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Verkehrsunfall mit Rettungswagen auf Blaulichtfahrt, oder: Einfahren in Kreuzung bei Rot versus Bremsen

Bild von Ingo Kramarek auf Pixabay

Im zweiten Posting zum Verkehrszivilrecht stelle ich dann den OLG Schleswig, Beschl. v. 18.11.2024 – 7 U 66/24 – vor. Er befasst sich u.a. mit der Haftungsverteilung bei einem Verkehrsunfall zwischen einem Rettungswagen auf „Blaulichtfahrt“, der bei Rotlicht in eine Kreuzung einfährt, und einem PKW, der vor dem Rettungswagen abbiegt und dann abrupt abgebremst wird.

Der Unfall ereignete sich gegen 16:55 Uhr bei Dunkelheit im Bereich der Kreuzung X-Straße und B in X. Beteiligt waren der im Notfalleinsatz befindliche Rettungswagen der Klägerin, der vom Zeugen M geführt wurde (RTW), und der von der Beklagten zu 1) geführte bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte PKW, deren Halterin ebenfalls die Beklagte zu 1) ist.

Der Unfall ereignete sich wie folgt: Die Beklagte zu 1) befuhr die X-Straße aus Süden kommend und beabsichtigte nach links auf die B abzubiegen. Sie fuhr bei grüner Ampel auf der Linksabbiegerspur in die Kreuzung ein und verzögerte ihr Fahrzeug sodann wieder. Unklar ist, weshalb sie abbremste und ob sie ihr Fahrzeug in dieser Situation zum Stillstand brachte. Von rechts näherte sich auf der B aus östlicher Richtung der RTW, der mit eingeschaltetem Blaulicht und Einsatzhorn unter Befahren der dortigen Linksabbiegerspur mit ca. 30-35 km/h in die Kreuzung einfuhr. Der Zeuge M wollte zunächst rechts am PKW der Beklagten zu 1) vorbeifahren. Die Beklagte zu 1) setzte allerdings ihren Abbiegevorgang auf die B in fort, als der RTW allenfalls noch 10 m entfernt war. Die Fahrzeuge befanden sich nun hintereinander in gleicher Fahrtrichtung. Einige Meter weiter, im äußerst westlichen Kreuzungsbereich, bremste die Beklagte zu 1) ihr Fahrzeug plötzlich bis zum Stillstand ab und der RTW fuhr leicht nach rechts versetzt von hinten auf.

Das LG ist von einer Mithaftungsquote der Beklagten von 70 % ausgegangen. Der Unfall sei für beide Seiten nicht unvermeidbar gewesen. Nach den getroffenen Feststellungen hätte die Beklagte zu 1) das seit mindestens 10 Sekunden vor Einfahrt des RTW in die Kreuzung eingeschaltete Martinshorn hören müssen. Der RTW sei mit 30-35 km/h gefahren. Ob die Beklagte zu 1) ihren PKW im Kreuzungsbereich bis zum Stillstand abgebremst habe, stehe nicht sicher fest. Die Beklagte sei sodann allenfalls 10 m vor dem RTW abgebogen und habe anschließend plötzlich abgebremst. Die Beklagte zu 1) habe gegen § 38 Abs. 1 S. 2 sowie § 4 Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen. Der Klägerin sei ein Verstoß des Zeugen M gegen § 35 Abs. 8 StVO anzulasten, wonach die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden dürften. Aufgrund des Fahrverhaltens der Beklagten zu 1), die zunächst entgegen § 38 Abs. Abs. 1 S. 2 StVO in den Kreuzungsbereich eingefahren sei, dort kurz verzögert und sodann ihren Abbiegevorgang unmittelbar vor dem RTW fortgesetzt habe, habe eine unklare Verkehrslage bestanden, in der er seine Geschwindigkeit auf Schrittgeschwindigkeit hätte reduzieren müssen. In Anwendung des § 17 Abs. 2 StVG hafteten die Beklagten deshalb zu 70 % und die Klägerin zu 30 %; der Unfall sei überwiegend auf die Verstöße des Beklagten zu 1) zurückzuführen, wobei zulasten der Klägerin auch die erhöhte Betriebsgefahr durch die Inanspruchnahme von Sonderrechten zu berücksichtigen sei. Hiergegen wenden sich die Klägerin mit ihrer Berufung und die Beklagten mit ihrer Anschlussberufung.

