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Pflichti II: Wenn Bewährungswiderruf droht, oder: Motivbündel

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Bei dem zweiten Pflichtverteidigungsbeschluss handelt es sich um den LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 22.09.2017 – 8 Qs 308 Js 27019/16 (135/17). Er behandelt die Beiordnung in einem Verfahren wegen des Vorwurfs des Verstoße gegen das Tierschutzgesetz. Das LG ordnet nach § 140 Abs. 2 StPO bei wegen „sonstigen schweren Nachteil“, im Grunde ist es aber eine Beiordnung aus einem „Motivbündel“.

„Nach § 140 Abs. 2 StPO ist einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann.

Hier gebietet bereits der Umstand, dass ein sonstiger schwerwiegender Nachteil droht, hier der Bewährungswiderruf in anderer Sache, die Bestellung eines Pflichtverteidigers.

Die Angeklagte ist mit Urteil des Amtsgerichts Köthen vom 24.03.2014, Az.: 5 Os 303 Js. 2994/13 (142/139). wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit, die zwischenzeitlich verlängert werden musste, läuft bis zum 11.04.2019.

Mithin hat die Angeklagte innerhalb der Bewährungszeit erneut eine Straftat, wenn auch keine einschlägige, worauf es nicht ankommt, begangen, so dass ihr insoweit ein Bewährungswiderruf drohte.

Unter Berücksichtigung auch der im vorliegenden Verfahren drohenden Sanktion erfordert die Schwere der Tat insoweit die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO.

Hinzu kommt, dass Umstände vorliegen, die dafür sprechen, dass sich pp. nicht selbst verteidigen kann. Nach dem ärztlichen Bericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. pp. ist pp. psychisch und physisch schwer erkrankt. Sie habe wegen psychischer Störungen ihre Wohnung seit 12 Jahren nicht vorlassen, sie folge weder Überweisungen noch Einweisungen wegen ihres Angst- und Paniksyndroms.

Aufgrund dieser Erkrankung kann nicht ausgeschlossen werden, dass pp. aufgrund der durch ein Strafverfahren verursachten Belastung und ihres Angst- und Paniksyndroms nicht die erforderliche Aufmerksamkeit aufbringen kann, um dem Verfahren folgen zu können.“

Der dritte Pflichtverteidiger? – auch das gibt es…..

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Ich war dann doch etwas überrascht, als ich den LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 18.03.2016 — 1 Ks (115 Js 4512/12) – gelesen habe. Da hat das LG – offenbar ohne große Schwierigkeiten – einem Angeklagten den dritten Pflichtverteidiger beigeordnet. Nun  ja, das gibt es – siehe z.B. das NSU-Verfahren, da hat die Angeklagte Zschäpe sogar vier Pflichtverteidiger. Aber so ganz häufig ist das dann doch nicht, so dass sich ein Hinweis auf den Beschluss „lohnt“:

„Die Beiordnung eines dritten Pflichtverteidigers erweist sich als notwendig, weil aufgrund des Vortrages seitens der bisherigen Verteidigung eine zügige Durchführung der Hauptverhandlung ohne einen dritten Pflichtverteidiger nicht gesichert ist.

Die Kammer beabsichtigt, die mit Beginn im Mai 2016 geplante Hauptverhandlung grundsätzlich an zwei Tagen allwöchentlich durchzuführen. Seitens der bisherigen Verteidigung des Angeklagten ist mitgeteilt worden, dass es insbesondere zu Beginn der hiesigen Hauptverhandlung zu unvermeidbaren Terminskollisionen kommen wird. Zwar sind diese noch nicht im Einzelnen benannt worden, was allerdings in Ermangelung einer konkreten Terminierung der Hauptverhandlung auch noch nicht möglich ist. Ein Zuwarten mit einer Entscheidung über die Bestellung eines dritten Pflichtverteidigers erscheint indes auch nicht angezeigt, da der Umfang des Verfahrensstoffes dem neu zu bestellenden Pflichtverteidiger eine nicht unerhebliche Einarbeitungszeit abverlangt,

Eine regelmäßige Verteidigung durch mindestens zwei Pflichtverteidiger erscheint aber aufgrund des Umfangs des Verfahrensstoffes geboten. Abgesehen von dem Aktenumfang mit 40 Bänden Strafakten, über 60 Sonderheften und diversen Beiakten hat die vorangegangene Hauptverhandlung in diesem Verfahren über 80 Verhandlungstage angedauert. Nach der Aufhebungsentscheidung durch den Bundesgerichtshof, die keine der Feststellungen aus dem aufgehobenen Urteil als für die neu zu treffende Entscheidung bereits bindend hat bestehen lassen, ist ein erneuter Hauptverhandlungsumfang von ähnlicher Dauer zu erwarten,

Ein Auswechseln eines Pflichtverteidigers aufgrund schon jetzt vorhersehbarer Terminkollisionen in erheblichem Umfang erscheint nicht angezeigt, da die Terminskollisionen nicht als das gesamte Verfahren überdauernd zu erwarten sind und aufgrund der Verfahrenskenntnisse der bisherigen Pflichtverteidiger deren weitere grundsätzliche Mitwirkung an dem Verfahren geboten erscheint.

Auch eine Verweisung des Angeklagten darauf, dass ihm im Fell von Terminskollisionen eines oder beider Pflichtverteidiger für einzelne Termine vertretungsweise ein anderer Pflichtverteidiger bestellt werden kann, erscheint nicht sachgerecht…….

