.2018 wurde gegen die Angeklagten Anklage wegen Meineids erhoben. Der Angeklagten S. wurde vom Amtsgericht mit der Anklagezustellung die Möglichkeit gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO gegeben, binnen einer Woche einen bestimmten Rechtsanwalt zu benennen, da das Amtsgericht die Bestellung eines Pflichtverteidigers gern. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO beabsichtigte. Die Zustellung erfolgte am 24.11.2018. Mit Schriftsatz vom 12.12.2018 meldete sich Rechtsanwalt J.R. Funck aus Braunschweig und beantragte seine Bestellung. Das Amtsgericht verwies darauf, dass eine Bestellung eines auswärtigen Rechtsanwalts nur dann in Betracht käme, wenn dargelegt werde, warum diesen ein besonderes Vertrauensverhältnis mit einem Angeklagten verbindet. Sodann fragte es am 14.01.2019 nach Terminen im Zeitraum Februar – April 2019 an. Rechtsanwalt J.R. Funck berief sich darauf, dass keine besondere Eilbedürftigkeit bestehe und bot freie Termine im Juli 2019 an. Das Amtsgericht gab der Angeklagten die Möglichkeit einen anderen Verteidiger zu benennen, da es eine Hauptverhandlung am 12., 19. und 26.03 2019 beabsichtigte. Unter Aufrechterhaltung seines Antrags auf Bestellung gab Rechtsanwalt J.R. Funck 5 weitere Rechtsanwälte an. Das Amtsgericht terminierte am 11.02.2019 wie angekündigt, ließ die Anklage zu und bestellte der Angeklagten Rechtsanwalt R. Dessau, als Pflichtverteidiger und wies den Antrag auf Bestellung von Rechtsanwalt J.R. Funck zurück. …..

Die Beschwerde ist begründet. Der Angeklagten ist gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO Rechtsanwalt J.R. Funck als Pflichtverteidiger zu bestellen.

Ein Angeklagter hat keinen allgemeinen Anspruch auf Beiordnung eines gewünschten Anwalts. Ein von einem Angeklagten gewünschter Verteidiger kann jedoch nur dann nicht als Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn ein wichtiger Grund entgegensteht. § 142 Abs. 1 S. 2 StPO. Dadurch wird das grundsätzlich insoweit dem Richter eröffnete Ermessen stark eingeschränkt. Ein derartiger Grund kann das Beschleunigungsgebot sein, das grundsätzlich bei allen Verfahren gilt. Bei Haftsachen ist es jedoch von erheblich stärkerer Bedeutung, Art. 5 III S. 2 MRK. Das Gebot muss regelmäßig mit dem Wunsch des Angeklagten nach einem Verteidiger seines Vertrauens abgewogen werden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 142, Rn. 9a m.w.N.). Vorliegend handelt es sich um keine Haftsache. Das Beschleunigungsgebot ist daher nicht in dem Maße gewichtig wie bei einem oder mehreren inhaftierten Angeklagten.

Die Bestellung eines Wahlverteidigers setzt auch keine Ortsnähe mehr voraus. Dem Amtsgericht ist jedoch im Grundsatz insoweit recht zu geben, dass bei einer Ortsferne darzulegen ist, warum ihn mit dem Wahlverteidiger ein besonderes Vertrauensverhältnis verbindet (Meyer-Goßner / Schmitt, a.a.O., § 142, Rn. 12 m.w.N.). Dies hat die Angeklagte vorliegend nicht getan. Das vom Amtsgericht herangezogene Erfordernis gilt jedoch nur bei einer gewissen Entfernung zwischen Gericht und Kanzleisitz. Diese ist bei den ca. 150 km zwischen Braunschweig und Dessau nicht erreicht (vgl. OLG Zweibrücken StV 02, 238).

Bei der damit gebotenen Abwägung der zitierten ggf. gegenläufigen Interessen hat das Interesse eines Gerichts an der Beibehaltung der dort üblichen Terminierungspraxis keinen unmittelbaren Vorrang vor den anderen Interessen. Die hier gebotene Abwägung hat das Amtsgericht vorlegend nicht in dem gebotenen Maße vorgenommen. Sie wird nicht durch eine einseitige Berücksichtigung der Terminslage und -interessen des erkennenden Gerichts und Außerachtlassung der Interessen der Angeklagten erreicht, von dem gewünschten Rechtsanwalt verteidigt zu werden. Dies gilt insbesondere bei einem schweren Schuldvorwurf wie hier (vgl. BGHSt 43, 153, 156).“

Pflichti II: Wenn Bewährungswiderruf droht, oder: Motivbündel

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Bei dem zweiten Pflichtverteidigungsbeschluss handelt es sich um den LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 22.09.2017 – 8 Qs 308 Js 27019/16 (135/17). Er behandelt die Beiordnung in einem Verfahren wegen des Vorwurfs des Verstoße gegen das Tierschutzgesetz. Das LG ordnet nach § 140 Abs. 2 StPO bei wegen „sonstigen schweren Nachteil“, im Grunde ist es aber eine Beiordnung aus einem „Motivbündel“.