Das OLG hat die Parteien in seinem Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung keinen Erfolg habe. Es führt zur Abwägung des LG aus:

„2. Die vom Landgericht vorgenommene Abwägung gemäß § 17 Abs. 2 StVG ist ebenfalls nicht zu beanstanden und findet jedenfalls im Ergebnis die Billigung des Senats. Dabei ist zu differenzieren zwischen dem Einfahren der Beklagten zu 1) in die Kreuzung, ihrem Abbremsen auf der Kreuzung und schließlich ihrem erneuten abrupten Abbremsen unmittelbar nach dem Abbiegen.

a) Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dabei eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5). Die jeweils ausschließlich unstreitigen oder nachgewiesenen Tatbeiträge müssen sich zudem auf den Unfall ausgewirkt haben. Der Beweis obliegt demjenigen, welcher sich auf einen in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkt beruft (BGH, Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, NZV 1996, 231, 232; OLG Dresden, Urteil vom 25.02.2020, 4 U 1914/19, Juris Rn. 4 m.w.N.).

b) Zu Recht hat das Landgericht einen Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO dadurch angenommen, dass sie überhaupt in den Kreuzungsbereich eingefahren ist, anstatt „sofort freie Bahn“ zu schaffen und stehenzubleiben. Denn sie hätte den RTW, der nach den getroffenen Feststellungen durchgehend das Blaulicht und mehr als 10 Sekunden lang das Einsatzhorn aktiviert hatte, wahrnehmen müssen. Es ist nach den Umständen nicht nachvollziehbar, wie sie das Einsatzfahrzeug nicht rechtzeitig wahrgenommen haben will. Akustische oder visuelle Einschränkungen bestanden offenbar nicht. Der Verstoß gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO perpetuiert sich im Fortsetzen des Abbiegemanövers nach einer kurzen Verzögerung (ggf. bis zum Stillstand). Bis zu dieser Fortsetzung des Abbiegemanövers der Beklagten zu 1) stellt es auch keinen Verstoß des Zeugen M gegen § 35 Abs. 8 StVO dar, dass er die Geschwindigkeit des RTW von 30-35 km/h nicht auf Schrittgeschwindigkeit reduziert hat. Denn bis hierhin lag keine unübersichtliche Situation vor. Die erkennbare Verzögerung des PKW in der Mitte der Kreuzung konnte er als Zeichen werten, dass die Beklagte zu 1) den RTW wahrgenommen hat und ihn passieren lassen würde. Bei fehlendem Verkehr von rechts (aus Sicht der Beklagten zu 1) also Gegenverkehr) – was unstreitig ist -, war die Verzögerung des PKW nicht aus Rücksicht hierauf zu verstehen. Und auch der vom Zeugen M angegebene Fußgänger auf der anderen Seite der B war kein Grund, die Geschwindigkeit des RTW erheblich zu reduzieren, denn der Zeuge M durfte annehmen, dass der Fußgänger angesichts des unübersehbaren Einsatzfahrzeugs ohnehin stehen bleiben würde, so dass auch der PKW keinen Anlass hatte, allein deshalb zu warten. Zumal die Beklagte zu 1) den Fußgänger nach eigenem Bekunden nicht wahrgenommen hatte.

