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BVerfG II: Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. oder: Anforderungen an Gegenbeweis nach § 418 ZPO

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Die zweite Entscheidung des BVerfG, der BVerfG, Beschl. v. 09.01.2023 – 2 BvR 2697/18 -, befasst sich noch einmal mit der Erforderlichkeit der Erhebung einer Anhörungsrüge vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde und dem Gegenbeweis nach § 418 ZPO.

Das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde verworfen und dabei zu den beiden Punkten wie folgt Stellung genommen:

„Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie mangels erhobener Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO dem Grundsatz der Subsidiarität nicht gerecht wird.

I.

Der in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>). Das kann auch bedeuten, dass Beschwerdeführer zur Wahrung des Subsidiaritätsgebots gehalten sind, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer Anhörungsrüge, anzugreifen. Dies gilt selbst dann, wenn sie im Rahmen der ihnen insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen (vgl. BVerfGE 126, 1 <17 f.>), durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, dass bei Erfolg der Anhörungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen, durch die sie sich beschwert fühlen, beseitigt werden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2005 – 1 BvR 644/05 -, Rn. 10).

Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht allerdings unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 132, 99 <117 Rn. 45>). Zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, in der sich der Beschwerdeführer nicht auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruft, muss er eine Anhörungsrüge oder den sonst gegen eine Gehörsverletzung gegebenen Rechtsbehelf nur dann ergreifen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten ist, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 f. Rn. 28>).

II.

So liegt der Fall hier. Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Landgericht habe unzulässig im Rahmen der – vorgelagerten – Prüfung der ordnungsgemäßen Zustellung die Anforderungen an die Erschütterung der Beweiskraft der Postzustellungsurkunde nach § 418 Abs. 2 ZPO mit dem – die nachgelagerte Frage der Wiedereinsetzung betreffenden – Glaubhaftmachungsmaßstab des § 45 Abs. 2 StPO vermengt und in der Folge seine Beweisangebote unzulässigerweise abgelehnt, hätte es für einen vernünftigen Verfahrensbeteiligten nahegelegen, eine Anhörungsrüge zum Landgericht zu erheben.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Nichtberücksichtigung eines als sachdienlich und erheblich angesehenen Beweisangebots dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfGE 69, 141 <144>; 105, 279 <311>). Auch in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, darf die Nichtberücksichtigung eines Beweisantrags nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, sondern muss eine Stütze im Prozessrecht finden (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. September 2009 – 1 BvR 3501/08 -, juris, Rn. 13). Bei einem Einspruch gegen den Strafbefehl ist vom Gericht zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Einspruchsfrist des § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO gewahrt ist. Dabei ist es von Verfassungs wegen geboten, dass das Gericht sich mit besonderer Sorgfalt die erforderliche Überzeugung vom Beginn der Einspruchsfrist verschafft (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Oktober 2020 – 2 BvR 554/20 -, juris, Rn. 31, 34 m.w.N.).

2. Hiernach liegt eine Gehörsverletzung durch das Landgericht jedenfalls nahe.

Der Beschwerdeführer beruft sich darauf, dass seine Beweisangebote betreffend den Beginn der Einspruchsfrist unter dem Gesichtspunkt der Glaubhaftmachung durch das Landgericht als unstatthaft erachtet worden seien, während tatsächlich gemäß § 418 Abs. 2 ZPO Beweis über den Zustellungszeitpunkt hätte erhoben werden müssen; daher sei das Landgericht unter Verkennung des fachprozessualen Maßstabs davon ausgegangen, dass die Einspruchsfrist am 17. April 2018 in Gang gesetzt worden und der Einspruch vom 9. Mai 2018 somit verfristet gewesen sei. In der Sache macht der Beschwerdeführer also die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots unter eklatantem Verstoß gegen das Prozessrecht geltend. Diese Rüge dürfte zutreffen.

a) Wird ein Strafbefehl nicht ordnungsgemäß zugestellt, wird die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt. Die Frage des Zustellungszeitpunktes ist daher der Frage einer möglichen Verfristung und anschließenden Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist vorgelagert. Bei der Prüfung, ob einem Beschuldigten ein Strafbefehl wirksam zugestellt wurde, sind die Fachgerichte gehalten, den Grundsatz rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung zu beachten. Sie dürfen bei der Anwendung und Auslegung der prozessrechtlichen Vorschriften, die die Gewährung rechtlichen Gehörs sichern sollen, keine überspannten Anforderungen stellen. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – der erste Zugang zu Gericht infrage steht (vgl. BVerfGE 37, 100 <101 f.>; vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 19).