Zudem handelt es sich nicht um die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers zu dem Zweck, dass sich die Pflichtverteidiger des Angeklagten pp. in ihrer Teilnahme an den Hauptverhandlungsterminen jeweils vertreten können. Vielmehr dient die Bestellung eines dritten Pflichtverteidigers dazu, zumindest grundsätzlich die Anwesenheit von zwei Pflichtverteidigern zu ermöglichen.“

Pflichtverteidigerbestellung „unterlaufen“ läuft nicht

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Meine Sammlung von Entscheidungen, die eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers als zulässig/möglich ansehen, ist gewachsen, nämlich um den LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 26.06.20152 – Qs 593 Js 275114 (118/15). Der macht – mal wieder – ein Ausnahme, in dem in AG – mal wieder  das Verfahren nach § 154 Ab. 2 StPO eingestellt hat, einen Beiordnungsantrag des Verteidigers – aus welchen Gründen auh immer – aber übersehen hat. Das LG ordnet dann rückwirkend bei:

„Nach Auffassung der Kammer kann die Entscheidung über die Bestellung als Pflichtverteidiger im vorliegenden Fall auch rückwirkend vorgenommen werden.

Die Kammer teilt zwar die Auffassung des Amtsgerichts, wonach grundsätzlich die rückwirkende Bestellung eines Verteidigers unzulässig und damit unwirksam ist, weil die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich ausschließlich zur Wahrung der Belange des Angeklagten erfolgt. Ist das Verfahren abgeschlossen, scheidet eine dem Zweck der Pflichtverteidigung entsprechende Tätigkeit insoweit aus. Eine nachträgliche Bestellung würde somit ausschließlich dem verfahrensfremden Zweck dienen, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch eine notwendige ordnungsgemäße Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten (OLG Düsseldorf, StraFo, 03,94).

Von diesem Grundsatz ist jedoch nach Ansicht der Kammer jedenfalls dann abzuweichen, wenn die gerichtliche Beiordnung vor Verfahrensabschluss beantragt worden war, aber darüber, trotz des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO nicht entschieden wurde (LG Potsdam, StraFo 04,381; LG Hamburg, StV 00,16: 05, 207; ). In einem solchen Fall dient die Beiordnung nämlich nicht dazu, dem Verteidiger nachträglich einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, vielmehr soll verhindert werden, dass sich gerichtsinterne Umstände, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hat, zu Lasten des Angeklagten auswirken.

Im vorliegenden Fall hat die Verteidigerin des Angeklagten bereits am 10.04.2014 für den Beschwerdeführer einen Antrag auf Beiordnung gesteilt, und Verteidigungstätigkeit vorgenommen, indem gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt wurde.

Mit Zustimmungserklärung zur beabsichtigten Einstellung des Verfahrens vom 06.10.2014 mahnte die Verteidigerin eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag an. Es erfolgte anschließend jedoch lediglich die Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO.

Damit liegen Umstände vor, die auch bei einer Annahme einer grundsätzlichen Unzulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung eine solche ausnahmsweise zulässig erscheinen lassen.

Wäre in diesen Fällen eine rückwirkende Bestellung unzulässig, so könnte die erforderliche Bestellung eines Pflichtverteidigers durch Nichtbescheidung eines entsprechenden Antrags unterlaufen werden. Die Beiordnung war daher, auch wenn später das Verfahren gemäß § 154 Abs.2 StPO eingestellt wurde, geboten. Es kommt ausschließlich darauf an, ob die Voraussetzungen der Beiordnung zum Zeitpunkt der Einstellung des Verfahrens vorgelegen haben, nicht entscheidend ist, ob sie später entfallen sind. Der Verfahrensabschnitt, für den die Beiordnung beantragt wurde, war zum Zeitpunkt der Beantragung noch nicht abgeschlossen und die Beiordnung diente keinem verfahrensfremden Zweck (LG Schweinfurth, StraFo 06, 25; LG Saarbrücken, StV 05, 82; LG Berlin, StV 05, 83).“

Pflichtverteidigerbestellung „unterlaufen“ läuft also nicht.

LG Dessau redet Tacheles zur Akteneinsicht im OWi-Verfahren

Das LG Dessau-Rosslau hat im Beschl. v. 24.05.2011 – 6 Qs 101/11 in der Tat deutliche Worte zur Akteneinsicht in die Bedienungsanleitung eines Messgerätes gefunden, die dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger offenbar mit dem Hinweis auf das Urheberrecht des Verfassers der Anleitung verwehrt worden war. Es heißt:

Grundsätzlich kann jeder Betroffene bzw. Angeklagte über seinen Verteidiger Akteneinsicht nehmen, ohne dass das Gesetz hierfür irgendwelche Einschränkungen kennt. Die Annahme, dass die Übersendung Urheberrechte verletze ist abwegig. Selbst wenn solche Urheberrechte bestanden hätten, so sind sie durch den Erwerb auf das Land Sachsen-Anhalt übergegangen. Selbstverständlich ist jede nach dem Zweck des Erwerbes zu erwartende Verwendung des Kaufgegenstandes auch eine berechtigte Nutzung durch den Erwerber. Es ist abstrus anzunehmen, dass das Land Sachsen-Anhalt eine Bedienungsanleitung für ein technisches Gerät erworben hat, wobei diese Bedienungsanleitung nur von einzelnen Polizeibeamten oder nur einer Behörde, dem technischen Polizeiamt, genutzt werden darf. Abstrus ist diese Überlegung auch, weil offensichtlich eine Einsichtnahme innerhalb der Behörde, also eine Kenntnisnahme des angeblich urheberrechtlich geschützten Inhalts für zulässig gehalten wird.

Wann spricht ein Gericht schon mal von „abstrus“? Ist dieser Einwand m.E. aber auch wirklich. Insoweit sind die deutlichen Worte aus Dessau berechtigt. Nach der Entscheidung des LG Ellwangen die zweite LG-Entscheidung zu der Problematik. Sehr schön. 🙂