„Nach § 140 Abs. 2 StPO ist einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann.

Hier gebietet bereits der Umstand, dass ein sonstiger schwerwiegender Nachteil droht, hier der Bewährungswiderruf in anderer Sache, die Bestellung eines Pflichtverteidigers.

Die Angeklagte ist mit Urteil des Amtsgerichts Köthen vom 24.03.2014, Az.: 5 Os 303 Js. 2994/13 (142/139). wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit, die zwischenzeitlich verlängert werden musste, läuft bis zum 11.04.2019.

Mithin hat die Angeklagte innerhalb der Bewährungszeit erneut eine Straftat, wenn auch keine einschlägige, worauf es nicht ankommt, begangen, so dass ihr insoweit ein Bewährungswiderruf drohte.

Unter Berücksichtigung auch der im vorliegenden Verfahren drohenden Sanktion erfordert die Schwere der Tat insoweit die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO.

Hinzu kommt, dass Umstände vorliegen, die dafür sprechen, dass sich pp. nicht selbst verteidigen kann. Nach dem ärztlichen Bericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. pp. ist pp. psychisch und physisch schwer erkrankt. Sie habe wegen psychischer Störungen ihre Wohnung seit 12 Jahren nicht vorlassen, sie folge weder Überweisungen noch Einweisungen wegen ihres Angst- und Paniksyndroms.

Aufgrund dieser Erkrankung kann nicht ausgeschlossen werden, dass pp. aufgrund der durch ein Strafverfahren verursachten Belastung und ihres Angst- und Paniksyndroms nicht die erforderliche Aufmerksamkeit aufbringen kann, um dem Verfahren folgen zu können.“

Der dritte Pflichtverteidiger? – auch das gibt es…..

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Ich war dann doch etwas überrascht, als ich den LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 18.03.2016 — 1 Ks (115 Js 4512/12) – gelesen habe. Da hat das LG – offenbar ohne große Schwierigkeiten – einem Angeklagten den dritten Pflichtverteidiger beigeordnet. Nun  ja, das gibt es – siehe z.B. das NSU-Verfahren, da hat die Angeklagte Zschäpe sogar vier Pflichtverteidiger. Aber so ganz häufig ist das dann doch nicht, so dass sich ein Hinweis auf den Beschluss „lohnt“:

„Die Beiordnung eines dritten Pflichtverteidigers erweist sich als notwendig, weil aufgrund des Vortrages seitens der bisherigen Verteidigung eine zügige Durchführung der Hauptverhandlung ohne einen dritten Pflichtverteidiger nicht gesichert ist.

Die Kammer beabsichtigt, die mit Beginn im Mai 2016 geplante Hauptverhandlung grundsätzlich an zwei Tagen allwöchentlich durchzuführen. Seitens der bisherigen Verteidigung des Angeklagten ist mitgeteilt worden, dass es insbesondere zu Beginn der hiesigen Hauptverhandlung zu unvermeidbaren Terminskollisionen kommen wird. Zwar sind diese noch nicht im Einzelnen benannt worden, was allerdings in Ermangelung einer konkreten Terminierung der Hauptverhandlung auch noch nicht möglich ist. Ein Zuwarten mit einer Entscheidung über die Bestellung eines dritten Pflichtverteidigers erscheint indes auch nicht angezeigt, da der Umfang des Verfahrensstoffes dem neu zu bestellenden Pflichtverteidiger eine nicht unerhebliche Einarbeitungszeit abverlangt,

Eine regelmäßige Verteidigung durch mindestens zwei Pflichtverteidiger erscheint aber aufgrund des Umfangs des Verfahrensstoffes geboten. Abgesehen von dem Aktenumfang mit 40 Bänden Strafakten, über 60 Sonderheften und diversen Beiakten hat die vorangegangene Hauptverhandlung in diesem Verfahren über 80 Verhandlungstage angedauert. Nach der Aufhebungsentscheidung durch den Bundesgerichtshof, die keine der Feststellungen aus dem aufgehobenen Urteil als für die neu zu treffende Entscheidung bereits bindend hat bestehen lassen, ist ein erneuter Hauptverhandlungsumfang von ähnlicher Dauer zu erwarten,

Ein Auswechseln eines Pflichtverteidigers aufgrund schon jetzt vorhersehbarer Terminkollisionen in erheblichem Umfang erscheint nicht angezeigt, da die Terminskollisionen nicht als das gesamte Verfahren überdauernd zu erwarten sind und aufgrund der Verfahrenskenntnisse der bisherigen Pflichtverteidiger deren weitere grundsätzliche Mitwirkung an dem Verfahren geboten erscheint.