Gemäß § 418 Abs. 1 ZPO begründen öffentliche Urkunden wie die Postzustellungsurkunde zwar vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, also insbesondere den Umstand der Zustellung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings lässt § 418 Abs. 2 ZPO den Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen zu. Dieser Gegenbeweis lässt sich aber nicht durch die bloße Behauptung führen, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben, weil es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen erfordert vielmehr den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs, der damit ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt. Hierfür bedarf es einer substantiierten Darlegung der Umstände, die gegen die Richtigkeit des Inhalts der öffentlichen Urkunde sprechen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2002 – 2 BvR 2017/01 -, Rn. 4; Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 23 m.w.N.). Hinreichend substantiierte Darlegungen können – selbst wenn sie die Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht beseitigen – den Gerichten Anlass bieten, weitere Nachforschungen anzustellen (vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 25; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2002 – 2 BvR 2017/01 -, Rn. 7). Kommt ein Gericht zu dem Ergebnis, dass der volle Beweis für den Zugang eines Schriftstücks mit den vorgelegten Mitteln der Glaubhaftmachung nicht erbracht ist, muss es darauf hinweisen und den Betroffenen Gelegenheit geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen; sodann hat es – auf Antrag oder von Amts wegen – über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZB 39/19 -, juris, Rn. 18 zur fristgerechten Einreichung eines Berufungsschriftsatzes).

b) Dies zugrunde gelegt, liegt es nahe, dass die Rechtsanwendung des Landgerichts keine Stütze im Prozessrecht mehr findet.

Zwar begegnet es keinen Bedenken, dass das Landgericht im Ausgangspunkt angenommen hat, dass mit der Postzustellungsurkunde zunächst der volle Beweis über die Zustellung des Strafbefehls am 17. April 2018 erbracht gewesen sei. Der Beschwerdeführer hatte hierzu jedoch vorgetragen, dass durch eine Vernehmung seines Bruders sowie des Postzustellers die Unrichtigkeit der in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsachen bewiesen werden könne, und eine entsprechende Beweiserhebung beantragt. Mit seinem Tatsachenvortrag zum Ablauf der Zustellung und seinem diesbezüglichen Beweisangebot hat der Beschwerdeführer die Frage nach der Erschütterung der Postzustellungsurkunde und dem darin bezeugten Zustellzeitpunkt aufgeworfen. Nach den unter a) ausgeführten Maßstäben wäre diesem Tatsachenvortrag gemäß § 418 Abs. 2 ZPO im Rahmen der Frage, wann dem Beschwerdeführer der Strafbefehl zugegangen ist, weiter nachzugehen beziehungsweise hierüber Beweis zu erheben gewesen, sofern dieser Vortrag hinreichend substantiiert und das angebotene Beweismittel erheblich war; insbesondere gilt insoweit keine Beschränkung auf präsente Beweismittel.

Der Umstand, dass das Landgericht als Zeitpunkt für die Zustellung des Strafbefehls und damit für den Fristbeginn ohne gesonderte Begründung den 17. April 2018 feststellt, legt nahe, dass das Landgericht den dargestellten Prüfungsmaßstab verkannt hat. Stattdessen prüft es das Vorbringen des Beschwerdeführers ausschließlich als Wiedereinsetzungsantrag am Maßstab des § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO; lediglich im Rahmen dieser Prüfung kommt es auf § 418 Abs. 2 ZPO zu sprechen. Nach seiner Auffassung habe der Beschwerdeführer den vollen Gegenbeweis nicht erbracht, da es an einem geeigneten Mittel der Glaubhaftmachung fehle. Es sei nicht Sache des Gerichts, von sich aus Zeugen zu vernehmen oder vernehmen zu lassen. Wie ausgeführt, ist der Beschwerdeführer hinsichtlich des Gegenbeweises zum in der Postzustellungsurkunde genannten Zustellzeitpunkt jedoch nicht auf präsente Beweismittel beschränkt. Sofern der Tatsachenvortrag hinreichend substantiiert und erheblich ist, hat das Gericht dem Beweisangebot nachzugehen.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf der naheliegenden Verletzung des Prozessgrundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 86, 133 <147>; 89, 381 <392>; 92, 158 <184 f.>). Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht, sofern es den zutreffenden prozessrechtlichen Maßstab zugrunde gelegt hätte, das Vorbringen des Beschwerdeführers als hinreichend substantiiert und erheblich berücksichtigt und eine Vernehmung seines Bruders durchgeführt hätte.“

Zustellung I: Beweiskraft der Zustellungsurkunde, oder: Gegenbeweis

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In die 50 KW. starte ich heute mit zwei AG-Entscheidungen zur Zustellungsfragen.

