„1. Die Staatsanwaltschaft wirft der Angeschuldigten vor, am 23.6.2022 gemeinsam mit 66 anderen gesondert verfolgten Personen die Kreuzung Frankfurter Tor/F. Allee im Rahmen einer politischen Demonstration „Öl sparen statt Bohren“ (ausweislich der durch die Zeugen fotografierten Plakate) der Gruppierung „Aufstand der letzten Generation“ blockiert zu haben und dadurch über einen Zeitraum von ca. 3,5 Stunden erhebliche Verkehrsbeeinträchtigungen erzeugt zu haben sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte begangen zu haben: insoweit wirft die Staatsanwaltschaft der Angeschuldigten vor, sich zur Erschwerung der polizeilichen Räumungsmaßnahmen mit der rechten Hand mit Sekundenkleber auf der Fahrbahn festgeklebt zu haben, so dass zunächst ca. 10 Minuten lang der Klebstoff gelöst werden musste, bis es möglich gewesen sei, die Angeschuldigte von der Straße wegzuführen.
2. Soweit der Vorwurf des Widerstandleistens gem. § 113 Abs. 1 StGB erhoben wird, liegt bereits der objektive Tatbestand nicht vor,……..
3. Soweit der Angeschuldigten vorgeworfen wird, sie habe gegenüber den durch die Sitzblockade behinderten Fahrzeugführerenden eine verwerfliche Nötigungshandlung i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB begangen, ist dies den Akten nicht zu entnehmen.
Vorauszuschicken ist, dass jede politische Demonstration lästig ist, aber für den demokratischen Rechtsstaat unerlässlich: Großdemonstrationen legen den Innenstadtverkehr oftmals für halbe Tage lahm, die Anwohner müssen für Stunden verschiedene Belästigungen dulden. Um politischen Demonstrationen strafrechtlich zu begegnen, muss daher festgestellt werden, dass der gesetzliche Rahmen durch Demonstrationsteilnehmer verlassen wurde, namentlich im Falle unfriedlicher Demonstrationen, in denen es zu kollektiven, nicht unerheblichen Gewalthandlungen kommt.
Dass dies hier nicht der Fall war, ist den eindrücklichen Schilderungen mancher Zeugen und von Seiten der Polizei zu entnehmen, die nicht nur keinerlei Gewalttätigkeit beobachteten, sondern im Gegenteil die Friedfertigkeit bzw. Kooperationswilligkeit sämtlicher beteiligter Demonstrationsteilnehmer ausdrücklich hervorheben, …: „Ganz ruhig und überhaupt nicht aggressiv“ und die dienstliche Äußerung …: „Außerdem sind die Personen meist sehr offen mit ihrer Verklebung Aktive Handlungen, die das lösen erschweren, hat bis heute keine der durch mich gelösten Personen unternommen“.
Im Übrigen ist auch im Rahmen von politischen Demonstrationen welche zur Steigerung der (medialen) Aufmerksamkeit auf das Mittel von Blockaden zurückgreifen, der grundrechtliche Schutz der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG eröffnet, weshalb eine umfängliche Güterabwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB zu vollziehen ist, vgl. BVerfG, Beschl.v.7.3.2011:
„Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfGE 104, 92, 104; BVerfGK 11, 102, 108). Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 69, 315, 342 f.; 87, 399, 406). Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (vgl. BVerfGE 73, 206, 248; 87, 399, 406; 104, 92, 103 f.). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. BVerfGE 69, 315, 345).
Der Schutz des Art. 8 GG besteht zudem unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist (vgl. BVerfGE 69, 315, 351; BVerfGK 4, 154, 158; 11, 102, 108). Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (vgl. BVerfGE 73, 206, 250).“
Deshalb sind im Lichte von Art. 8 GG zum Schutz vor übermäßigen Sanktionen seitens des Bundesverfassungsgerichts besondere Anforderungen an die Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel gem. § 240 Abs. 2 StGB aufgestellt worden.
Bei dieser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Zweck-Mittel-Relation sind insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion (a), deren vorherige Bekanntgabe (b), Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten (c), die Dringlichkeit des blockierten Transports (d), aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand (e). Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Strafgericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist (f). Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwirkenden Bezug zum Versammlungsthema haben (vgl. BVerfGE 104, 92, 112).