Auch eine Verweisung des Angeklagten darauf, dass ihm im Fell von Terminskollisionen eines oder beider Pflichtverteidiger für einzelne Termine vertretungsweise ein anderer Pflichtverteidiger bestellt werden kann, erscheint nicht sachgerecht…….

Zudem handelt es sich nicht um die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers zu dem Zweck, dass sich die Pflichtverteidiger des Angeklagten pp. in ihrer Teilnahme an den Hauptverhandlungsterminen jeweils vertreten können. Vielmehr dient die Bestellung eines dritten Pflichtverteidigers dazu, zumindest grundsätzlich die Anwesenheit von zwei Pflichtverteidigern zu ermöglichen.“

Pflichtverteidigerbestellung „unterlaufen“ läuft nicht

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Meine Sammlung von Entscheidungen, die eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers als zulässig/möglich ansehen, ist gewachsen, nämlich um den LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 26.06.20152 – Qs 593 Js 275114 (118/15). Der macht – mal wieder – ein Ausnahme, in dem in AG – mal wieder  das Verfahren nach § 154 Ab. 2 StPO eingestellt hat, einen Beiordnungsantrag des Verteidigers – aus welchen Gründen auh immer – aber übersehen hat. Das LG ordnet dann rückwirkend bei:

„Nach Auffassung der Kammer kann die Entscheidung über die Bestellung als Pflichtverteidiger im vorliegenden Fall auch rückwirkend vorgenommen werden.

Die Kammer teilt zwar die Auffassung des Amtsgerichts, wonach grundsätzlich die rückwirkende Bestellung eines Verteidigers unzulässig und damit unwirksam ist, weil die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich ausschließlich zur Wahrung der Belange des Angeklagten erfolgt. Ist das Verfahren abgeschlossen, scheidet eine dem Zweck der Pflichtverteidigung entsprechende Tätigkeit insoweit aus. Eine nachträgliche Bestellung würde somit ausschließlich dem verfahrensfremden Zweck dienen, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch eine notwendige ordnungsgemäße Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten (OLG Düsseldorf, StraFo, 03,94).

Von diesem Grundsatz ist jedoch nach Ansicht der Kammer jedenfalls dann abzuweichen, wenn die gerichtliche Beiordnung vor Verfahrensabschluss beantragt worden war, aber darüber, trotz des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO nicht entschieden wurde (LG Potsdam, StraFo 04,381; LG Hamburg, StV 00,16: 05, 207; ). In einem solchen Fall dient die Beiordnung nämlich nicht dazu, dem Verteidiger nachträglich einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, vielmehr soll verhindert werden, dass sich gerichtsinterne Umstände, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hat, zu Lasten des Angeklagten auswirken.

Im vorliegenden Fall hat die Verteidigerin des Angeklagten bereits am 10.04.2014 für den Beschwerdeführer einen Antrag auf Beiordnung gesteilt, und Verteidigungstätigkeit vorgenommen, indem gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt wurde.

Mit Zustimmungserklärung zur beabsichtigten Einstellung des Verfahrens vom 06.10.2014 mahnte die Verteidigerin eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag an. Es erfolgte anschließend jedoch lediglich die Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO.

Damit liegen Umstände vor, die auch bei einer Annahme einer grundsätzlichen Unzulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung eine solche ausnahmsweise zulässig erscheinen lassen.

Wäre in diesen Fällen eine rückwirkende Bestellung unzulässig, so könnte die erforderliche Bestellung eines Pflichtverteidigers durch Nichtbescheidung eines entsprechenden Antrags unterlaufen werden. Die Beiordnung war daher, auch wenn später das Verfahren gemäß § 154 Abs.2 StPO eingestellt wurde, geboten. Es kommt ausschließlich darauf an, ob die Voraussetzungen der Beiordnung zum Zeitpunkt der Einstellung des Verfahrens vorgelegen haben, nicht entscheidend ist, ob sie später entfallen sind. Der Verfahrensabschnitt, für den die Beiordnung beantragt wurde, war zum Zeitpunkt der Beantragung noch nicht abgeschlossen und die Beiordnung diente keinem verfahrensfremden Zweck (LG Schweinfurth, StraFo 06, 25; LG Saarbrücken, StV 05, 82; LG Berlin, StV 05, 83).“

Pflichtverteidigerbestellung „unterlaufen“ läuft also nicht.