Den Opener mache ich mit dem AG Neuruppin, Beschl. v. 24.11.2020 – 82.1 E OWI 178/20 -, den mir der Kollege Uschkureit aus Berlin geschickt hatte. Das AG Neuruppin äußert sich zur Wirksamkeit einer Ersatzzustellung.

Das AG geht von folgendem Sachverhalt aus:

Die Zentrale Bußgeldstelle des Landes Brandenburg erließ am 03.09.2020 gegen den Betroffenen einen Bußgeldbescheid, mit welchem sie wegen einer Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit auf der Bundsautobahn 24, Höhe AD Wittstock/Dosse in Fahrtrichtung Hamburg ein Bußgeld i. H. v. 220,00 Euro verhängte. Der Bußgeldbescheid wurde in einen zur Adresse pp. 15806 Zossen“ gehörenden Briefkasten eingeworfen. Die Zustellungsurkunde datiert auf den 07.09.2020.

Mit Schreiben vorn 06.10.2020 legte der Betroffene Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und teilte der Bußgeldstelle den verantwortlichen Fahrer mit. Zur Begründung seiner verspäteten Rückmeldung führte er aus, dass an ihn gerichtete Post trotz der Einrichtung eines Postfachs in Zossen wiederholt unter der Anschrift pp. zugestellt würde, wenngleich ein Briefkasten mit seinem Namen dort nicht existiere. Der Verteidiger des Betroffenen legte mit Schriftsatz vom 07.10.2020 Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Darin führte er aus, dass der Betroffene unter der Anschrift pp. einen KFZ-Zulassungsdienst betreibe, allerdings keinen Briefkasten unterhalte, sondern ein Postfach eingerichtet habe, um die in der Vergangenheit bereits mehrfach fehlgeschlagene Zustellung der für den Betrieb bestimmten Post zu gewährleisten. Kenntnis vom Bußgeldbescheid habe sein Mandant durch die telefonische Benachrichtigung eines dort ansässigen Reifenhändlers, Herrn pp., erhalten, der unter seiner Post auch den an den Betroffenen gerichteten Bußgeldbescheid gefunden habe. Zur Glaubhaftmachung seines Vorbringens überreichte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 13.10.2020 eine Kopie des Schreibens des Kundenservice der Deutschen Post, mit welchem dieser die Einrichtung des Postfachs bestätigte, sowie eine eidesstattliche Versicherung des Zeugen pp, der in Kenntnis der Strafbarkeit der Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung bestätigte, am 06.10.2020 in seiner Post zwei, in gelben Briefumschlägen befindliche Schreiben der Zentralen Bußgeldstelle des Landes Brandenburg gefunden zu haben, unter denen sich auch der hier gegenständliche Bußgeldbescheid befand.

Mit Bescheid vorn 15.10.2020 hat die Bußgeldstelle den Einspruch des Betroffenen und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig, weil verfristet verworfen. Laut Auskunft des Postzustellers sei der Briefkasten am Tag der Zustellung mit dem Namen des Betroffenen beschriftet gewesen. Der Verwerfungsbescheid wurde dem Betroffenen am 17.10.2020 zugestellt.

Hiergegen hat der Verteidiger des Betroffenen mit Schriftsatz vom 20.10.2020, eingegangen bei der Behörde am selben Tag, Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt mit dem Inhalt, dass das Gericht die Rechtzeitigkeit des Einspruchs feststellen, hilfsweise dem Betroffenen hinsichtlich der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren möge. Zur Begründung führt der Verteidiger aus, der Einspruch habe dem Betroffenen unter der in der Zustellungsurkunde angegebenen Anschrift nicht wirksam zugestellt werden können, da er dort lediglich seinen Geschäfts-, nicht hingegen seinen Wohnsitz unterhalten habe. Gemeldet sei er ausweislich der Meldeauskunft seit dem 01.08.2019 unter der Anschrift pp. 12529 Schönefeld“. Eine Ersatzzustellung durch Einwurf in den Briefkasten sei von vornherein unter der Geschäftsanschrift nicht möglich gewesen, weil sich jedenfalls ein (vorrangiger) Versuch der persönlichen Zustellung aus der Zustellungsurkunde nicht ergebe. Zudem sei diese auch deshalb nicht möglich gewesen, da sich bereits zum Zeitpunkt des Zustellungsversuchs der Name des vom Betroffenen unterhaltenen Zulassungsbetriebs nicht mehr am Briefkasten befunden habe.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte Erfolg:

„….. Eine wirksame Ersatzzustellung des Bußgeldbescheids am 07.09.2020, die die Einspruchsfrist hätte in Gang setzen können, ist nicht erfolgt.

Die Zustellungsurkunde, deren Beweiskraft sich gemäß § 182 Abs. 2 Nr. 4 ZPO im Falle der Ersatzzustellung durch Einlegung i.S.v. § 180 ZPO auch und gerade darauf erstreckt, dass die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 (oder Nr. 2) ZPO nicht ausführbar gewesen ist, der Zusteller also unter der ihm angegebenen Anschrift weder den Adressaten persönlich noch eine zur Entgegennahme einer (vorrangigen) Ersatzzustellung in Betracht kommende Person angetroffen und daher das Schriftstück in einen zu der Wohnung (oder dem Geschäftsraum) gehörenden Briefkasten (oder in eine ähnliche Vorrichtung) eingelegt hat (Zöller/Stöber ZPO 28. Aufl. § 182 Rn. 8, 14), wurde durch das Vorbringen des Betroffenen entkräftet. Es kann dabei offenbleiben, ob der Zustellungsurkunde aufgrund der Lückenhaftigkeit überhaupt die im Normalfall von ihr ausgehende volle Beweiskraft zukommt. Denn der Betroffene hat zur Überzeugung des Gerichts den Gegenbeweis über die Unrichtigkeit der in ihr bezeugten Tatsachen erbracht und die Beweiswirkung der Zustellungsurkunde vollständig entkräftet.

Zum einen handelt es sich gerade nicht — wie in der Postzustellungsurkunde angekreuzt — um die Wohnung des Betroffenen. Die beurkundete Tatsache ist objektiv falsch. Dass sich unter der Anschrift pp. kein Wohnhaus, sondern ein Gelände mit Gewerbebetrieben befindet, ist offensichtlich und hätte auch dem Zusteller nicht verborgen bleiben können. Zudem war der Betroffene nachweislich unter einer anderen Anschrift gemeldet, so dass es für die Behörde mit zumutbarem Aufwand möglich gewesen wäre, die Zustellung bzw. die Ersatzzustellung unter der tatsächlichen Wohnanschrift zu bewirken. Die ersatzweise Zustellung eines Bußgeldbescheides in den zur Wohnung eines Betroffenen gehörenden Briefkasten ist nur wirksam, wenn der Adressat unter der Zustellungsadresse auch tatsächlich wohnt, d.h. dort seinen räumlichen Lebensmittelpunkt hat. Dies war hier gerade nicht der Fall.

Zum anderen hat der Betroffene glaubhaft und plausibel dargestellt, dass eine Ersatzzustellung schon deshalb nicht möglich gewesen ist, weil sein Name sich zum Zeitpunkt des Zustellungsversuchs nicht mehr am Briefkasten befunden habe. Deshalb geht das Gericht davon aus, dass ein vorheriger Versuch der persönlichen Übergabe — der auch erst auf Nachfrage bestätigt und zunächst in der Urkunde nicht angekreuzt wurde — nicht stattgefunden hat, sondern der Bußgeldbescheid vielmehr in einen anderen Briefkasten, nämlich den des Herrn Abe geworfen wurde. Die in seiner eidesstattlichen Versicherung dargelegten Umstände sind plausibel und glaubhaft, insbesondere die Ausführungen dahingehend, dass es sich um zwei verschiedene Bußgelbescheide gehandelt habe.