Die danach vorzunehmende Abwägung ergibt vorliegend, dass die – nicht angemeldete – Protestdemonstration nicht verwerflich i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB ist.
(a) Die von der Blockade betroffenen Zeugen der sog. zweiten Reihe sind – anders als der Strafbefehlsentwurf glauben machen will – nicht während des gesamten polizeilichen Einsatzes von der ersten polizeilichen Anforderung bis zur vollständigen polizeilichen Freigabe der Straße beeinträchtigt worden …, sondern längstens für ca. zwei Stunden, …. Dass über diese Beschränkung der Bewegungsfreiheit für die Fahrer und Fahrerinnen der betroffenen Fahrzeuge hinaus und die – zugegeben sehr lästigen – Folgen, zu Terminen verspätet oder gar nicht erscheinen zu können, besondere Grundrechtseinschränkungen erfolgten, ist nicht ersichtlich. Namentlich, dass ein Zeuge einer „Schulbeförderung nicht nachkommen“ konnte, nämlich eines 18 Jahre alten Schülers, stellt keine den Demonstranten bzw. der Angeschuldigten vorwerfbare Beeinträchtigung des betreffenden Schülers dar, da nicht ersichtlich und auch nicht ausgeführt ist, dass und ggf. weshalb es dem erwachsenen Schüler nicht möglich gewesen sein sollte, auf anderem Wege noch pünktlich zu seiner Schule zu gelangen.
(b) „Blockadeaktionen“ wurden durch die politische Gruppierung „Aufstand der letzten Generation“ medial angekündigt, zwar nicht konkret dahin, wann oder wo genau entsprechende Demonstrationen stattfinden (das wäre allerdings auch nicht zu erwarten, da dann jede mediale Aufmerksamkeit dank gezielter polizeilicher Vorfeldmaßnahmen abhanden käme), allerdings dahin, dass im Stadtgebiet oder auf Autobahnen bzw. an Autobahnabfahrten ab einem bestimmten Zeitpunkt entsprechende Aktionen geplant sind, so dass für Autofahrer grundsätzlich während der angekündigten Zeiten mit entsprechenden Beeinträchtigungen gerechnet werden konnte und musste und ggf. Möglichkeiten des Parkand-Ride oder der öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen waren.
(c) Verkehrsleitende Maßnahmen (Ableitungen und Vorsperren) wurden seitens der Polizei bereits ab 9:04 Uhr vorgenommen, so dass die anfänglich zwischen 850 m und 1,8 km vorgefundenen Rückstauungen alsbald erheblich reduziert werden konnten. Jedenfalls die Fahrzeugführer der sog. zweiten Reihe waren, als sie hinter den ersten Fahrzeugen vor den Demonstranten bremsen mussten, alsbald eingekeilt zwischen weiteren Fahrzeugen und vermochten nicht mehr fortzufahren über einen Zeitraum von ca. 2 Stunden. Dahingehend weisen die Akten acht ermittelte Geschädigte auf. Die Demonstranten selbst hatten nicht für alternative Zufahrtswege gesorgt. Aus Sicht der betroffenen Fahrzeugführer war also jede Alternative in dem Moment, wo sie in dem Stau vor den Demonstranten standen nach Aktenlage abhanden gekommen.
Es handelt sich bei der Örtlichkeit allerdings um einen allgemein bekannten, stark frequentierten Verkehrsbereich, in dem auch ohne politische Aktionen regelmäßig mit Staus zu rechnen ist.
(d) Eine Behinderung notwendigen Verkehrs, namentlich des Verkehrs von Rettungsfahrzeugen war durch die hier maßgebliche Blockade allerdings nicht gegeben. Die dienstliche Äußerung …, führt dazu aus, dass „Fahrzeuge der BOS … unter Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten auf der entgegen gesetzten Richtungsfahrbahn (sofern ein Wechsel auf diese rechtzeitig stattfand) mit Schrittgeschwindigkeit … ein- und durchfahren“ konnten. Auch sonst war, wie den Fotos … zu entnehmen ist, das Umfahren des blockierten Straßenbereichs über die Schienentrasse der BVG für Krankentransporte möglich.