c) Die Situation änderte sich allerdings grundlegend, nachdem die Beklagte zu 1) mit ihrem PKW unter (fortgesetztem) Verstoß gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVG ihre Fahrt nebst Abbiegevorgang fortsetzte und hierbei sich nur einige Meter – nach den Feststellungen des Landgerichts allenfalls 10 m – vor den RTW fuhr. Dadurch musste dem Zeugen M klar werden, dass die Beklagte zu 1) den RTW trotz aller Licht- und Schallsignale und entgegen ihrem zuvor gesetzten Anschein durch die Verzögerung ihres Fahrzeugs auf der Kreuzung offenbar noch nicht wahrgenommen hatte. Spätestens in dieser Situation wäre es nach § 35 Abs. 8 StVO geboten gewesen, die Geschwindigkeit erheblich herabzusetzen (Anpassung gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 StVO), einen ausreichenden Abstand einzuhalten bzw. herzustellen (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO) und ggf. i. S. v. § 1 Abs. 1, 2 StVO vorsichtig abzuwarten, wie sich das weitere Fahrverhalten des PKW darstellen würde. Mit weiteren Fehlleistungen der Beklagten zu 1) war zu rechnen, auch mit einer etwaigen Schreckreaktion bei überraschender Wahrnehmung des nunmehr unmittelbar hinter ihr befindlichen RTW. Hinzu kommt Folgendes: Der Zeuge M hätte nach eigenen Angaben mit dem RTW den PKW im Bereich auf und unmittelbar hinter der Kreuzung gar nicht überholen können, sondern hätte ohnehin abwarten müssen, bis der PKW an geeigneter Stelle Platz machen oder anhalten würde. Auch deshalb war er gehalten, einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden PKW einzuhalten.

d) Mit ihrem plötzlichen und abrupten Abbremsen nach Abschluss des Abbiegemanövers verstieß die Beklagte zu 1) gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, wonach ein Vorausfahrender nicht ohne zwingenden Grund stark abbremsen darf. Ein zwingender Grund bestand nicht, insbesondere nicht in der Befolgung der Anordnung des § 38 Abs. 1 S. 2 StVO. Denn „sofort freie Bahn“ zu schaffen ist nicht gleichzusetzen mit dem sofortigen Stehenbleiben. Es kommt vielmehr auf die Umstände des konkreten Einzelfalles an. Vorliegend wäre es geboten gewesen, bis zu einer geeigneten Stelle zum (geordneten) Stehenbleiben weiter zu fahren und den RTW sodann passieren zu lassen. Jedenfalls verbot sich ein unvermitteltes plötzliches Stehenbleiben noch im Kreuzungsbereich bei ohnehin (zu) geringem Abstand.

e) In der Abwägung ist der (erste) Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO nur in dem Sinne zu berücksichtigen, dass er die Gefahr für das nachfolgende Unfallgeschehen erhöht hat. Das Einfahren in die Kreuzung, die Verzögerung auf der Kreuzung und das Weiterfahren und Abbiegen haben jedoch nicht unmittelbar zu der Kollision geführt, so dass es in dieser Situation auch nicht auf die Geschwindigkeit des RTW ankommt. Für die Bewertung dieser Situation macht es keinen Unterschied, ob die Beklagte zu 1) nur leicht verzögert oder auch angehalten hat.

Die wesentliche Unfallursache war sodann vielmehr das grundlose, plötzliche und abrupte Abbremsen des PKW bis zum Stillstand durch die Beklagte zu 1), auf das der Zeuge M im RTW aufgrund des zu geringen Abstandes nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Die Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge führt auch unter Berücksichtigung der aufgrund der Einsatzfahrt (u.a. mit Rotlicht-„Verstoß“) erhöhten Betriebsgefahr des RTW zu einer überwiegenden Haftung der Beklagten, wobei jedoch eine gewisse Mithaftung der Klägerin im Umfang von (zumindest) 30 % verbleibt.

f) Ob der Haftungsanteil der Klägerin ggf. noch höher als 30 % anzusetzen wäre, ist Gegenstand der Anschlussberufung. Dieser Frage bedarf zum gegenwärtigen Zeitpunkt keiner weiteren Vertiefung, weil die Anschlussberufung im Falle der beabsichtigten Zurückweisung der klägerischen Berufung durch Beschluss ihre Wirkung verlieren würde (§ 524 Abs. 4 ZPO).“