Da der Bußgeldbescheid dem Betroffenen erst am 06.10.2020 tatsächlich zur Kenntnis gelangt ist, ist der mit selben Tag erfolgte, am 08.10.2020 bei der Zentralen Bußgeldstelle eingegangene Einspruch noch rechtzeitig erfolgt. Der vom Verteidiger gestellte Hauptantrag ist begründet, einer Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag bedurfte es daher nicht.“

Eingangsstempel als öffentliche Urkunde, oder: Gegenbeweis auch durch Zeugenvernehmung

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Und als zweite Entscheidung dann eine weitere Entscheidung des BGH, und zwar der BGH, Beschl. v. 28.01.2020 – VIII ZB 39/19. Der BGH hat in diesem Beschluss zu einer Berufungsverwerfung – im Zivilverfahren durch das LG Bamberg Stellung genommen.

In dem Verfahren ging es um die Herausgabe einer Mietwohnung in Anspruch. Die Klage hatte vor dem AG Erfolg gehabt. Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 18.01.2019 zugestellte Urteil des AG hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 18.02.2019 Berufung eingelegt. Dieser Schriftsatz trägt den Eingangsstempel „Nachtbriefkasten“ und das Datum „19. Feb. 2019“.

Nach Mitteilung des Eingangsdatums hat der Beklagtenvertreter vorgetragen, er habe die Rechtsmittelschrift am 18.02.2019 gegen 20.05 Uhr persönlich in den Nachtbriefkasten des LG eingeworfen, und um entsprechende Korrektur des Eingangsdatums gebeten.

Das Berufungsgericht hat daraufhin eine Stellungnahme von zwei Mitarbeitern der Posteingangsstelle eingeholt. Diese haben angegeben, am Tag der Leerung des Nachtbriefkastens – 20.02.2019 – habe sich nur im Fach „Vortag“ ein Briefeingang befunden, der dementsprechend mit dem Nachtbriefkastenstempel sowie dem Datumsstempel 19.02.2019 versehen worden sei. Sie haben weiter Angaben zur Funktionsfähigkeit des Nachtbriefkastens gemacht.

Auf den Hinweis des LG die Berufung mangels fristgerechten Eingangs unzulässig sei, hat der Beklagte unter Beifügung einer eidesstattlichen Versicherung seines Prozessbevollmächtigten beantragt, ihm für eine etwaige Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der beiden Mitarbeiter der Posteingangsstelle zur Stempelung der Eingangspost sowie zu den Leerungen des Nachtbriefkastens am 19. und 20.02.2019 hat das Berufungsgericht mit Beschluss vom 02.05.2019 die Berufung des Beklagten sowie dessen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die Berufungsfrist verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Die Berufung sei unzulässig. Der Nachweis fristgerechten Eingangs der Berufungsschrift bis zum 18.02.2019 sei nicht erbracht, was sich zum Nachteil des beweisbelasteten Beklagten auswirke. Eine Glaubhaftmachung fristgerechten Eingangs genüge nicht. Wäre der Berufungsschriftsatz, wie der Beklagtenvertreter angegeben habe, bereits am 18.02.2019 eingegangen, wäre er bereits bei der Posteingangskontrolle am Morgen des 19.02.2019 erfasst worden. Erfassungsfehler könnten ausgeschlossen werden. Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Stellungnahme beider Wachtmeister bestünden nicht. Andererseits habe die Kammer auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte an der anwaltlich versicherten Darstellung des Beklagtenvertreters, er habe die Berufungsschrift bereits am Abend des 18.02.2019 in den Nachtbriefkasten eingeworfen, zu zweifeln. Nach freibeweislicher Aufklärung bleibe daher offen, ob die Berufungsfrist gewahrt worden sei, was sich zum Nachteil der Beklagtenseite auswirke.

Der Wiedereinsetzungsantrag sei unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Der Beklagte habe schon keinen Wiedereinsetzungsgrund dargetan, da er auch zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags an seiner Darstellung festhalte, die Berufungsschrift sei vor Fristablauf in den Nachtbriefkasten eingeworfen worden. Der Antrag sei auch unbegründet, da durchgreifende Gründe für ein schuldloses Versäumen der Berufungsfrist weder dargelegt noch glaubhaft gemacht seien.

Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwerde, die beim BGh Erfolg hatte:

„2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Mit der gegebenen Begründung hätte das Berufungsgericht nicht von einer Versäumung der Berufungsfrist (§ 517 ZPO) ausgehen dürfen. Es hat fehlerhaft den Nachweis des rechtzeitigen Eingangs der Berufung als nicht geführt angesehen, ohne zuvor die gebotenen weiteren Maßnahmen zur Aufklärung ergriffen zu haben.

a) Im Rahmen der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung der Zulässigkeit der Berufung (§ 522 Abs. 1 ZPO) hat das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass der Beklagte als Berufungsführer den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift zu beweisen hat (vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 1994 – VIII ZR 153/93, NJW 1995, 665 unter II 3; Senatsbeschluss vom 8. Oktober 2013 – VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 10; jeweils mwN). Dabei erbringt gemäß § 418 Abs. 1 ZPO der gerichtliche Eingangsstempel den vollen Beweis für einen erst an diesem Tag erfolgten – und damit vorliegend verspäteten – Eingang der Berufungsschrift.