(e) Ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Versammlungsort sowie den Betroffenen der Demonstration mit dem Ziel der Demonstration besteht in gleich zweierlei Hinsicht. Ziel der Demonstration war es, die Aufmerksamkeit auf das dringliche Handeln im Rahmen des Klimawandels zu richten und dahingehend konkret dahin, dass jede Form verschwenderischen Umgangs mit fossilen Brennstoffen zu verringern sei, anstatt weiterhin neue Ölquellen zu explorieren und etwa in der Nordsee oder durch Fracking weitere fossile Brennstoffe zu fördern („Öl sparen statt Bohren“, so die Transparentaufdrucke, zu den Zielen der Demonstrationen und der dahinter stehenden Initiative im Übrigen: https://letztegeneration.de). Diese Thematik betrifft alle Menschen, da es um das Weltklima geht, also auch die durch die Blockade betroffenen Fahrzeugführer, für welche – so gesehen – die Demonstranten mit demonstrieren. Sie betrifft indes gerade auch die durch die Blockade betroffenen Fahrzeugführer insoweit, als diese als Nutzer von PKW maßgeblich an dem Verbrauch von Öl beteiligt und damit Teil der Klimaproblematik sind und nicht – wie von den Demonstranten gefordert – zur Beschleunigung des Erreichens der Klimaziele auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen. Ein konkreter Zusammenhang der Demonstration mit den von der Demonstration Betroffenen liegt mithin positiv wie negativ vor.
(e) Dass das von den Demonstranten angesprochene Thema des Klimawandels und der ökologisch notwendigen Wende im politischen Handeln – denn die Initiative hat die Fortdauer ihrer Demonstrationen bis zu einer Wende des politischen Handelns der Regierung angekündigt – ein dringendes globales Thema ist, ist wissenschaftlich nicht zu bestreiten und wird regelmäßig in entsprechenden internationalen Klimakonferenzen betont und mit an Deutlichkeit kaum zu übertreffenden Worten vom UN-Generalsekretär bestätigt. Dabei ist im Rahmen der hier gebotenen Abwägung nicht von Belang, inwieweit auch das Amtsgericht die Ziele oder das Vorgehen der Demonstranten, namentlich der Angeschuldigten für nützlich oder wertvoll erachtet, um aber das Gewicht aller demonstrationsspezifischen Umstände mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ist auf die objektiv (nicht nur subjektiv aus Sicht der Angeschuldigten und der weiteren Demonstrationsteilnehmer) dringliche Lage bei gleichzeitig nur mäßigem politischem Fortschreiten unter Berücksichtigung namentlich der kommenden Generationen, wie dies auch durch das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich angemahnt werden musste (vgl. BverfG, Beschl.v. 24.3.2021, …), hinsichtlich des Demonstrationsanliegens das Augenmerk zu legen.
Angesichts der die von den Blockaden betroffenen Fahrzeugführer positiv wie negativ und überhaupt die Menschheit dringlich betreffenden Ziele der Demonstrationsteilnehmer und also auch der Angeschuldigten, angesichts der Tatsache, dass dringende Transporte wie namentlich Krankentransporte das Demonstrationsgebiet passieren konnten, angesichts der Tatsache, dass die Demonstration die Betroffenen kaum länger als eine Vielzahl sonstiger (angemeldeter) Demonstrationen im Stadtgebiet beeinträchtigt hat und (mutmaßlich, da von den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht umfasst) angesichts der vorangehenden Ankündigungen weiterer Demonstrationen zumindest einige der betroffenen Fahrzeugführer im Vorfeld auch auf öffentliche Verkehrsmittel hätten umsteigen können, ist das Verhalten der Beschuldigten nicht verwerflich i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB. Die legitime Ausübung von Art. 8 GG seitens der Beschuldigten überwiegt vorliegend bei weitem die nur verhältnismäßig geringfügig eingeschränkten Grundrechtsbelange der durch die Demonstration behinderten Fahrzeugführer.“
Na, das kann man m.E. auch anders sehen – und wird es ja auch. Ich denke, die Frage wird nicht beim AG entschieden, sondern die entscheiden das KG und ggf. sogar irgendwann der BGH und/oder das BVerfG.