Dieser Beweis kann jedoch gemäß § 418 Abs. 2 ZPO durch Gegenbeweis entkräftet werden. Dabei genügt die bloße Glaubhaftmachung im Sinne des § 294 Abs. 1 ZPO nicht. Obgleich wegen der Beweisnot des Beklagten hinsichtlich gerichtsinterner Vorgänge die Anforderungen an diesen Gegenbeweis nicht überspannt werden dürfen, erfordert er die volle Überzeugung des Gerichts (§ 286 Abs. 1 ZPO) vom rechtzeitigen Eingang (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2000 – IX ZR 251/99, NJW 2000, 1872 unter II 1 a). Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie in das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (vgl. BGH, Urteile vom 30. März 2000 – IX ZR 251/99, aaO unter II 1 b; vom 2. November 2006 – III ZR 10/06, NJW 2007, 603 Rn. 5; vom 31. Mai 2017 – VIII ZR 224/16, NJW 2017, 2285 Rn. 20; Beschluss vom 27. November 1996 – XII ZB 177/96, NJW 1997, 1312 unter II 1).

b) Dieser Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung ist das Berufungsgericht zwar insofern nachgekommen, als es zwei Stellungnahmen der mit der Bearbeitung des Posteingangs bei Gericht betrauten Bediensteten eingeholt hat, welche – was vorliegend angesichts des konkreten Beklagtenvortrags geboten war – detailliert (vgl. hierzu Senatsurteil vom 31. Mai 2017 – VIII ZR 224/16, aaO Rn. 21 ff.) die Bearbeitung geschildert haben.

c) Es hat jedoch verfahrensfehlerhaft unterlassen, den Sachverhalt durch Vernehmung des Prozessbevollmächtigten des Beklagten als Zeugen weiter aufzuklären.

Das Berufungsgericht hat zwar auch die eidesstattlich versicherte Darstellung des Beklagtenvertreters, wonach er die Berufungsschrift bereits am Abend des 18. Februar 2019 in den Nachtbriefkasten eingeworfen habe, berücksichtigt und an deren Richtigkeit nicht gezweifelt. Es hätte jedoch die Wahrung der Berufungsfrist nicht als „offen“ ansehen und sich damit zum Nachteil des (beweisbelasteten) Beklagten auswirkend behandeln dürfen, ohne den (angebotenen) Zeugenbeweis zu erheben.

aa) Kommt das Berufungsgericht – wie vorliegend – zu dem Ergebnis, dass die vorgelegte eidesstattliche Versicherung als bloßes Mittel der Glaubhaftmachung einen vollen Beweis für die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung nicht erbringt, muss es die Parteien darauf hinweisen und ihnen Gelegenheit geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen. Sodann hat es – auf Antrag der Partei oder von Amts wegen – über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Januar 2007 – VIII ZB 75/06, NJW 2007, 1457 Rn. 11; vom 14. Juni 2005 – VI ZB 10/05, juris Rn. 9; vgl. zur entsprechenden Pflicht, wenn das Gericht einer eidesstattlichen Versicherung im Verfahren der Wiedereinsetzung keinen Glauben schenken will: BGH, Beschlüsse vom 30. März 2017 – III ZB 43/16, juris Rn. 13; vom 24. Februar 2010 – XII ZB 129/09, FamRZ 2010, 726 Rn. 10 f.).

bb) Der Beklagte hat vorliegend zum Beweis seiner detaillierten Behauptung, die Berufungsschrift sei durch seinen Prozessbevollmächtigten bereits am 18. Februar 2019 und somit fristwahrend in den Nachtbriefkasten des Gerichts eingeworfen worden, neben der Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung – in welcher ohnehin regelmäßig der Antrag zu sehen ist, denjenigen, der die eidesstattliche Versicherung abgegeben hat, als Zeugen zu vernehmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Januar 2011 – VIII ZB 45/10, WuM 2011, 176 Rn. 9; vom 22. November 2017 – VII ZB 67/15, FamRZ 2018, 281 Rn. 18) – ausdrücklich die Vernehmung seines Prozessbevollmächtigten als Zeugen beantragt. Diesen Beweis musste das Berufungsgericht erheben, da die Annahme, der Nachweis des rechtzeitigen Eingangs der Berufung sei nicht geführt, ohne vorherige Vernehmung des Zeugen auf eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung hinausläuft (vgl. BGH, Beschluss vom 22. November 2017 – VII ZB 67/15, aaO, mwN).“

Und für das weitere Verfahren gibt der BGH dem LG Folgendes mit auf den Weg:

„Falls das Berufungsgericht nach Durchführung der Beweisaufnahme nach wie vor nicht die volle richterliche Überzeugung zu gewinnen vermag, dass die Berufung entgegen dem Eingangsstempel rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen ist, wird es den (hilfsweise gestellten) Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten zu prüfen haben.

1. Dieser ist – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – zulässig. Insbesondere hat der Beklagte einen Wiedereinsetzungsgrund dargetan (§ 236 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 ZPO).

Es ist dabei, worauf die Rechtsbeschwerde zutreffend verweist, unschädlich, dass der Beklagte in erster Linie die Einhaltung der Berufungsfrist behauptet und zur Begründung seines Wiedereinsetzungsgesuchs folgerichtig an seiner Darstellung festhält, die Berufungsschrift rechtzeitig in den Nachtbriefkasten eingeworfen und damit die Frist gewahrt zu haben. Denn es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass eine Partei die Rechtzeitigkeit ihrer Prozesshandlung behaupten und zugleich für den Fall, dass sie zur Beweisführung nicht in der Lage ist, Wiedereinsetzung beantragen kann (vgl. BGH, Urteil vom 2. November 2006 – III ZR 10/06, aaO Rn. 6; Beschlüsse vom 27. November 1996 – XII ZB 177/96, aaO unter II 2 a; vom 16. März 2000 – VII ZB 36/99, NJW 2000, 2280 unter II 2).

2. Das Berufungsgericht wird daher – wenn es den Gegenbeweis nach § 418 Abs. 2 ZPO nicht als geführt ansieht – im Rahmen der Begründetheit des Wiedereinsetzungsantrags zu beurteilen haben, ob nicht wenigstens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der Prozessbevollmächtigte des Beklagten die Berufung noch am 18. Februar 2019 in den Nachtbriefkasten eingeworfen hat und damit ein fehlendes Verschulden an der Fristversäumnis glaubhaft gemacht worden ist (vgl. Senatsurteil vom 31. Mai 2017 – VIII ZR 224/16, aaO Rn. 32 mwN). Hierbei wird es die insoweit eingeschränkten Möglichkeiten der Partei zur Glaubhaftmachung in Fällen wie dem vorliegenden, bei welchem der Einwurf in den Nachtbriefkasten den letzten, noch ihrer Wahrnehmung zugänglichen Übermittlungsakt darstellt, zu beachten haben (vgl. BGH, Urteil vom 14. Oktober 2004 – VII ZR 33/04, NJW-RR 2005, 75 unter II 4; Senatsbeschluss vom 11. Juli 2017 – VIII ZB 20/17, juris Rn. 11 mwN [zum Postversand]).“

Kann ja auch im Straf- und Bußgeldverfahren von Bedeutung werden/sein, wenn ein Verschulden dem Angeklagten/Betroffenen ggf. zugerechnet wird.

Man muss nicht beweisen/erklären, was man nicht beweisen/erklären kann

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Das in einem Zivilverfahren ergangene BGH, Urt. v. 17.02.2012 – V ZR 254/10 – lohnt auch einen Hinweis für das Strafverfahren, da es eine Zustellungs-/Fristversäumnisproblematik zum Inhalt hat, die auch im Straf-/Bußgeldverfahren auftreten kann.

Zum Sachverhalt. Die Beklagte legt Berufung ein. Ablauf der Berufungsbegründungsfrist ist am 13. 07.2010. Am Morgen des 14.07.2010 wird die Berufungsbegründung in dem Nachtbriefkasten des OLG vorgefunden und erhält, weil sie sichnach Darstellung des zuständigen Wachtmeisters hinter der um Mitternacht fallenden Klappe befand, den Eingangsstempel 14.07. 2010. Der zweitinstanzliche Prozessbevollmächtigte der Beklagten behauptet hingegen, die Berufungsbegründung vor Mitternacht in den Nachtbriefkasten eingeworfen zu haben. Er habe sich in seiner – unstreitig etwa 5 Gehminuten von dem OLG gelegenen – Kanzlei noch um 23:15 Uhr mit seinem Kollegen darüber unterhalten, dass er die Berufungsbegründung nun ausdrucken und einreichen wolle. Der Ausdruck der Statistik der Anwaltssoftware zeige, dass die Endversion der Berufungsbegründung gegen 23:30 Uhr ausgedruckt worden sei. Sodann sei er zum OLG gegangen und habe den Schriftsatz eingeworfen. Kurz nach dem Einwurf habe die Uhr seines Mobiltelefons 23:52 oder 23:53 Uhr gezeigt. Er habe dann den Entschluss gefasst, seine Geldkarte aufzuladen, was ausweislich des Kontoausdrucks um 0:02 Uhr erfolgt sei. Die Wegstrecke vom OLG zur Bank könne nicht in zwei Minuten zurückgelegt werden. Das OLG hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Bevollmächtigten der Beklagten und des für die Leerung des Nachtbriefkastens zuständigen Wachtmeisters. Ferner hat der Berichterstatter die Funktionsfähigkeit der Klappe überprüft, indem er die Uhr auf 23:57 Uhr vorstellen ließ und beobachtete, dass die Klappe um 0:00 Uhr fiel. Das OLG hat die Berufung durch Urteil als unzulässig verworfen.

Der BGH hat auf die Revision hin aufgehoben und das wie folgt begründet:

„…2. Unzutreffend ist jedoch die Annahme des Berufungsgerichts, das Fehlen einer plausiblen Erklärung, wie der Eingangsstempel vom 14. Juli 2010 auf die Berufungsbegründung gelangt sei, gehe infolge bestehender Beweislast zu Lasten der Beklagten. Dies verkennt, welchen Beweis die Beklagten zu erbringen haben.

a) Der Eingangsstempel beweist, dass das Schriftstück zu einem bestimmten Zeitpunkt bei Gericht eingegangen ist (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2000 – IX ZR 251/99, NJW 2000, 1872, 1873). Der nach § 418 Abs. 2 ZPO zu führende Gegenbeweis geht folglich dahin, dass das Schriftstück zu einem an-deren Zeitpunkt in den Herrschaftsbereich des Gerichts gelangt ist. Diesen Beweis haben die Beklagten erbracht, wenn die Darstellung ihres Bevollmächtigten, er habe die Berufungsbegründung um 23:52 oder 23:53 Uhr in den Nachtbriefkasten eingelegt, wie von dem Berufungsgericht angenommen, in den Details plausibel und widerspruchsfrei ist und konkrete Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Bevollmächtigten nicht bestehen.

b) Nicht beweisen müssen die Beklagten hingegen, wie es trotz rechtzeitigen Einwurfs der Berufungsbegründung dazu gekommen ist, dass diese den Eingangsstempel des Folgetages trägt. Dass eine ernstlich in Betracht zu ziehende Erklärung hierfür fehlt, führt deshalb nicht dazu, dass der von ihnen zu erbringende Beweis misslungen ist. Bedeutung gewinnt dieser Aspekt nur im Rahmen der Beweiswürdigung. Erscheint ein Fehler im Verantwortungsbereich des Gerichts als unwahrscheinlich, kann dies im Einzelfall die Glaubhaftigkeit einer Aussage des Inhalts in Zweifel ziehen, ein Schriftsatz sei rechtzeitig in den Gerichtsbriefkasten eingelegt worden, und damit zur Folge haben, dass sich das Gericht nicht die erforderliche Überzeugung von deren Richtigkeit verschaffen kann. Auf Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage des Bevoll-mächtigten der Beklagten oder an dessen Glaubwürdigkeit ist das Berufungsur-teil jedoch nicht gestützt worden.“

Also: Man muss nicht beweisen/erklären, was man nicht beweisen/erklären kann. Oder – so der Leitsatz des BGH:

Steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass ein Schriftstück zu einem anderen Zeitpunkt als aus dem Eingangstempel ersichtlich bei Gericht eingegangen ist, ist der Beweis der Unrichtigkeit des Eingangsstempels auch dann erbracht, wenn unerklärlich bleibt, wie dieser auf den Schriftsatz gelangt ist.